Am 23. August 2016 fand der zweite Salon Shabka in Wien statt. Diesmal befassten wir uns mit der mythologischen Figur der Kassandra und ihrem Dilemma.
Jürgen Neuhuber und Lukas Wank wählten auch diesmal Literatur als “neutralen Boden” einer tiefer gehenden Diskussion. Auf Basis von Christa Wolfs Verarbeitung der Kassandra in Romanform wurde gemeinsam über die gegenwärtige politische Polarisierung und Dynamisierung, die vielfachen Konflikte und Krisen und das sich dadurch gewissermaßen durch die Gesellschaft ziehende Gefühl eines Umbruchs diskutiert. Kassandra stand in der Diskussion aber nicht als Symbol für pessimistische Vorhersagen, sondern eher als Fackelträgerin eines friedenspolitischen Zugangs zu den „Umbruchsgefühlen“.
Die Romanfigur bei Christa Wolf spricht konkret von einem „Vorkrieg“ den es zu erkennen gilt und dessen „Regeln“ man herausarbeiten und sichtbar machen sollte.
Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da regeln gäbe, müßte man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter anderen Sätzen: Laßt euch nicht von den eigenen täuschen.
Im Gespräch haben wir diesen Zugang gemeinsam reflektiert und mit Bezug auf das mächtige Vermächtnis der Kassandra versucht, verschiedene Muster aus der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation herauszuarbeiten.
Der Denkanstoß
Christa Wolf: Kassandra
Suhrkamp, Frankfurt, 2016, 179 Seiten, 7,50 €
Die Schlacht von Troia ist geschlagen. Das Kriegsheul und der Jubel der Massen beim Auszug der troianischen Krieger längst über den Gräbern verhallt. Kassandra wird als Sklavin Agamemnons zur Kriegsbeute und nach Mykene verbracht. In einem bannenden inneren Monolog lässt Christa Wolf ihre Kassandra darüber nachdenken, wie es denn dazu gekommen ist. Wie das alles begann, wo das eigene Wirken, das eigene Vermächtnis, das eigene Unvermögen lag.
Die Phase des Umbruchs, sowohl des äußeren, als auch die innere Zerrissenheit ob des Wissens der Veränderung, lässt Christa Wolf die Kassandra ergründen.
Die Diskussion
In Zeiten des Umbruchs (welcher permanent stattfindet) sind Gedanken an den Niedergang des Bestehenden und des Verlusts der Bedeutung des Gegenwärtigen präsent. Dies geht einher mit der Vorstellung einer historischen Bestimmtheit des Laufs der Dinge, der – quasi ohne eigenes, individuelles Zutun – seinen Weg geht und in den Abgrund führt. Hier treffen sich nur allzu oft linke, marxistische Vorstellungen mit rechten, konservativen Strömungen, in denen sich deren jeweiligen “ExpertInnen” oft selbst verwirklichen und sich als Kassandra inszenieren. Die Tiefe der politischen Krise in Europa bietet für sie dazu viele Ansatzmöglichkeiten.
Zumindest oberflächlich betrachtet scheint diese Sichtweise zu halten. Im Zuge der Diskussion wurde aber mehrmals klar, dass die Figur der Kassandra nur bedingt als Beispiel für pessimistische Vorhersagen, die sich stets verwirklichen, stehen kann. Ein Teilnehmer merkte an, dass die Tragik der Kassandra im Wiederkehren des Scheiterns zu liegen scheint. Sobald ihre Rufe demnach erhört würden, ja sogar zu Änderungen in den Macht- und Herrschaftsverhältnissen führten, würde die Mahnerin selbst zum Teil des Establishments werden. Damit steigt die Gefahr von der Macht und von den herrschenden Verhältnissen korrumpiert zu werden. Würde Kassandra so nicht sich selbst, ihre Existenz, ihren Seinszweck abschaffen? Ein interessanter Punkt.
Vor diesem Hintergrund stellte sich weiters auch die Frage: Wäre unter solchen Bedingungen Kassandra weiterhin der kritische Geist und könnte sie sich als Intellektuelle solcher Art ihre Kritik-, Reflexions- und Diskursfähigkeit bewahren? Ein anderer Teilnehmer sah darin den größten Widerspruch in der Figur der Kassandra. Sie schafft sich ihre eigene Existenz über die Erkenntnis, nichts ändern zu können und dennoch “Wahrheit” zu besitzen. So gesehen ist sie in gewisser Hinsicht vielleicht die Umkehrung des organischen Intellektuellen. Sie scheint als eine Intellektuelle, die sich ihrer Ohnmacht Gewahr ist, eine manisch-depressiv selbstbestätigende Nischenexistenz führt, deren Rufe aber im herrschaftlichen Äther verhallen. In dieser Hinsicht drängt sich die Frage auf, ob – ja wem – es letztlich nützt, dass ihre Rufe nicht gehört werden?
Auch auf diese Frage bot der Meinungsaustausch im Salon eine interessante Antwort. Von einem Teilnehmer wurde dahingehend nämlich bemerkt, dass die verhallenden Rufe der Kassandra sehr zum Wohlwollen der Herrschenden gesehen werden können: Es gibt diese Stimme aus dem (bedeutungslosen) Off zwar, sie verkommt – ob ihrer Bedeutungslosigkeit – letztlich jedoch zum Rauschen, dass indes aber die Unterdrückten ebenso hören können. So werden die Rufe jedoch nicht zum progressiven Vehikel, im Gegenteil. Dass es jemand gibt, der die Ungerechtigkeit, das Falsche, anprangert, wähnt jene im Glauben, es würde ein “Diskurs” geführt. So erscheint Kassandra nach unten wissend und mächtig, nach oben zahnlos und zahm. Quasi “stuck in the middle” – ein irrsinnig spannender Gedanke eines Diskutanten im Salon.
Wenn man nun annähme, dass das Scheitern, das „Nicht-gehört- werden“, vorprogrammiert sei, dann stellt sich auch die Frage, welche Rolle heutige Intellektuelle (von der Friedensforschung bis zur Ökonomie) spielen. Dazu wurde angemerkt, dass für einen Intellektuellen, die Gefahr immer präsent sei, dass der kritische Geist zum sogenannten Experten, also zum Ideologen, wird und damit zum Teil der Rechtfertigungsmaschinerie der vorherrschenden Verhältnisse. Einen Ausweg aus diesem “kassandrischen Dilemma” bot ein Diskutant jedoch gleich selbst an:
Das soll nicht heißen, dass sich die kritische Sozial- und Geisteswissenschaft mit dieser unbefriedigenden und mühsamen Rolle abfinden muss. Sie sollte sich aber der Tragik, der Widersprüche und der engen Grenzen ihrer Funktion bewusst sein.
Eine Äußerung eines anderen Teilnehmers argumentierte hier in dieselbe Richtung:
Letztlich spiegelt die Rolle Kassandras auch meine eigene rolle wider. Sie lässt mich die Frage stellen: Was mache ich in dieser Gesellschaft? Ich kann viele Parallelen zu meiner eigenen Verortung erkennen, sowie zur Diskussion der Rolle der Intelligenzija in einer Gesellschaft. In Kassandras Worten: Gramsci ist tot, solange die Intelligenzija zwischen “oben” und “unten” fest steckt. Gramsci ist tot, solange sich die Denkenden den Herrschenden zu beugen haben. Und hier sehe ich eine starke Tendenz in eben diese Richtung: beuget die Knie und Duldung.
Wenn man also mit Kassandra argumentiert, wenn man bei ihr tiefer geht und über saloppe Kassandravergleiche hinausgeht, wird “Wahrheitsverkündung” fast zu einer Anmaßung. Dies gilt für Forschung und Wissenschaft gleichermaßen. Kassandra ist vielmehr eine, die zwischen den Welten wandert und vermitteln kann. So gesehen passt zu ihr eher das Bild der gescheiterten Mediatorin: sie hat das Gehör bei den Eliten, kann aber auch zum Volk sprechen, sie ist eine kritische Intellektuelle, die Einfluss nehmen kann, am Ende aber nur geduldet wird, weil ihre Kritik “systemstabilisierend” wirkt. Das macht sie zu einer faszinierenden, aber auch ambivalente Person deren Zerrissenheit durch Christa Wolfs inneren Monolog verdeutlicht wird.
Um die gegenwärtigen Verhältnisse mit Kassandra zu beschreiben, könnte man viele Analogien ziehen, das hat die angeregte Diskussion im Salon eindeutig gezeigt. Die wesentliche Frage, die am Ende aber bleibt, ist, unter welchen Bedingungen denn kritische Forschung möglich sein kann?
Das die Grenzen von Kritik oft ökonomische Sachzwänge sind, hindert nicht daran – so die einhellige Meinung -, dass dennoch Gewalt sichtbar gemacht, herrschende Strukturen identifiziert und die Verbindungen dazwischen demaskiert werden können. Mit Kassandras Worten könnte mensch fast sagen, dass, wenn die drohende Katastrophe schon nicht abwendet werden kann, Menschen zumindest dazu befähigt werden sollen, die richtigen Fragen zu stellen. Dazu bietet Kassandra eine kritisch-reflektierte Werthaltung an, die es zumindest ermöglichen soll, ein kleines Rinnsal des Wissens durch das “Heldengebirge” fließen zu lassen. Bildungsprojekte der Friedensforschung oder zivilgesellschaftliches Engagement wurden als schöne Beispiele dafür genannt.
Der Intellektuelle ist ja schließlich nicht zum Selbstzweck da, so der kollektive Befund dieses Salons.
Stoff zum Weiterdenken
Die mythologischen Figur der Kassandra
Kassandra ist die Tochter des trojanischen Königs Priamos und der Hekabe. Gott Apollon beschenkte sie ob ihrer Schönheit mit der Gabe der Weissagung. Da sie sich den Werbungsversuchen Apollons verwehrte, verfluchte dieser sie, so dass von nun an niemand ihren Weissagungen Glauben schenken solle. Nach der Eroberung Trojas raubte sie Agamemnon und brachte sie nach Mykene, wo sie schlussendlich von Agamemnos Frau Klytaimnestra erdolcht wurde.
Claudia Brunner, 2016
Kassandras Dilemma – Oder: Was kann Friedens– und Konfliktforschung?
Claudia Brunner diskutiert in dem Text Kassandras Dilemma als Sinnbild für die Friedensforschung. Der Text war ursprüngliche die Festrede der Autorin zur Eröffnung des friedenswissenschaftlichen Studiengangs Augsburg 2014.
Bazon Brock & Paul Liessmann – Ein optimistischer Blick auf den Pessimismus
Eine Abhandlung über den “optimistischen Blick auf den Pessimismus” (Liessmann) und “apokalyptisches Denken” (Brock).
Edward Said – Representations of the Intellectual
Said befasst sich mit den Möglichkeiten, in denen der/die Intellektuelle der Gesellschaft am besten dienen kann.
Einstürzende Neubauten, Album Lament, 2014
Song Kriegsmaschinerie, Album Lament
“War does not break out, and it never ist caught or chained. It moves, if something in its environment changes, only a little at first, waltzing back and forth, on the ground it tramples, then it turns its head, letting its iron cervical column crack, building itself up slowly, in movements believed forgotten, straigthening up gradually, groaning, …”
Stefan Aust, 29. November 2015
Stecken wir in einer Vorkriegszeit?
Aust spannt hier den Bogen von der Flüchtlingskrise, der sich verschlechternden Beziehungen zwischen dem Westen und Russland bis hin zum Abgas-Manipulationsskandal von VW als Indikatoren für eine sich möglicherweise anbahnende große Konfrontation.
Joseph Vogl 28. Feber 2015
Wir sind in einer Vorkriegszeit
Mit Bezug auf Thomas Piketty und ökonomischen Analysen sprach der deutsche Kulturwissenschafter Joseph Vogl in einem Spiegel-Interview von einer Vorkriegszeit, in der wir uns befinden. Die Verteilung der Vermögen und Einkommen nehme demnach ähnlich ungerechte Ausmaße an wie ökonomische Entwicklungen vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg und es sei an der Zeit, Lösungen zu finden, die uns vor der nächsten Großkatastrophe bewahren.
Michel Houellebecq – Unterwerfung
An einer Stelle im Roman verspottet der Erzähler die Experten, die jeden, der die Tiefe der politischen Krise Europas, mit Kassandra vergleicht. Mit Unterwerfung gibt sich Houellebecq aber selbst als eine nicht sehr unterschwellige Kassandra.
Martin Schenk, 04. September 2015
Aber wann beginnt der Vorkrieg?
Über die Falle des „pluralen Monokulturalismus“ mit dem Verweis auf Sama Maanis Respektverweigerung und Isolde Charims Begriff der vollen Identität.
Egon Bahr, 2013
“Es kann Krieg geben”
Egon Bahr, SPD-Urgestein, ließ mit dem warnenden Satz aufhorchen: „Ich, ein alter Mann, sage euch, dass wir in einer Vorkriegszeit leben.“ Dieser gewaltige Satz wurde vielfach zitiert und gerne vor allem in kritischen Medien verwendet. Bahr meinte damit, dass sich ein neuer Weltkrieg zwischen den Vereinigten Staaten und Russland im Internet anbahnt – ein sogenannter Cyber Krieg.
Salon Shabka
Der Salon will Raum für politische und gesellschaftliche Diskussionen schaffen. Alle paar Wochen wollen wir zusammen kommen, um uns abseits des sehr hektischen, raschen öffentlichen Diskurses, in dem oft simplifiziert wird, Argumente nicht gehört werden und sich meist der/die Stärkere durchsetzt, auszutauschen.
In diesem Rahmen soll intensiv und kontrovers, differenziert und abwägend, detailliert und kontextualisiert diskutiert werden. Gleichzeitig wollen wir auch der Atmosphäre akademischer Gesprächszirkel entgegenwirken, in der ein offenes Gesprächsklima meist auch nur Phantasie ist. Deshalb sind Kommentare und kritische Anmerkungen im Salon sehr willkommen.
Salons bisher:
#1 im Juni 2016 zu Identität, Migration und Literatur
Nächster Salon
Den geschaffenen Raum wollen wir weiterhin gerne beibehalten wobei der nächste Salon Anfang Oktober stattfinden wird. Unter dem vorläufigen Arbeitstitel “Fundamentalismus und (Vor-)Moderne” wollen Paul Winter und Constantin Lager ein recht breites Feld unter dem Titel “Moderne Parallelwelten” aufspannen.
Näheres dazu senden wir euch gerne per Mail zu. Wenn ihr Interesse habt, dann meldet euch einfach unter luwa@shabka.org oder june@shabka.org.