Seit Oktober 2019 wird der Libanon von Protesten gegen Korruption und Misswirtschaft erschüttert. Inzwischen wurde eine neue Regierung vorgestellt, doch die Demonstranten trauen ihr die von ihnen geforderten Veränderungen nicht zu.
Viele Beobachter bezeichnen die Proteste als größte in der Geschichte des Landes. Im November gingen knapp 1,7 Millionen Menschen auf die Straße, das ist ein Drittel der libanesischen Bevölkerung. „Das Volk will den Sturz des Regimes!“, der Schlachtruf des Arabischen Frühlings 2011 ist wieder zu hören. Der neu ernannte Ministerpräsident Hassan Diab stellte am Dienstag eine neue Regierung vor. Es drängt sich die Frage auf, ob die Ereignisse den Anfang oder das wirkliche Ende eines Bürgerkrieges darstellen und wie die Regierung auf die Bevölkerung eingeht.
„Die Beschäftigung mit der libanesischen Demokratie“, schreibt der Autor Kilian Zeitz in seinem Buch Libanon: Eine defekte Demokratie?, „(…) sollte (…) auch als Ermöglichungszusammenhang eines zielgerichteten Modernisierungsprozesses verstanden werden, der einen Beitrag zur Lösung des Großkonflikts inklusive seiner Teilaspekte (vom Palästinenser-Konflikt über den israelisch-libanesischen bis hin zum syrisch-iranisch-israelischen Konflikt) zu leisten im Stande sein kann“ (2009: 95).
Den Libanon somit als pars-pro-toto der gesamten Konflikte im Nahen Osten zu sehen, wäre aber nicht nur überspitzt, sondern auch schlichtweg falsch. Angesichts der aktuellen Proteste zeigt sich, dass es vor allem die Bürger sind, die das libanesische System ändern wollen – die Interessensvertreter anderer Staaten spielen auf den ersten Blick eine untergeordnete Rolle. In den vergangenen Woche kam es bei Demonstrationen in Beirut zu schweren Ausschreitungen. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschoße gegen die Menschenmasse ein. “Je mehr Gewalt die Polizei und die Sicherheitskräfte einsetzen, desto größer wird die Entschlossenheit der Leute. Wir werden weiter machen, bis wir unsere Ziele erreichen!” sagt eine Demonstrantin.
Sie fordern eine unabhängige Regierung, Rechenschaftspflicht, die Rückgabe von gestohlenem Geld und Neuwahlen. Was vor einigen Monaten friedlich begann, spitzt sich mittlerweile zu. Bei den Auseinandersetzungen am Wochenende, so das libanesische Rote Kreuz und die Zivilschutzbehörde, mussten mindestens 377 Menschen medizinisch versorgt werden.
It´s the economy
„Libnan jintafad“ – „der Libanon erhebt sich“ – heißt der beliebteste Hashtag auf Social Media, so Jakob Farah in der November-Ausgabe der Le Monde diplomatique. Es war die Ankündigung von weiteren Steuererhöhungen, unter anderem eine Steuer auf internetbasierte Telefonanbieter wie „WhatsApp“, die Anfang Oktober zu den ersten Protesten bewegte. Im Libanon teilen zwei staatliche Monopolisten den Mobilfunkmarkt unter sich auf und das Telefonieren über normales Festnetz ist sehr teuer. Deshalb telefonieren alle nur mehr via Internet – eine Lösung, um aus Telefonanbieter-Sicht gegenzusteuern seien daher 6 Dollar zusätzlich im Monat. Die „WhatsApp-Steuer“ wurde kurz nach dem Beginn der Proteste wieder verworfen – wobei sie nur die Spitze des Eisbergs darstellt.
Tatsächlich befindet sich die libanesische Wirtschaft in einer Dauerkrise. Die Wirtschaft exportiert so gut wie nichts und ist in den vergangenen Jahren kaum gewachsen. Laut einer inoffiziellen Schätzung geht man von einer Arbeitslosenrate von 35 Prozent aus und allein in den vergangenen 18 Monaten mussten 3000 Betriebe schließen.
Um das Handelsdefizit auszugleichen ist der Libanon seit Jahren auf den Zufluss von fremdem Kapital angewiesen. Bisher konnten sich die Banken darauf verlassen, was einerseits den hohen Zinsen für Anlagen in Dollar geschuldet ist – deren Gewinne werden vom Staat nur marginal besteuert – und andererseits dem fixen Wechselkurs.
Eigentlich ist der libanesische Pfund seit zwanzig Jahren fest an den Dollar gebunden, zu einem Wechselkurs von 1 zu 1507. Nun sind die Banken aber nicht mehr in der Lage, die Nachfrage an harten Devisen zu decken und ein blühender Schwarzmarkt ist entstanden. Dort wird zu Preisen gehandelt, die eine Abwertung des Pfund von 30% gegenüber dem Dollar betragen. Der Wechselkurs schwankt also enorm.
Die Gläubiger der Staatsschulden sind vor allem libanesische Privatbanken und die Banque du Liban (BdL): sie halten zusammen 85% der Schulden. Schlussendlich sind es auch sie, die damit Zinsen verdienen. Die Besitzer dieser Banken sind oftmals einflussreiche libanesische Geschäftsmänner, die mit der politischen Elite eng verstrickt sind.
Wie Jakob Farah darlegt, ist das Ergebnis eine nicht überraschende Vermögensungleichheit: 1% der Libanesen besitzen rund 40% des Privatvermögens und streicht etwa ein Viertel des Nationaleinkommens ein.
Für die libanesische Bevölkerung bedeutet das vor allem massive Einschnitte in die Infrastruktur und den öffentlichen Sektor des Landes, die sich an der dysfunktionalen Müllentsorgung und der teilweise fehlenden Stromversorgung im Land veranschaulichen lässt.
Unflexibler Proporz gegen breiten Aufstand
Nachdem Diab sein neues Kabinett vorgestellt hat, folgten am selben Tag weitere Proteste als Antwort auf den Straßen von Beirut. Die zwanzig neuen Ministerinnen und Minister sollen die Lösung für die „außergewöhnliche Situation“ sein, in der sich das Land derzeit befindet und den Schaden gestohlener Gelder wieder reparieren sowie Arbeitslosigkeit bekämpfen, so der Ministerpräsident zu Reportern.
Dass die von Diab bezeichnete Technokraten-Regierung aber erst vom Parlament bestätigt werden muss und das politische System bis dahin noch vakant ist, ist im Libanon kein neues Ereignis, wenn auch der Druck von Seiten der Bürger diesmal enorm ist.
Das konfessionelle Proporzsystem, das seit dem Nationalpakt von 1943 existiert, hat sich seit 1989 immer wieder als sehr langsame Art der Kompromissfindung zwischen den Konfliktparteien entpuppt. Damals war das Amt des Premierministers vakant, da der Nachfolger von Amin Gemayel, der heutige Präsident und maronitische Christ Michel Aoun, kein, wie es laut Verfassung vorgeschrieben ist für dieses Amt, sunnitischer Muslim ist.
Dabei war Aouns Wahl zum Präsidenten 2016 nicht unumstritten, ist er doch ein Bündnis mit dem von der Hisbollah unterstützten Saad Hariri eingegangen, der daraufhin Premierminister wurde. Aouns Partei „Freie Patriotische Bewegung“ (CPL) mit der er 2005 aus einem 15-jährigen Exil zurück in die libanesische Politik kam, steht eigentlich für einen freien, von anderen Mächten unabhängigen Libanon.
Nachdem es wegen immer stärker werdenden Konflikten zwischen der paramilitärischen schiitischen Hisbollah und Israel 2006 zu einem zweiten libanesischen Bürgerkrieg kam, zeigte sein Bündnis und die Parlamentswahl 2018 einmal mehr, was schon lange eine Konfliktlinie darstellt. Nämlich die pro-syrischen und die anti-syrischen Kräfte in der Gesellschaft sowie der wachsende Einfluss der Hisbollah in der Regierung. Diese gilt aus US-amerikanischer und israelischer Sicht als Terrororganisation und auch die EU pocht auf ein Verbot zumindest des militärischen Arms der Hisbollah.
Aber auch dieser Konflikt, so Jakob Farah in LMd, findet sich in den Bürgerprotesten wieder. In Nabatieh, einer Hochburg der Hisbollah, riefen die Demonstranten: „Wir wollen keine Armee außer der libanesischen“. Militärisch ist die Miliz nämlich weit stärker als das nationale Heer. Die schiitischen Proteste gegen die Hisbollah schüren im Rest der heterogenen Bevölkerung die Hoffnung, dass breiter Widerstand gegen die Eliten möglich ist.
Und dennoch, fragt man Ghazi Wazni, den neuen Finanzminister, so lautet seine Antwort, er würde sich mit Politik nicht auseinandersetzen. Seine Rolle sei es, die Stabilität und das Vertrauen wieder herzustellen. Denn: „We need everybody´s support, and outside support.“