Die Covid-19 Krise als Chance für die Europäische Union

Die EU kann die Covid-19 Krise nur als Union bewältigen; gemeinsam meistern oder getrennt scheitern.

Als die Covid-19 Pandemie Anfang des Jahres über Europa hereinbrach, waren die ersten Reaktionen der EU-Mitgliedstaaten unkoordinierte Alleingänge. Nach dem Motto “rette sich wer kann” führte jeder Mitgliedstaat Maßnahmen ein, um die weitere Verbreitung des Virus einzudämmen, ohne diese jedoch gemeinschaftlich abzustimmen oder gar seine Nachbarn zu informieren. Was Rechtspopulisten die letzten Jahrzehnte versuchten, schaffte das Virus innerhalb weniger Wochen, auf der Strecke blieb die europäische Solidarität. Die Konsequenzen waren und sind erschreckend: Mitgliedstaaten führten Exportbeschränkungen für medizinische Produkte ein, Lastwägen, gefüllt mit Schutzausrüstungen, standen an geschlossenen Grenzen und konnten die bereits bezahlten Waren nicht liefern und ein anderer Mitgliedstaat begann schlicht Diebstahl an lebensrettender Ausrüstung. In der Krise ist sich scheinbar jeder der Nächste. Die Europäische Union wirkt dadurch so zahnlos wie selten und droht durch diese neu entstandenen Rahmenbedingungen einen enormen Bedeutungsverlust zu erfahren.

Solidaritätsverlust im Angesicht von Covid-19

Für die Internationalen Beziehungen, die grundsätzlich wenig zu pandemischen Krisen, aber dafür um so mehr zum Verhalten von Staaten sagen können, kommt dieser Solidaritätsverlust nicht überraschend. “The international imperative is to take care of yourself’” schrieb Kenneth Waltz in seiner “Theory of International Politics” bereits 1979. Waltz ist ein Mitbegründer des Neorealismus, einer Schule innerhalb der Internationalen Beziehungen. Diese betrachtet die Nationalstaaten als wichtigste handelnde Akteure innerhalb einer anarchisch- und wettbewerbsorientierten Welt, in der jeder auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Dieser eigene Vorteil kann durchaus auch durch zwischenstaatliche Kooperation erreicht werden, doch gilt sie den Neorealisten als höchst fragil. Immerhin könnte sich ein Vertragspartner vielleicht doch nicht an seine Verpflichtungen halten oder diese aus Angst vor einem Verlust der eigenen Überlegenheit vorzeitig auflösen. Die nationalen Alleingänge, wie wir sie in den letzten Wochen mitansehen mussten, sind Ausdruck dieser neorealistischen Realität.

Auffallend ist jedoch, dass diese anarchische Natur und der nationalstaatliche Egoismus, vor denen uns die Neorealisten gewarnt haben, vor dem Hintergrund knapp werdender Grundbedürfnisse, in Form lebensrettender Schutzausrüstung, auftreten. Sind die grundlegenden Bedürfnisse gesichert, funktioniert jedoch auch solidarische Kooperation. Auch wenn es immer wieder zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern in der EU Diskrepanzen gibt, konnte dieses solidarische Handeln dennoch strukturschwache Regionen unterstützen. Kooperation im internationalen System funktioniert, solange grundlegende Bedürfnisse gedeckt sind. Sind sie es nicht mehr, verfällt das internationale System in einen egoistischen Wettbewerb, um die lebensnotwendige Grundbedürfnisversorgung sicherzustellen.

Produktion von Medikamenten vergemeinschaften

Aus neorealistischer Perspektive obliegt es den einzelnen Staaten, für die Aufrechterhaltung grundlegender Bedürfnisse zu sorgen. Doch dies ist schlicht und einfach nicht möglich. In unserem komplexen, globalisierten und weit vernetzten internationalen System können speziell kleinere Staaten ihre Grundbedürfnisversorgung nicht langfristig und nachhaltig sicherstellen. Zu vielfältig sind die Unsicherheiten und zu global sind die Herausforderungen.

Vor diesem Hintergrund entsteht ein Moment der Ermächtigung für die Europäische Union und eine Chance, gestärkt aus der Krise zu kommen. Die Mammutaufgabe besteht nun darin, Grundbedürfnisse auf europäischer Ebene, möglichst unabhängig vom Weltmarkt, zu decken, um diese auch in krisenhaften Zeiten gemeinschaftlich verteilen zu können. Solidarität alleine, wie wir es in den letzten Wochen sehen konnten, scheint jedoch wenig krisenfest zu sein. Um die anarchische Seite des internationalen Systems zu bändigen, wäre es überlegenswert, Grundbedürfnisse, wie etwa die Produktion von Medikamenten und Schutzausrüstung, zu vergemeinschaften und somit ihre Produktion wie auch die solidarische Verteilung unter europäische Kontrolle zu stellen. Vorreiterin ist dabei die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951-2002), die kriegswichtige Güter vergemeinschaftet hat, um einen neuerlichen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich zu verhindern. Die Produktion grundlegender Bedürfnisse unter europäische Kontrolle zu stellen, würde auch einer konsequenten Weiterentwicklung des europäischen Friedensprojekts entsprechen. Denn Friede bedeutet mehr als nur die Abwesenheit von Krieg. Friede herrscht, wenn grundlegende Bedürfnisse erfüllt sind und dazu braucht es institutionalisiert- solidarisches Handeln. Eines ist gewiss, wir können die Krise gemeinsam meistern oder an ihr getrennt scheitern!

Autoreninformation:

Constantin Lager ist Politologe und Researcher. In den letzten Jahren hat er im sicherheitspolitischen Bereich sowie in der Entwicklungszusammenarbeit gearbeitet. Sein regionaler Schwerpunkt ist der Nahe Osten. Er arbeitet als Projektkoordinator für den österreichischen Think & Do Tank Shabka an Szenarioanalysen zum Syrienkonflikt.

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