Was bedeutet europäisch Handeln in Zeiten von COVID-19?

Warum Definitionsfragen keine Erbsenklauberei sind, schon gar nicht in der Krise.

In Zeiten der Pandemie erscheinen viele, auch alte Probleme ein Novum darzustellen. “Wir müssen alles tun, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen, aber immer als Europäer handeln”, sagt Emmanuel Macron in einem Statement Ende März 2020.

In Europa zeichnet sich internationale Krisenhilfe zurzeit vor allem in Italien ab: Das Land mit den für lange Zeit weltweit meisten Toten (mittlerweile wurde es durch die USA abgelöst) erhält Unterstützung aus Frankreich und Deutschland, die medizinische Ausrüstung senden. Interessanterweise erhalten sie aber auch Unterstützung von ÄrztInnen aus Kuba, China und Russland. Die kubanischen MedizinerInnen entlasten bspw. Ärzte und Pfleger in der Lombardei und arbeiten im Auftrag ihrer Regierung in rund 60 weiteren Ländern. Sie sind die derzeit wichtigste Einnahmequelle des kubanischen Staates, bringen aber auch einen diplomatischen Mehrwert mit sich. Derartige Krisenhilfe hat Kuba bereits 2014 im Kampf gegen Ebola geleistet und dafür internationales Lob erhalten. Als die Ebola-Epidemie ausbrach und über 10.000 Menschen in mehreren Ländern Afrikas das Leben kostete, gab es auch viele Staaten und Akteure außerhalb Afrikas, die damit beschäftigt waren, ihren Teil zur Eindämmung beizutragen – allen voran die USA und China aber auch die Weltbank, die WHO, die Europäische Union, Ärzte ohne Grenzen und die Welthungerhilfe.

Eine Erkenntins von damals ist, dass mit der Verpflichtung zu helfen in der Krisenbekämpfung zunächst sehr zögerlich umgegangen wurde. Hilfe wurde zulange nicht ernst genommen oder zu Beginn oftmals als ‚Wohltäteraktion‘ dargestellt. In Zeiten von Covid-19 bleibt das Zögern zu Handeln aus – auch wenn es von unerwarteten Akteuren kommt.

In der Ebola-Krise 2014-16 war die Rolle der Europäischen Union klar definiert: Der Wertekanon findet sich in seiner letzten Fassung im Art. 2 („Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte […]“) des EUV wieder. Darauf aufbauend wird im Art. 3 das Ziel definiert, den Frieden und das Wohlergehen der Völker der Union und (weiter im Art. 6) die Grundrechte der Union zu wahren. Wenn man von der idealisierten Wertebasis der Union absieht, so lässt sich auch aus pragmatischen Gründen sehr leicht argumentieren, warum der „Kampf gegen Ebola“ einer mit einer eindeutigeren internationalen Rollenverteilung war, bei der sich Europa in Form der Union leichter zurechtfand. Die räumliche Verortung der Ebola-Epidemie fernab europäischer Grenzen machte die Krise damals wahrscheinlich überschaubarer. Damit war eine internationale Reaktion möglich, die nicht mit dem Wertekanon der Union in Konflikt geriet. Das sei gesagt, ohne das Leid, das die Epidemie mit sich brachte, zu verharmlosen.

Nothilfe bedient auch Eigeninteresse

Um nun auf Präsident Macron zurück zu kommen: Handeln kubanische, russische und chinesische Ärzte in der Lombardei nun etwa europäischer als EuropäerInnen in der Bekämpfung der COVID-19 Pandemie? Dass sie das tun, würde sich wohl nur schwer argumentieren lassen, zumal die in der Not erbrachte Hilfe eben auch Eigeninteressen bedient – sie ist zwar alles andere als umsonst aber auch nicht gratis. Von dem Profit, den der kubanische Staat dadurch erwirtschaftet, sehen die einzelnen MedizinerInnen selbst wenig. Vielfach wird in dieser Hinsicht von Ausbeutung gesprochen. Auch Russland und China erhoffen sich strategische Vorteile aus ihrem Engagement in Europa – wie etwa “Sanktionslockerungen“. So forderte eine Gruppe von acht Staaten, darunter auch China, Russland, Kuba und der Iran, den UN-Generalsekretär António Guterres in einem offenen Brief dazu auf, sich gegen alle derzeitigen Sanktionen auszusprechen.

Europäisch Handeln bedeutet also nicht, Rosinen zu picken. Jedoch, versteht die Union das aber auch selbst zu tun: Dass die Bereitstellung von internationaler Hilfe beliebig groß ausfällt, zeigt sich gerade am Beispiel des Irans. Das Land war nach China eines der ersten, das stark von dem Virus betroffen war. Das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Medien macht es schwieriger, es einzudämmen. Aber auch die Regierung hat die Corona-Krise als solche und danach das Ausmaß dieser lange geleugnet. Ali Chamenei bezeichnete die Pandemie als einen von außen gesteuerten „biologischen Angriff“. Aufgrund der US-Sanktionen hält sich die Hilfe der internationalen Gemeinschaft für den Iran in Grenzen. Obwohl humanitäre Produkte von diesen Sanktionen klar ausgenommen sind, scheuen viele Banken davor zurück mit dem Iran Handel zu betreiben. So beschuldigte der iranische Außenminister Javad Zarif die USA von einem „wirtschaftlichen Terrorismus“ zu einem „medizinischen Terrorismus“ gelenkt zu haben, nachdem die Sanktionen nach dem Ausbruch der Pandemie nicht aufgehoben wurden. Die USA hält dagegen, dass es sich bei den Sanktionen nicht um überlebensnotwendige Güter handelt und meint außerdem, dass der Iran amerikanische Erste-Hilfe abgelehnt hat. Wie man das Wortgefecht auch wendet, fest steht, dass der Iran dennoch stark abhängig vom Import medizinischer Güter bleibt. Mit über achtzigtausend bestätigten Fällen an Infizierten bedarf es mehr, als die derzeit größtenteils von europäischen Staaten und der WHO bereitgestellten Güter. Erstmals seit den sechziger Jahren beantragt das iranische Regime beim internationalen Währungsfonds (IWF) einen Kredit über fünf Milliarden US-Dollar. Einen Antrag, den die amerikanische Regierung ablehnt, mit der Begründung, dass das Land ja genug laufende Kredite habe. Zuletzt äußerte sich auch die UN-Kommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet und plädiert darauf, die US-Sanktionen auszusetzten, denn: „It is vital to avoid the collapse of any country’s medical system – given the explosive impact that will have on death, suffering and wider contagion.”

Wenn europäisch Handeln eine eindeutige Haltung gegen US-amerikanische Sanktionen meint, wenn es außerdem meint, humanitäre Hilfe zu leisten wie in der Ebola-Krise, wenn es Art. 2, 3 und 6 im EUV meint – dann stellt sich auch in diesem Kontext wieder die Frage: Wer handelt eigentlich per Definition nun europäisch?

Als EuropäerInnen handeln

In einem Interview am 16. April 2020 hat Macron genauer ausgeführt, was „als Europäer handeln“ für ihn bedeutet, nämlich, als EU-Staaten gemeinsam und unabhängig nach außen zu agieren. Dies gilt bei allen Widersprüchen, die innerhalb der Union kursieren vor allem in Bezug auf die Unterbindung einer populistisch rechten Parteikultur und der sich anbahnenden Wirtschaftskrise, vor der er warnt. Verständlicherweise stellt er damit die Aussicht auf eine „politischere“ Union in den Mittelpunkt seiner Argumentation – dennoch vermitteln ihr Verhalten nach innen wie nach außen zwei Seiten derselben Medaille zu sein.

Schlussendlich ist es in allen Problemlagen – sei es in zahlreichen Mitgliedsstaaten der Union, im Kontext von Ebola, dem US-amerikanische-iranische Konflikt oder der Angst vor nationalstaatlicher Abschottung der Mitgliedsstaaten – weiterhin wichtig, als EuropäerInnen zu handeln. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass das bedeutet, in jeder Situation nach einer Definition für europäisches Handeln zu suchen, denn eine solche bildet den Grundstein für alles darüber hinaus. Die von COVID-19 entstandenen Herausforderungen auf der Basis des europäischen Werte- und Rechtekanons zu bewältigen, könnte die Union zu jenem globalen Akteur machen, die sie sich zum Ziel gesetzt hat, zu sein.

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