Militär- und Rüstungsunion

Der Vertrag von Lissabon verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Wie schlägt sich das in den EU-Budgets nieder und welche Alternativen gibt es zu einem militärischen Kerneuropa?

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Zwei Weichenstellungen in unmittelbar zeitlicher Nähe im Juni 2016 waren eher zufällig, die Auswirkungen haben jedoch bis heute einen sehr engen Zusammenhang. Am 23. Juni votierte Großbritannien für den EU-Austritt und am 28. Juni wurde die EU-Globalstrategie beschlossen. Großbritannien hat eine weitgehende Autonomie der EU in Sicherheits-, Rüstungs- und Militärfragen stets blockiert, um der NATO und den USA eine aktive Rolle in Europa zu sichern. Die Globalstrategie hat eine unabhängige Hard Power der EU angekündigt und das Ausscheiden Großbritanniens bedeutet einen Abgang jenes Landes, welches Hard Power zwar wünscht, diese jedoch in transatlantischer Abhängigkeit verortet. Donald Trumps America first sowie Chinas Weltpolitik haben seither einer autonomen EU-Militär- und Rüstungspolitik zusätzlichen Schwung verschafft.

Katastrophen, Krisen und Kriege haben in den letzten zwanzig Jahren für Tempo in der Sicherheits- und Militärpolitik der EU gesorgt. Der Kosovo-Krieg hat 1999 zur Herausbildung der EU-Eingreiftruppe geführt. Die Anschläge vom 11. September 2001 brachten auch diesseits des Atlantiks das sensible Verhältnis von Freiheit und Sicherheit durcheinander. Das Nein Irlands zum Nizza-Vertrag war eine Gelegenheit, um ein sicherheitspolitisches Kerneuropa auf den Weg zu bringen. Der Terror von Madrid ließ die Verteidigungsagentur – vormals Rüstungsagentur – operativ werden. Mit den Flüchtenden aus Syrien, Somalia, Irak oder Afghanistan kamen EU-weit die Sicherheitspakete. Beinahe jede Krise brachte Versicherheitlichung, Militär und Überwachung, jedoch vergleichsweise wenig ziviles Krisenmanagement.

Die EU-Staaten haben unterschiedliche außenpolitische Traditionen. Heute sind 21 der 27 EU-Staaten NATO-Mitglieder. Sechs EU-Staaten sind neutral oder paktfrei. Das ergibt einen bunten Strauß von Außenpolitiken, aber bei weitem nicht immer eine gemeinsame Stimme. Flüchtlingspolitik, Syrienkrieg, Anerkennung von Palästina, Chinas Seidenstraße oder Atomwaffen zeigen, dass das Gemeinsame in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mitunter ein schlechter Witz ist. Wichtig war und bleibt, dass Deutsche und Franzosen nicht mehr aufeinander schießen. Und dazu kommt: dass Deutsche und Franzosen nicht gemeinsam auf andere schießen.

Auslandseinsätze

Militärische und zivile Auslandseinsätze sind seit 2003 ein sichtbares Zeichen der EU-Politik. Geographisch liegen die 40 Auslandseinsätze zumeist in Afrika und am Balkan. Zwei Drittel der Einsätze sind zivil, der Rest militärisch. Jedoch: 80 Prozent des eingesetzten Personals sind Militärs.

Eine Zivilmacht legt eine Prioritätenverschiebung zugunsten ziviler Einsätze nahe. Das EU-Parlament legt dar, „dass – wegen der Tatsache, dass der Schwerpunkt hauptsächlich auf die militärische Dimension der ESVP gelegt wird – im Bereich der zivilen Fähigkeiten und der Konfliktverhütung Fortschritte viel zu langsam erreicht werden“. In den letzten zehn Jahren war das eingesetzte zivile Personal für EU-Auslandseinsätze kontinuierlich rückläufig. Der Civilian Compact aus 2018 bleibt überaus enttäuschend hinter den Möglichkeiten zurück. Während Ziviles im Schneckentempo und abwärts unterwegs ist, wurden nach dem Brexit-Referendum weniger als sechs Monate benötigt, quasi ein EU-Hauptquartier – den militärischen Planungs- und Koordinierungsstab – grundsätzlich unter Dach und Fach zu bringen.

„Unsere Interessen und Werte gehen Hand in Hand“, führt die EU-Globalstrategie aus dem Jahr 2016 aus. Nicht selten setzen sich Wirtschafts-, Energie- und Geopolitik-Interessen gegen europäische Werte durch. Eklatant ist der Widerspruch bei Rüstungsexporten, zumal Exportinteressen und Menschenrechte nicht immer unter einen Hut passen. Die Politik der doppelten Standards spielt bei der Glaubwürdigkeit der EU eine besondere Rolle.

Nicht wenige Auslandseinsätze hatten und haben zumindest einen indirekten Zusammenhang mit der Sicherung von Ressourcen (EU-Marineeinsatz am Horn von Afrika, EU-Militäreinsatz im Tschad oder Kongo, EU-Einsätze in Georgien oder Libyen). Die jüngere Zielsetzung ist die Eindämmung der Migration. Die Stabilisierung in Migrationsfragen für die EU ist für viele Menschen in Konfliktgebieten eine trügerische Stabilität.

Außenpolitik ist nicht nur eine Aufgabe von Staaten, Bündnissen, Ministerien oder Militärs. Ein Modell für Gewaltprävention und Friedensförderung auf zivilgesellschaftlicher Ebene sind Zivile Friedensdienste. Professionell ausgebildete zivile Fachkräfte wirken an der Bearbeitung von Konflikten mit und stärken eine zivile Präventionsagenda. Das türkis-grüne Regierungsprogramm 2020 – 2024 benennt den Zivilen Friedensdienst als eine Agenda und prüft dieses neue Außenpolitik-Instrument. Die Kampagne #ZivilerFriedensdienstÖsterreich des Internationalen Versöhnungsbundes im Wahlkampf 2019 hat erfolgreich ein Bündnis von Unterstützer*innen aufbauen können.

EU-Rüstungspolitik

Der EU-Vertrag von Lissabon legt fest, die Mitgliedstaaten „verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Die EU-Globalstrategie vertieft: Es „benötigen die Mitgliedstaaten bei den militärischen Spitzenfähigkeiten alle wichtigen Ausrüstungen (…). Dies bedeutet, dass das gesamte Spektrum an land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten (…) zur Verfügung stehen muss“.

Für die EU-Rüstungspolitik war das britische Referendum ein Katalysator. Nur fünf Monate brauchte die EU-Kommission, um den Europäischen Verteidigungs-Aktionsplan aus dem Hut zu zaubern und nur weitere sieben Monate, um ihn als European Defence Fund (EDF) zu präzisieren. Für den Finanzrahmen 2021 – 2027 sind für den EU-Rüstungsfonds € 13 Mrd. budgetiert, wobei unbemannte Systeme, Satelliten, Marine und Drohnen einen Schwerpunkt bilden. Rüstungsforschung macht € 4,1 Mrd. aus und wird zu 100 Prozent aus EU-Mitteln bezahlt, die Rüstungsentwicklung soll sich auf € 8,9 Mrd. belaufen und wird zwischen 20 und 80 Prozent durch Unionsmittel gedeckt. Das Offene zahlen die Mitgliedstaaten. Angegeben werden € 50 Mrd. Und am Ende ist das Teuerste noch gar nicht mitgerechnet: der Einkauf dieser Waffen. Bedeutend ist, dass Rüstung erstmals Teil des EU-Budgets ist. Die Krux: Der EU-Vertrag verbietet Maßnahmen mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen. Also wird das Rüstungsbudget als Industrie- und Wettbewerbsförderung umetikettiert.

Ein ebenso neuer Posten im EU-Budget 2021 – 2027 ist die Military Mobility. Dafür stehen € 6,5 Mrd. zur Verfügung, um die Infrastruktur militärfit zu machen. Die European Peace Facility von € 10,5 Mrd. ist ein off-budget und gerät damit nicht in Widerspruch zum EU-Vertrag von Lissabon. Finanziert werden damit u.a. weltweite Militäreinsätze von Dritten, die im Interesse der EU sind, wobei damit Truppen und deren Infrastruktur bezahlt werden können. Sicherheitsforschung wird auch künftig auf Mittel von Horizon Europe zugreifen.

Zur Realisierung gelangen französisch-deutsche Pläne für ein neues Kampfjetsystem (FCAS) in dreistelliger Milliardenhöhe. Auch ein zur Entwicklung anstehender deutsch-französischer Kampfpanzer (MGCS) steht auf der künftigen Einkaufsliste. Gerangel über die Dominanz in der EU ist all inklusive, denn es geht um die Unabhängigkeit von den US-Waffenschmieden und volle Auftragsbücher zuvorderst für Paris und Berlin. Formal ist die von Frankreich lancierte Europäische Interventionsinitiative von der EU unabhängig. Diese Initiative setzt nicht auf Breite, sondern auf Entschlossenheit und setzt EU-Mitglieder außerhalb der Interventionsinitiative indirekt unter Druck.

Pläne für neue Rüstungsgelder sind ein kreativer Prozess. Der Rüstungsfonds ist nicht Rüstung, sondern Industrieförderung, die Peace Facility segelt unter der Flagge des off-budget und die Interventionsinitiative ist EU-Rüstung ohne EU-Strukturen. Transparenz lässt grüßen. Schulden für Bildung, Soziales und Umwelt sind verpönt – Schulden für Rüstung werden salonfähig. Der Bevölkerung werden Jobs in der Rüstung schmackhaft gemacht, obwohl in Österreich wie auch der EU weniger als 0,03 Prozent der Beschäftigten in der Branche tätig sind.

In den letzten fünf Jahren haben die EU-Staaten 27 Prozent aller Waffen verkauft. Nur die USA waren mit 36 Prozent ein größerer Waffenhändler (Russland: 21 Prozent, China 5,2 Prozent). Von den zehn größten Waffenexporteuren lagen sechs (FR, DE, GB, ES, IT, NL) in der EU.

Militärisches Kerneuropa

Kerneuropa ist im EU-Vertrag 2007 verankert. Zehn Jahre später ward die Abkürzung PESCO (Permanent Structured Cooperation) dafür gefunden. PESCO verpflichtet zur „regelmäßigen realen Aufstockung der Verteidigungshaushalte“. Kerneuropa definiert sich im Wesentlichen militärisch. Eurodrohne, EU-Kampfhubschrauber oder Euro-Artillerie gehören zu den 47 bislang beschlossenen PESCO-Projekten. Zivilmacht schaut anders aus und dank dem Leave der Briten geht alles sehr flott.

Außenpolitische Uneinigkeit mit militärischen Muskeln eines engeren Kerns zu überpinseln, kann Gefahren bergen. EU-Staaten außerhalb von PESCO reden und stimmen dabei auch nicht mehr mit. Das Kerneuropa der Sicherheit stellt sich als autoritäre Vertiefung der EU dar. Die politisch Willigen und militärisch Fähigen geben den Ton an, wenngleich es für Militäreinsätze die Zustimmung aller EU-Staaten braucht. Ziel Kerneuropas ist nicht die Überwindung der Nationalstaaten, sondern deren Hierarchisierung.

Alternativ sei hier ein offenes und ziviles Kerneuropa statt der Fixierung auf das Militärische vorgeschlagen. EU-Staaten, die im zivilen Bereich ein schnelleres Tempo wünschen, suchen staatliche und nichtstaatliche Partner innerhalb wie außerhalb der EU. Partner ergeben sich aus den Aufgabenfeldern: zivile Krisenprävention, ziviles Krisenmanagement, Unterstützung von Abrüstung, Begleitung von Friedensprozessen oder Vertrauensbildung. Warum nicht mehr Mittel für Ziviles? Ja, warum eigentlich nicht? Die aktuelle Bundesregierung ist dem wissenschaftlich begründeten Vorschlag gefolgt und hat ein Engagement im Rahmen von PESCO „unter anderem für Projekte der zivilen Krisenprävention und Konfliktlösung“ im Regierungsprogramm festgeschrieben. Der Erfolg des noch jungen Projektes wird davon abhängen, ob Verbündete unter den EU-Staaten gefunden werden können.

Schwerpunkte der Neutralen gewinnen in der Politik der EU kaum Gewicht. So verharren interessante Ansätze (z.B. Verbotsvertrag für Atomwaffen, Begegnungsort Wien oder Entminung in Syrien) auf nationaler Ebene und führen zu keinen verbindlichen EU-Beschlüssen. Die Intensität der Widersprüche bei der Festlegung der aktuellen Regierung auf ein „klares Bekenntnis zur Österreichischen Neutralität“ und der Wunsch nach Einführung von Mehrheitsentscheidungen in der EU-Außenpolitik bleibt abzuwarten. EU-Rüstungsdynamiken und die permanenten EU-Militäreinsätze schränken darüber hinaus die Möglichkeiten ein, glaubwürdige Brücken in Zeiten globaler Machtübergänge zu bauen. In der internationalen Politik mangelt es an Vielem, vor allem an gegenseitigem Vertrauen.

Thomas Roithner ist Friedensforscher und Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Sein Buch „Verglühtes Europa? Alternativen zur Militär- und Rüstungsunion. Vorschläge aktiver Friedenspolitik“ hat 364 Seiten und erschien 2020 in der 2. Auflage.

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