Das vorliegende Arbeitspapier bietet einen Einblick in die Gründungsgeschichte Hay’at Tahrir al-Shams (HTS), eine der führenden salafi-dschihadistischen Gruppierungen in Idlib, und beleuchtet ihre Beziehungen zu einem der wichtigsten Regionalakteure im Syrienkonflikt, der Türkei.
Der Werdegang von Hay’at Tahrir al-Sham ist von mehreren Rebranding-Versuchen und internen wie externen Verwerfungen geprägt. Hay’at Tahrir al-Sham und seine Vorläuferorganisationen verfolgten seit der Gründung 2012 das Ziel, sich zumindest in ihrer Außenwahrnehmung vom globalen Al-Qaida Netzwerk abzugrenzen, um sich als Schirmherr der syrischen Opposition positionieren zu können. Letzteres versuchte HTS durch strategische Zusammenschlüsse, aber auch durch das militärische Vorgehen gegen andere Oppositionsgruppen.
Die Autoren argumentieren, dass die Türkei bereits vor 2016 den Versuch unternahm, HTS als Teil des von der Türkei unterstützten Oppositionsnetzwerkes zu positionieren. Heute deutet vieles darauf hin, dass sich innerhalb HTS “moderatere” Strömungen durchgesetzt haben dürften, wie etwa der Abgang prominenter Hardliner in den letzten Monaten verdeutlichte. HTS ist jedoch kein Befehlsempfänger der Türkei und so bleibt der Waffenstillstand vom März 2020 ein brüchiger.
Kurz- und mittelfristig könnte Idlib von der HTS und anderen Oppositionsgruppierungen weiter regiert werden, da Moskau sein Ziel, die Fernstraßen M4 und M5 zu öffnen, einlösen konnte und das restliche Idlib von untergeordnetem Interesse ist. Dies würde Erdogan jedoch vor die Herausforderung stellen, schwer kontrollierbare Oppositionsgruppierungen in Idlib managen zu müssen. Langfristig ist es jedoch kaum vorstellbar, dass sich das syrische Regime mit dem Abtreten der Region Idlib zufrieden gibt. Eine neuerliche Eskalation ist somit zu erwarten. Letztendlich sind es aber Moskau und Ankara, die maßgeblich über die Zukunft Idlibs entscheiden werden.