Das Kalifat ist nicht mehr. Raqqa, Westmosul und viele andere ehemals vom IS kontrollierte Städte liegen in Trümmern. Hunderttausende sind auf der Flucht. Stellt der IS immer noch eine Alternative zur Regierung in Baghdad dar?
Mit dem Fall von Baghuz im März 2019 war das Kalifat am Ende. Die Kader und Kämpfer des Islamischen Staates (IS) haben sich in den Untergrund zurückgezogen. Vier kurze Inputs von Experten zur Zukunft des IS und ob dieser noch mit Rückhalt in der Bevölkerung rechnen kann.
Tyma Kraitt |Buchautorin
zuletzt von ihr erschienen: “Sunniten gegen Schiiten: Zur Konstruktion eines Glaubenskrieges” (Promedia 2019)
„Nach dem Kalifat ist vor dem Kalifat“. Eine Phrase, die man oft im Zusammenhang mit der Zukunft Mossuls hört und liest. Diese Einschätzung trifft einen wahren Kern: An den politischen Rahmenbedingungen, die den Vormarsch und Aufstieg der Dschihadisten begünstigt haben, hat sich wenig geändert. Gemeint ist die konfessionelle und ethnische Spaltung des Iraks, die auch politisch durch ein Proporzsystem aufrechterhalten wird. Zugleich wird aber eine wesentliche Entwicklung verkannt. Das Kalifat hat sich durchaus selbst entzaubert. Darauf weisen zahlreiche Berichte der Bevölkerung Mossuls hin. Das IS-Regime wurde gegen Ende von vielen Menschen abgelehnt – selbst von jenen, die der Übernahme der zweitgrößten irakischen Stadt durch die Milizbewegung anfangs begrüßten.
Das heißt nicht, dass es keine Kollaboration zwischen den Einwohnern und dem IS gab. Nur wurde die Herrschaft der Dschihadis auch als eine Fremdherrschaft, eine Besatzung, wahrgenommen. Ein Eindruck, der durch die unzähligen Foreign Fighters und deren Familien verstärkt wurde.
Dazu ein Beispiel aus meinem eigenen Umfeld im Irak. Die Wohnung meiner Familie wurde nach deren Flucht vom IS beschlagnahmt. Als meine Verwandten zurückkehrten, berichteten ihnen ihre Nachbarn, dass ein hochrangiger tschetschenischer IS-Kader mit seinen Frauen eingezogen war. Diese feierten auf der Dachterrasse oftmals lautstarke Sexparties. Dass ihre Nachbarn zuhören und teilweise zusehen konnten, war ihnen egal. Für sie galten andere Regeln, als für die autochthone Bevölkerung, die wegen einer Packung Zigaretten schon mit drastischen Strafen rechnen musste. Die IS-Besatzung Mossuls hat der sunnitischen Bevölkerung letztlich weder ein menschenwürdiges Leben noch Schutz geboten.
Es sind jedoch nicht nur die Erfahrungswerte in Mossul selbst, die eine Rückkehr des IS weniger wahrscheinlich machen. Eine weitere interessante Entwicklung ist der allmähliche Bruch vieler Irakis mit dem politischen Konfessionalismus. Das zeigte sich unter anderem am Erfolg des Sairun-Bündnisses, einer Allianz des schiitischen Klerikers Muqtada as-Sadr und der Kommunistischen Partei, bei den letzten Parlamentswahlen. Diese sind explizit gegen die konfessionelle Spaltung von Politik und Gesellschaft angetreten.
Freilich ist die Gefahr des IS oder ähnlicher Grupperungen nicht vollständig gebannt. Solange sich Iraks Sunniten von schiitischer Militanz z.B. in Form der Volksmobilisierungseinheiten bedroht fühlen, werden sie sich jenen Gruppen zuwenden, die ihnen am ehesten Sicherheit bieten. Aber es besteht zweifellos eine Sehnsucht nach politischen Alternativen – sowohl bei Sunniten als auch bei Schiiten.
Maximilian Lakitsch |Friedens- und Konfliktforscher am Institut für Rechtswissenschaftliche Grundlagen der Universität Graz
Die Stärke der IS-Miliz ist an ihren Rückhalt in der Bevölkerung gebunden. Dabei spielen die Erzählungen und Bilder von Hinrichtungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen und sonstigen Gräueln zwar eine Rolle, aber eine weniger entscheidende. Das Machtfundament des IS besteht vorrangig in seinem kompromisslosen Anspruch auf sunnitische Herrschaft im Irak und Syrien.
Als die irakische Regierung im Rahmen einer US-Strategie ab 2005 militärisch und politisch die sunnitischen Stämme stärker miteinbezog, verschwand der IS in der Wüste und in der Bedeutungslosigkeit. Als sich Sunniten nach den Wahlen 2010 enttäuscht vom erneut schiitischen Regierungsbündnis abwandten, kam die Organisation wieder zurück. Die Stärke des IS ist also an das steigende Misstrauen gegenüber einer nicht-sunnitisch dominierten Regierung im Irak und auch in Syrien gebunden. Doch können sowohl das syrische Baath-Regime als auch die irakische Regierung ihren sunnitischen Bürgern wenig glaubhaft das Vertrauen in einen gemeinsamen Staat und dessen Regierungsapparat wiedergeben, solange zahlreiche staatlich geduldete bzw. geförderte schiitische Milizen im Land sind und dort mit den nationalen Armeen zusammenarbeiten. So fühlen sich im syrischen Deir Az-Zor Sunniten zusätzlich vom wachsenden Einfluss der kurdisch dominierten SDF bedroht, deren Verhältnis mit Damaskus mehr als unklar ist. Wichtige Akteure hierbei sind vor allem die sunnitischen Stämme, deren Abwendung von Damaskus und Baghdad in offiziellen Bündnissen mit dem IS Gestalt angenommen und damit deren Erfolgslauf grundgelegt hat.
Zur Zeit werben sowohl Saudi-Arabien und die USA auf der einen Seite, sowie die Regierung Bashar al-Assads auf der anderen Seite um die Gunst der Stämme für ein Bündnis, u.a. um dem IS jegliches Machtfundament zu entziehen. Die Türkei hingegen sucht die sunnitischen Stämme gegen die syrischen Kurden auszuspielen. Am Ausgang dieses Geplänkels um Einfluss und Durchsetzung von Interessen hängt die Sehnsucht nach einer Rückkehr des IS. Während der IS – zumindest in europäischen und amerikanischen Medien – nichts von seinem symbolischen Schrecken verloren hat, hat sich die al-Qaida-nahe Hayat Tahrir As-Sham (vormals al-Nusra) als unumstrittene Speerspitze des salafistischen Jihad in Syrien bzw. in Idlib etabliert.
Nico Prucha | Lehrt an der Uni Wien und bloggt für onlinejihad.net
Der Bürgerkrieg in Syrien, die Auferstehung des zum damaligen Zeitpunktes stark dezimierten ISI und dessen Expansion nach Syrien, führte auch zu einer Eskalation der Spirale der Gewalt entlang konfessioneller Linien. Sunnitische Muslime, vor allem Zivilisten, leiden unter der extremen Gewalt in Syrien, wo vor allem sunnitische Ballungsräume (Aleppo, Homs, Hama) massiv zerstört sind während im Irak die vom IS befreite Millionenstadt Mosul maßgeblich nur auf der schiitischen Seite wiederaufgebaut wird.
Damit kann der IS ein altes Narrativ relativ einfach reklamieren: Nur der IS kämpft für die Interessen der ahl al-Sunna wa-l jama’a, der sunnitischen Muslime. Lokale Regime und Machthaber hingegen diskriminieren Sunniten, stellen sie unter Generalverdacht, kooperieren offen und verdeckt mit Schia-Milizen mit iranischer Unterstützung; in Teilen Syriens werden in Kerngebieten der arabischen Sunniten offen schiitische Agenden umgesetzt; im syrischen Manbij herrscht eine explosive Stimmung aufgrund der kurdischen Präsenz und die dadurch verbundenen Spannungen mit der türkischen Armee; im Irak wurde die schiitische Miliz der Hashad al-Sha’bi offiziell Teil der irakischen Armee.
Aus Mangel an Alternativen, dem Ausbleiben jeglicher Form der “good governance” bzw. einer Integration der Interessen und Bedürfnisse der Sunniten in weiten Teilen Syriens und des Iraks, ist der Rückhalt in der Bevölkerung für den IS in mancher Hinsicht am entstehen und in anderer ungebrochen. Nicht zu vergessen dabei, der Krieg in Syrien ist nicht zu Ende und theologisch verwandte Gruppierungen kämpfen weiter.
Markus Schauta | Journalist und Nahost-Reporter
Der IS hat bereits 2018 begonnen, sich von einem Kalifat mit Kontrolle über ein staatsähnliches Gebilde, in eine Guerilla-Miliz zurückzuwandeln. Mit dem Verlust des Kalifats hat er wichtige Finanzquellen und tausende Kämpfer verloren. In eine ähnliche Situation geriet aber bereits die Vorgängerorganisation zwischen 2006 und 2010: Nach dem Tod von Abu Musab al-Zarqawi verlor der „Islamische Staat im Irak“ große Teile des von ihm kontrollierten Territoriums und den Rückhalt in der sunnitischen Bevölkerung (vor allem bei den Stämmen).
Dennoch erholte sich die Organisation (auch durch den Zulauf ehemaliger Offiziere und Geheimdienstmännern des gestürzten Baath-Regimes), breitete sich nach Syrien aus und rief im Sommer 2014 in Mosul das Kalifat aus. Es gelang, weil die schiitisch dominierte Regierung unter Ministerpräsident Nuri al-Maliki die sunnitische Bevölkerung als Bedrohung ihrer Macht sah. Indem Maliki die Sunniten aus wichtigen politischen und militärischen Positionen verdrängte (oder zumindest dafür sorgte, dass sie schiitisch dominiert blieben), fühlten sich die Sunniten nicht von der Regierung in Baghdad vertreten und ausgegrenzt. Der sunnitische IS bot sich als Alternative an.
Umgekehrt gibt es Sunniten, die die gesamte politische Nachkriegsordnung ablehnen, weil die Führer gewählt und wichtige Posten in Politik, Militär und Wirtschaft nicht mehr automatisch mit Personen aus der sunnitischen Elite besetzt werden. Viele sunnitische Führer glaubten daher, sich mit den Islamisten zusammenzutun, wäre für sie vorteilhafter, als die schmerzhafte Beschneidung ihrer politischen Macht zu akzeptieren.
Solange diejenigen, die an der Macht sind, nicht an einer inklusiven Regierung arbeiten und die anderen nicht akzeptieren, dass die Zeiten eines sunnitisch dominierten Irak vorbei sind, werden Gruppen wie der IS weiter Zulauf finden.