Welches politische Moment bietet die COVID-19 Krise für Frozen Conflicts?

Die COVID-19 Krise als Pandemie ist weit mehr als nur ein gesundheitliches Problem. Sie wird viele Menschen, Staaten und Gruppierungen vor gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Herausforderungen stellen – dies gilt auch für so manchen lange festgefahrenen Konflikt. Diese Kommentarreihe geht der Frage nach wie sich die COVID-19 Krise auf Frozen Conflicts auswirkt. Vier AutorInnen haben zu drei Konfliktlagen in der Westsahara, im Libanon und in Bosnien-Herzegowina Beiträge dazu verfasst.

Welches politische Moment bietet die COVID-19 Krise für Frozen Conflicts? 1
Lukas Wank | Shabka

*| Former political adviser EUSR Sarajevo

Fight or flight reflexes triggered by the COVID 19 crisis have invoked primary political instincts rousing deep-seeded agendas that have for years muddied the waters with distracting discourse and insincere commitments.

Let’s examine the most obvious ones first. The crisis forced ethno-politics to turn into ethno-governance.  No doubt that the most intricate frozen conflict of the Balkans remains Bosnia and Herzegovina. Its constitution, part of a peace treaty, continues to fulfill its original purpose to maintain a fragile peace but it cannot offer a platform for meaningful governance. Republika Srpska fought the crisis following Belgrade’s lead, while the rest of the country passed on the executive role to the international community.  The Serb-majority Northern part of Kosovo was extended the same level of care as offered by Belgrade. Ethno-politics runs through bloodlines, not state institutions.

The crisis revealed the source of the deep change and brought to light the true scope of China’s influence. It showed that China’s presence in the region goes way beyond turning into political vassals the illiberal political gamblers of the region addicted to for years to “game of loans” played at China’s table. If one is to listen to Belgrade’s public messaging, the fight against the virus was by Chinese experts, backed by first-hand knowledge and equipment who guided the structural make-over of the public healthcare system and contributed decisively to making it self-sufficient. The Serbian public is told that their true friend is China, the only one that truly cares for “little Serbia”. The Sino-Serbian friendship of iron has become the trademark of the ruling party as it prepares for a fresh round of elections that it is poised to win. Belgrade is preparing to successfully sell “the Chinese dream”. We are talking of a new set of values, a one-of-a-kind rule of law or, more precisely, rule-of-party-law, a civilizational model which only a year ago was defined by the European Union as a “systemic competitor”.

The crisis is urging us to adjust the lenses; we can’t look at the Balkans any longer as easy pray for a predatory China and consequently work to build resilience. That battle, if it was ever fought, is already over. The region is an amplifier of a set of values that goes against the very foundations of the EU as a multilateral organization based on rule-of-law. With this new level of awareness, the way to go about managing the region’s frozen conflicts will have to be thoroughly adjusted.

*We agreed on keeping this person’s name anonymous.

Thomas Widrich | Politischer Berater im Büro des EU Sondergesandten und für Operation EUFOR Althea in Bosnien und Herzegowina

Mit 2157 bestätigten Fällen und nur 117 Toten hat Bosnien und Herzegowina (BuH) die Covid-19 Krise relativ gut überstanden. Das liegt auch daran, dass die lokalen Behörden aller Ethnien und Landesteile zumindest zu Beginn der Krise gut zusammengearbeitet haben.

Dennoch wurde bald klar, dass der Schulterschluss über die politischen und ethnischen Grenzen hinweg nur ein Strohfeuer war. Man konnte sich letztlich doch nicht zu landesweiten Regelungen durchringen. Die beiden „Entitäten“ Föderation und Republika Srpska verfügten Notfallmaßnahmen, die sich voneinander unterschieden und zur allgemeinen Verwirrung
beitrugen.

Auch die lokalen Politiker fanden rasch wieder in den normalen Modus ihrer „Spaltpilz“ Rhetorik und Blockadepolitik zurück. Sechs Wochen lang konnte sich der Ministerrat von BuH nicht auf einen Mechanismus für die Verteilung von angeblich dringendst benötigten
Geldmitteln des International Währungsfonds zur Milderung der Krise einigen.
In der serbisch dominierten Gemeinde Ost-Sarajevo wurden Ende März anti-NATO Plakate affichiert. Jetzt zeigen dort Plakate ein russisches  Militärflugzeug mit russischen Militärmedizinern bei der Desinfektion  einer Gesundheitseinrichtung im serbischen Landesteil; dazu noch eine  russische Flagge mit einem Herzen und der Aufschrift  “Danke, russische Brüder!“

Ein Skandal rund um die Beschaffung von Beatmungsgeräten, bei der es  berechtigte Zweifel bezüglich Geldwäsche und Amtsmissbrauch gibt, rundet das gewohnte Bild ab.

Abschließend könnte man dazu sagen, dass die Covid-19 Krise für den  „Frozen Conflict“ in BuH zum einen die Fähigkeit der lokalen Akteure zur Zusammenarbeit im Rahmen des Krisenmanagements demonstriert hat. „Leider wurde auch wieder deutlich, dass zu viele Entscheidungsträger vom Status Quo profitieren und dass der Wille zur Zusammenarbeit selbst durch eine derart einschneidende Erfahrung wahrscheinlich nicht dauerhaft gestärkt werden kann.

Gerald Hainzl | Afrikaexperte am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement der Landesverteidigungsakademie

Der wohl bekannteste eingefrorene Konflikt in Afrika ist die Auseinandersetzung um die so genannte Westsahara zwischen Marokko und der Frente POLISARIO. Nach der Dekolonisierung von Spanien annektierte Marokko in den Jahren 1976 und 1979 das Gebiet. 1991 wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Seit damals überwacht die UN Mission MINURSO (Mision de las Naciones Unidas para el Referendum en el Sahara Occidental) den Waffenstillstand zwischen den beiden Konfliktparteien. Wie schon im Missionsnamen angedeutet, sollte die Mission eigentlich ein Referendum über
den Status des Gebietes überwachen. Mehrere Versuche, das Ziel einer Abstimmung auch umzusetzen, sind bisher gescheitert. Ein gültiges Referendum, das den endgültigen Status der Westsahara festlegen sollte, hat bis dato nicht stattgefunden. Besonders die Frage, wer dazu berechtigt sein soll, an der Abstimmung teilzunehmen, ist umstritten. Marokko ist stark von der COVID-19 Krise betroffen, wobei keine gesonderten Zahlen für das Gebiet der Westsahara gibt. In den Lagern in Tindouf in Algerien sollen laut einem Bericht einer Abgeordneten des EU-Parlaments unter den Saharawis viele Fälle von COVID-19 aufgetreten sein. Falls in die Verhandlungen zwischen Marokko auf der einen Seite und der Frente POLISARIO und Algerien auf der anderen Bewegung kommen sollte, ist es nicht der COVID-19 Krise geschuldet. Vielmehr hat laut Medienberichten der neue algerische Präsident, Abdelmajid Tebboune, die Kontrolle über Westsahara-Dossier dem Militär entzogen und der neu gegründete Algerian Agency for International Cooperation (AACI) übertragen. Damit könnte sich eine Hoffnung erfüllen: dass nämlich im Fall politischer Veränderungen in Algerien ein politisches Zeitfenster entstehen könnte, das für eine Lösung des Westsaharakonfliktes genutzt werden kann.

Elisabeth Bauer | Studentin der Politikwissenschaft und Mitarbeiterin bei Projekten von Shabka

Der „frozen conflict“ auf den sich die Anspannungen der Covid-19 Krise im Libanon direkt auswirken kann, ist der zwischen der proiranischen schiitischen Terrormiliz Hisbollah und Israel. Zwei Argumente, die die derzeitige Situation bietet, sind einerseits in einer politischen und andererseits in einer militärischen Dimension zu verorten.

Drohender Staatsbankrott und die Schwächung der Hisbollah im Parlament

Obwohl die soziale Lage im Libanon schon lange angespannt ist, zeichnen sich gerade drastische Folgen ab: Seit Anfang Mai droht der Staatsbankrott und laut offiziellen Schätzungen leben mittlerweile 45% der Bevölkerung in Armut. Der von der Hisbollah unterstützte Gesundheitsminister Hamad Hassan muss nun versuchen, schnelle Lösungen zur Eindämmung der Pandemie zu finden. Hisbollah´s “Islamische Gesellschaft für Gesundheit”  besitzt mehrere, mittlerweile überlastete, Krankenhäuser und bemüht sich mit 25.000 gestellten Hilfskräften um Besserung – nicht ohne sich selbst in PR-Kampagnen als “Retter” darzustellen und den Gesundheitsminister als Beweis für gute politische Führungsqualitäten der Organisation im Parlament zu positionieren.
Die von der Hisbollah gestellten Ressourcen sind aber jedoch kaum ausreichend. Mittlerweile klagen auch die eigenen Kämpfer und ranghöhere Offiziere über die budgetären Kürzungen der Organisation.
Ein weiterer Punkt, der ihre politische Legitimität innerhalb des Landes schwächt und Unmut schürt, war ihr Verhalten am Beginn der Pandemie. Obwohl die Grenzen bereits geschlossen waren, kamen Kämpfer sowie Führungskräfte aus Syrien und dem Iran zurück und schleppten dabei das Virus ein.

Hinsichtlich Israel könnte das bedeuten, dass die Hisbollah vorerst nicht in Erwägung zieht, militärische Anschläge zu Provozieren und sich auf die Stärkung ihrer politischer Machtbasis und ihrer Strukturen konzentriert.

Kurzzeitiger Stop des Aufrüstens

Wegen dem oben genannten politischen Druck könnte sich Hassan Nasrallah vorerst dazu entscheiden, iranische Gelder in die Pandemiebekämpfung zu investieren anstatt in das geplante strategic missile precision Projekt. Das derzeit wichtigste Waffenprojekt des Iran zielt darauf ab, Hisbollahs multiple Raketenwerfer mit einem GPS-Sensor zu versehen und damit gezieltere Angriffe zu ermöglichen. Das Projekt gilt weiterhin als rotes Tuch für Israel. Würde eine solche Aufrüstung auf libanesischem Boden nachgewiesen werden, wäre das für Israel Grund zum Erstangriff. Sogesehen könnte hier zwangsweise ein Szenario erstellt werden, in dem gegenseitige Einschüchterungsversuche aussetzen. 

Wie stark aber die Covid-19 Krise die Hisbollah tatsächlich schwächt und ihre Ressourcen bindet wird sich erst im Nachhinein zeigen. Aber die Argumente zeigen, dass die Ausweitungen des militärischen Konflikts zumindest kurzzeitig unterbunden werden.

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