Zehn Lektionen aus der Coronakrise

Zeiten der Krise sind Momente des Lernens. Damit sind sie zugleich Zeiten der politischen Auseinandersetzung: Welche Bedeutung haben die Ereignisse? Welche Maßnahmen haben sich bewährt? Wie soll es nach der Krise weitergehen? Welches Verhalten müssen wir ändern?

Der folgende Text diskutiert diese Fragen aus der Perspektive eines europäischen Friedenspädagogen. Manches wird sich in anderen Weltgegenden und aus einem anderen Blickwinkel anders stellen. Reden wir darüber!

1: Lernen, aus Krisen zu lernen

Corona lehrt uns nichts. Eine Krise ist keine Lehrmeisterin. Es gibt keinen Automatismus, durch den uns die Pandemie zu neuen Einsichten zwingt. Aber wir können, durch eigene Anstrengung, Lehren aus der Krise ziehen. Allerdings: Sind wir überhaupt lernfähig? „Als der Mensch unter den Trümmern seines bombardierten Hauses hervorgezogen wurde, schüttelte er sich und sagte: Nie wieder. Jedenfalls nicht gleich.“ So skeptisch beurteilte der Dichter Günther Kunert nach dem Zweiten Weltkrieg unsere Veränderungsbereitschaft. Und auch heute besteht, trotz aller Beteuerungen, die Gefahr, dass bis auf ein paar halbherzige Ansätze wieder alles beim Alten bleibt. Doch Krise bedeutet sinngemäß „Wendepunkt“: Corona hat einige falsche Wahrheiten erschüttert und erleichtert zumindest einen Augenblick lang ein grundsätzliches Nachdenken. Diese Chance gilt es zu nutzen.
Die Lehren, die zu ziehen sind, sind meines Erachtens zumeist nicht einmal neue Einsichten, wir hätten dazu Corona wahrlich nicht gebraucht, aber wir haben bislang die „Schrift an der Wand“ nicht sehen wollen. Wie lange glauben wir eigentlich, dass wir es uns noch leisten können, aus Krisen nichts zu lernen?

2: Unsere eigene Wahrnehmung und unsere Verhaltensweisen reflektieren

Während wir in medizinischer Hinsicht das Virus erforschen, müssen wir in gesellschaftspolitischer Hinsicht zunächst unsere Wahrnehmung und unser Verhalten in der Krise studieren. Das Virus zeigt uns, was wir wegen unserer spezialisierten und isolierten Denkweise nicht gesehen haben: die Komplexität unserer Welt, unsere gegenseitige Abhängigkeit und die unzähligen Interaktionen aller Bereiche – im Moment etwa zwischen Pandemie und Ökonomie. Wie mit der Wahrnehmung ist es auch mit dem Verhalten: Soziologen und Psychologen haben an unserem Umgang mit Katastrophen eine Reihe von unproduktiven Verhaltensmustern identifiziert: zuerst Leugnen, dann Angst, dann Moralisieren und Sündenböcke suchen, schließlich Aktion um jeden Preis. Welche dieser Strategien beobachten wir heute? Wie können wir sie durch sinnvollere Verhaltensweisen ersetzen?

3: Die Globalisierung der Solidarität erlernen

Corona führt uns den Zustand der Welt vor Augen: Wir haben globale Probleme erzeugt, aber keine globale Solidarität zustande gebracht. Unser Bewusstsein und unsere politischen Strukturen sind rein national. In der Krise bekommen wir nun all die Nachteile einer Welt, in der das Recht des Stärkeren herrscht, zu spüren. Wir sind alle verwundbar, wir sind alle auf einander angewiesen, und nur unsere gegenseitige Solidarität kann uns retten. Wir bilden objektiv eine irdische Schicksalsgemeinschaft. Doch alle Krisenmaßnahmen wurden auf nationaler Ebene und im Geist des nationalen Egoismus getroffen. Inzwischen geistern Phantasien von künftiger Autarkie umher. Die wenigen globalen Mechanismen – wie UNO Sicherheitsrat – wurden nicht genutzt. Die WHO ist viel zu schwach, und statt sie jetzt zu stärken, stellen die USA sogar ihre Zahlungen ein. Die Pandemie trifft zwar alle, aber längst nicht alle gleich. In den USA zum Beispiel ist die ärmere schwarze Bevölkerung ü̈berproportional an Corona erkrankt. Und auch die Wirtschaftskrise, die nun dem Lockdown folgt, trifft die Staaten des Südens viel härter als das reiche Europa. Solange aber die Hoffnung vorherrscht, besser als die anderen wegzukommen, wird es keine Solidarität geben. Was wiederum dazu führen wird, dass auch der gemeinsame Kampf gegen den Klimawandel scheitern muss.

4: Europäer*Innen werden – aus nationalem Interesse

Für die Europäische Union ist Corona eine riesige Bewährungsprobe, aus der sie gestärkt hervorgehen könnte. Bislang hat die Union diese Probe nicht bestanden. Die europäischen Staaten haben – meist zum eigenen Schaden – auf die Krise mit nationaler Abschottung und einer „Rette sich, wer kann“ Mentalität reagiert: zuerst sichtbar bei der fehlenden gegenseitigen Unterstützung beim Kampf gegen das Virus, nun erst recht bei der fehlenden Solidarität zur Abfederung der ökonomischen Folgen der Krise. Wenn das so weiter geht, kommt das einem „Euxit“ gleich, einem de facto Rückzug aller Mitgliedsländer aus der Union. Dabei ist es eine Binsenweisheit, die ohnehin alle Expert*Innen verkünden: Den derzeit besser gestellten Ländern wie Österreich oder Deutschland kann es auf Dauer nur gut gehen, wenn es auch Italien, Frankreich und anderen extrem betroffenen Ländern gut geht. Gegenseitige Hilfe innerhalb der EU ist im Interesse aller!

4: Unsere „imperiale Lebensweise“ überwinden wollen

Nicht nur Corona stellt unsere westliche „imperiale Lebensweise“ (Ulrich Brand) infrage. Die Krise legt eine Wahrheit offen, die wir nicht wissen wollen, nämlich dass wir auf Kosten der Menschen in anderen Weltregionen und auf Kosten der künftigen Generationen, auch der eigenen, leben. Das muss zwangsläufig einmal schiefgehen, und das geht auch schief. Nachhaltigkeit – das ist mehr als Elektroautos und Energie sparen. Es bedeutet auch einen schmerzhaften Verzicht auf viele unserer Privilegien. Das müssen wir erst einmal wollen.

5: Von einer Kriegskultur zu einer Kultur des Friedens

Unsere Lebensweise der Gier auf Kosten des „Rests der Welt“ erfordert einen permanenten Zugriff auf Ressourcen des gesamten Globus. Dieser Zugriff wird militärisch geschützt – vor denen, deren Ressourcen wir nutzen, wie auch vor potentiellen Rivalen. Wirtschaftliche Globalisierung und militärische Expansion bedingen einander, aber die militärische Logik hat sich längst verselbständigt. Die Überrüstung, vor allem die Massenvernichtungs- und Atomwaffen, entziehen der Menschheit wesentliche Mittel für einen gerechten Wohlstand für alle, sie schaffen auch Unsicherheit und sind einer der Hauptverursacher der Klimakrise. Gerade heute können wir uns diese Vergeudung nicht mehr leisten. Um das wirklich einzusehen, braucht es eine Kultur des Friedens. Die UNO hat diesem Anliegen das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts gewidmet. Nutzen wir doch die Erkenntnisse aus dieser Kampagne!

6: Politik kann ohne demagogischen Populismus funktionieren

In der Corona Krise ist die Bevölkerung bereit, Politikern zu vertrauen, die ihnen unbequeme Einsichten mitteilen und unangenehme Maßnahmen verkünden, solange diese gut begründet erscheinen. Jetzt wagt man Schritte, die man zur Eindämmung des Klimawandels nie gewagt hätte. Der demagogische Populismus hat zunächst einmal Pause. Das funktioniert aber nur, weil wir uns nun mehr für Fakten interessieren und sie strenger von Fake News unterscheiden wollen, weil wir mit kritischen Augen alle Restriktionen auf ihre Sinnhaftigkeit prüfen. Dieses wache politische Bewusstsein wird über die Krise hinaus unbedingt nötig sein, um die totalitäre Versuchung, vor der Politiker auch in Demokratien nicht gefeit sind, zurückzuweisen.

7: Der Sozialstaat bedeutet menschliche Sicherheit

Die neoliberale Ideologie hat jahrzehntelang den Sozialstaat verteufelt, angegriffen und ausgehöhlt. Noch im Vorjahr hat die EU-Kommission die „ineffiziente Ressourcennutzung“ unseres Gesundheitssystems gerügt, da trotz Abbau an Krankenbetten Österreich immer noch 40% über dem EU-Durchschnitt liege! Heute sieht alles ganz anders aus. Die Länder, die ihr Gesundheitssystem am meisten heruntergefahren oder am wenigsten ausgebaut haben, leiden am meisten unter der Pandemie. Ohne ein entschlossenes Eingreifen des Staates können weder die gesundheitlichen noch die sozialen Folgen der sich anschließenden Wirtschaftskrise abgefangen werden. Im Moment der Not leuchtet das jedem ein. Es gilt diese Erfahrung, dass es eine politisch durchsetzbare Logik des menschlichen Wohlergehens gibt, in die Zeit danach hinüberzuretten.

9: Den nationalen Reflex durch transnationale Strukturen überwinden

Solange die EU keine vergemeinschaftete Gesundheitspolitik hat, solange UNO-Institutionen wie die WHO so schwach sind wie heute, kurz – solange es für keine transnationalen Mechanismen und Strukturen gibt, wird der nationale Reflex, der „Krisennationalismus“, unvermeidlich sein. Hier tut sich ein weites Feld auf – bis hin. Es braucht also mehr EU, es braucht eine Reform und Demokratisierung des UN-Systems. Die Voraussetzung dafür ist aber eine gelebte kosmopolitische Kultur. Das wiederum erfordert eine grundlegende Reform der Bildung, die bislang stets den Nationalismus reproduziert. Daher muss statt Nationalbildung planetarische Bildung, global citizenship, die Leitlinie werden.

10: Die „irdische Endlichkeit“ (Edgar Morin) wieder erlernen

Das COVID-19 Virus ist gekommen, um zu bleiben. Wir müssen lernen, mit ihm zu leben. Das heißt auch, unsere Lebensgewohnheiten so zu ändern, dass wir mit ihm leben können. Dazu müssen wir unsere Grundannahmen über unser Menschsein in der Natur überdenken. Viel zu lange haben wir uns als „Herren der Schöpfung“ empfunden, die sich ungestraft „die Erde untertan“ machen können. Damit haben wir viele natürliche „Lebensgenossen“ verdrängt oder sogar vernichtet – doch unser Verhalten fällt nun auf uns zurück. Beim Klimawandel ist das inzwischen evident, aber auch die Pandemien werden durch den Verlust von Biodiversität und die Einschränkung des Lebensraums von Wildtieren begünstigt. Wir müssen erkennen, dass wir nur Mitbewohner der Erde sind. Sie steht nicht zu unserer rücksichtslosen Ausbeutung zur Verfügung. Das ist wohl der tiefstgreifende Wandel, der uns bevorsteht.

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