Shabkas Syrian Futures Team hatte die Gelegenheit sich mit Tyma Kraitt zu einem Hintergrundgespräch über Syrien zu treffen. Mit der Regionalexpertin haben wir über mögliche zukünftige Entwicklungen, den türkischen Einmarsch im Nordosten des Landes sowie die Rolle Europas diskutiert.
Die 1984 in Bagdad geborene Journalistin kam als Kind nach Österreich, studierte Philosophie und wurde einem breitem Publikum bekannt als Autorin von „Irak – Ein Staat zerfällt“, „Syrien – Ein Land im Krieg. Hintergründe, Analysen und Berichte“ und „Sunniten gegen Schiiten – Zur Konstruktion eines Glaubenskrieges“.
Shabka: Frau Kraitt, ist ein Frieden in Syrien im Jahre 2025 realistisch?
Tyma Kraitt: Ja, auch wenn er nur kurzfristig sein möge. Es gibt Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung und der Widerstand ist kleiner geworden. Zusätzlich hat das Assad Regime mittlerweile viele Gebiete unter seine Kontrolle gebracht. Sobald die Waffen schweigen, gibt es jedoch immer wieder Demonstration. Die Frage ist, wie man mit diesen umgehen wird. Assad ist ein Kernproblem, das wissen auch die Russen. Sie brauchen einen neuen Kopf, damit ein bisschen Ruhe einkehrt.
Es sind nicht nur die Gewaltzyklen, die immer wiederkehren, es sind auch soziale Aufstände. In dem Moment, wo die Menschen in Syrien bemerken werden, dass sich die wirtschaftliche Lage nicht verbessert, werden sie wieder auf die Straße gehen. Sozialen Missstand wird es weiterhin geben und dieser wird auch in der Zukunft der Motor für die Revolution sein.
Shabka: Im Oktober 2019 marschierte die Türkei in nordsyrische, von Kurden kontrollierte Gebiete ein. Wie würden Sie die Zukunft der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung einschätzen?
Tyma Kraitt: Es war bekannt, dass in der PKK-Führung syrische Kurden dominierten. Dies war so, da die PKK unter Assad toleriert wurde, solange sie kein Kurdistan in Syrien forderten. 2011 haben sich die syrischen Streitkräfte aus Nordsyrien zurückgezogen, unter anderem, als Revanche an Erdogan. Wenn es heißt, die Kurden haben Rojava befreit, dann stimmt das nicht ganz, da sie nicht darum kämpfen mussten. Trotzdem konnten die Kurden auf Grund dieser Entwicklung ihre eigenen Strukturen aufbauen und ihre eigene Verfassung ausarbeiten. Dieser Fortschritt führte zu Sympathie im Westen. Assad hatte bereits 2011 vorausgesehen, dass dies zu einem Problem für die Türkei wird. 2011 und später konnte man in den kurdischen Gebieten von so etwas wie einer Basisdemokratie sprechen. Heute wird das verklärt. In dem Moment, in dem ISIS aktuell wurde, etablierte sich bei den Kurden ein sehr autoritäres Regime. Natürlich ein säkulares und eines, in dem Frauen, verglichen mit ISIS, durchaus wesentliche Rollen zukommen. Es ist aber dennoch eine autoritäre Führung.
Um 2011 herum gab es ein kleines Zeitfenster, in dem es ein interessantes demokratie-politisches Experiment gab, das aber nach dem Eintritt der Kurden in den Krieg nicht realisiert werden konnte. Hätte sich der syrische Widerstand nicht so stark von Erdogan vereinnahmen lassen, dann gäbe es eine stärkere Verbindung zur kurdischen Opposition. Hätten die Kurden wiederum nicht primär das Ziel der Gründung des Staates Kurdistan verfolgt und wären dazu bereit gewesen gemeinsam mit der syrischen Opposition gegen das Assad Regime zu arbeiten, dann hätte Assad sowohl im Süden als auch Norden des Landes ein Problem gehabt. Somit hätte die Situation in Syrien sich vollkommen anders entwickeln können, wenn nicht immer diese Partikularinteressen im Vordergrund gestanden hätten.
Zurzeit ist die Region völlig zerrüttet, sodass es Jahre brauchen wird, bis diese Parteien wieder dazu in der Lage sein werden, sich Gedanken über sozialpolitische Fragen zu machen. Aber neue Krisen führen vielleicht zu neuen Allianzen. Die Invasion der Türkei lässt sich damit erklären, dass der türkische Minsiterpräsident dringend wieder einen militärischen Sieg braucht, da seine Syrien-Politik zu einem Fiasko für die AKP wurde. Die Türkei ist nicht unbegründet schlecht auf die Kurden zu sprechen. Der Kampf gegen ISIS galt als Vorwand für die Kurden, um immer mehr Gebiete mit nicht kurdischer Bevölkerung einzunehmen. Durch ethnische Vertreibungen versuchten sie, in arabisch dominierten Gebieten kurdische Mehrheiten zu schaffen. In den Medien wurde darüber nicht berichtet. Es ist aber der Grund dafür, warum viele Araber sagen, dass sie lieber unter Erdogan leben würden.
Shabka: Präsident Trump kündigte neulich den Rückzug der Mehrheit der amerikanischen Truppen in der Region an. Das hatte nach dem Irak-Krieg tragische Folgen. Welche Fehler sollte der Westen nun in Syrien vermeiden?
Tyma Kraitt: Die Position des Westens in Syrien war halbherzig. Die USA wollten dem Widerstand nicht voll vertrauen, sicherlich auch, weil Israel nur geringe Sympathien für die syrische Opposition hatte. Während der Westen auf die Destabilisierung eines unliebsamen Regimes hoffte, wurde ein Regime Change nicht angestrebt. Zu einer großangelegten Militärintervention wollte sich der Westen nicht bewegen lassen. Großbritannien und Frankreich waren zwar dafür, die USA aber zurückhaltend. Sie überließen Staaten wie der Türkei und Katar den Vortritt in der militärischen Unterstützung der Rebellen. Zur Zeit ist Syrien im Prozess der Reintegration der Milizen in die zentrale Armee. Die USA schaut hier einfach nur zu. Das hängt damit zusammen, dass die USA davon ausgehen, dass eine stärkere syrische Armee weniger Einfluss für den Iran bedeutet.
2012 wäre Russland zu einem Deal mit dem Westen bereit gewesen, dass sie Assad fallen lassen, das Regime jedoch beibehalten. Darauf sind die Amerikaner nicht eingestiegen. Was der Westen jetzt tun kann, ist, Assad nicht einfach ohne weiteres zu rehabilitieren. Die USA muss mindestens Bedingungen stellen. Die neue Verfassung ist ein totales Ablenkungsmanöver. Die alte Verfassung war nicht so übel. Eine Neue unter UN Schirmherrschaft herauszuarbeiten, ist unnötig. Das Land hat größere Probleme. Wiederaufbau und Finanzierung sollten Prioritäten sein. Westliche Staaten können und sollten das unterstützen, jedoch mit Bedingungen.
Aber man muss klar anerkennen, dass Russland mittlerweile die Oberhand hat. Das wichtigste Ziel Putins war es, einen Regimewechsel in Syrien zu verhindern und russische Stützpunkte und weiteren Einfluss zu sichern. Niemand kommt in Syrien mehr um Russland herum. Die Russen haben wirklich mehr erreicht, als sie vorhatten.
Shabka: Was müssten die Europäer tun, falls das Regime in Damaskus tatsächlich ein Ende der gewaltvollen Auseinandersetzungen bewirken könnte, um den syrischen Flüchtlingen irgendwann eine Rückkehr nach Syrien zu ermöglichen?
Tyma Kraitt: Die Menschen brauchen die Sicherheit, dass sie nicht ins Gefängnis müssen oder gefoltert werden. Die wichtigste Aufgabe wird es daher sein, Vertrauen zu schaffen. Aber ohne Wiederaufbau macht auch das keinen Sinn. Es ist immer eine Frage des Angebots. Bekommen Rückkehrer Grundstücke und Eigentum, die vom Staat konfisziert wurden, wieder zurück? Das ist ein Hauptproblem der syrischen Diaspora. Die Menschen haben sich mittlerweile hier in Europa ein Leben aufgebaut. Wenn überhaupt, gehen die Älteren zurück. Die Jungen werden bleiben, weil sie nichts Anderes kennen.
Shabka: Wie könnte denn die Übergangsjustiz in einem Nachkriegssyrien aussehen?
Tyma Kraitt: Strafrechtliche Verfahren gegen einzelne Personen im syrischen Militär oder in der Regierung sind unrealistisch. Vielleicht wird es ein paar Bauernopfer geben, aber das werden nicht hochranginge Persönlichkeiten sein. Diese werden die Option des Exils in Russland haben.
Eine Amnestie für die Oppositionsgruppen hängt davon ab, ob sie zu Waffen gegriffen haben oder nicht. Nur diejenigen, die auf der Seite Assads während des Bürgerkriegs waren, werden weiterhin im Parlament toleriert werden.
Eine offizielle Wahrheitskommission würde auch nicht zum Charakter des Regimes passen. Man sollte nur an das Massaker von Hama zurückdenken. Aber so etwas wäre wichtig und sollte von Gruppen im Exil oder Nichtregierungsorganisationen vor Ort ausgeführt werden. Es gibt auch sonst keine offiziellen Ansätze zur Versöhnungsarbeit. Auch wenn ein neuer Präsident ernannt werden würde, bleibt es das gleiche Regime. Versöhnungsarbeit wird vielleicht innerhalb der Bevölkerung selbst geschehen, aber von offizieller Seite kaum. Es wird Siegerjustiz geben. Das Assad-Regime wird seine Deutung der Ereignisse durchsetzen und in den Geschichtsbüchern niederschreiben.
Shabka: Vielen Dank für das Gespräch.