Der seit 2011 andauernde Konflikt in Libyen erreichte Anfang April 2019 eine neue Eskalationsstufe, als die Libyan National Army (LNA) Richtung Tripolis marschierte. Im Großraum Tripolis, wo rund ein Drittel der sechs Millionen Libyer wohnt, waren bis Mitte Juni mehr als 90 000 Menschen aus ihren Häusern geflohen, 635 starben im Zuge der Kämpfe, davon 41 Zivilisten.
Die beiden Konfliktparteien greifen auf unterschiedliche Narrative zurück um ihre Aktionen zu rechtfertigen. Denn während eine militärische Entscheidung nicht in Sicht ist, wird die Legitimation nach innen und nach außen immer wichtiger.
Die beiden Pole
Während die Kämpfe vor den Toren Europas vergleichsweise wenig öffentliche Aufmerksamkeit erregen, verfestigten sich die beiden Machtblöcke in Libyen. Auf der einen Seite steht Khalifa Haftar, Kommandant der LNA und libysch-amerikanischer Doppelstaatsbürger. Einst Weggefährte Muammar al-Gaddafis, geriet er im Tschadkrieg in den 1970er Jahren in Gefangenschaft und kam nur mit Hilfe der USA wieder frei. Einer der Verdienste Haftars war es, den Osten Libyens von den Milizen islamistischer Shura-Räte zu befreien, zum Preis demokratiepolitischer Einschränkungen.
Auf der anderen Seite steht eine Allianz aus der international anerkannten, jedoch zahnlosen, Einheitsregierung – oder was noch von ihr übrig ist – sowie diversen Milizen aus dem Umland von Tripolis und aus Misrata. All diese Kräfte haben keine einheitliche Führungsfigur, gemeinsame Strukturen und eine Kommandokette gibt es nur auf dem Papier. Der kleinste gemeinsame Nenner ist ihre Opposition zu Haftar und seiner LNA. Während einige dieser Kräfte politisch flexibel sind und im Fall größerer Machtverschiebungen die Seite wechseln werden, stehen andere, etwa den Moslembrüdern bzw. der Libyan Islamic Fighting Group nahestehende Milizen, klar in Opposition zu Haftar.
Der aktuelle Konflikt in Libyen gilt als Paradebeispiel eines Stellvertreterkrieges zwischen jenen Staaten, die auf die Stärkung autokratische Herrscher mit säkularen Zügen setzten (Vereinigte Arabische Emirate, Saudi Arabien, Ägypten, Frankreich) und jenen, die eine islamisch geprägte Politik fördern (Türkei, Katar).
Die Perspektive der Einheitsregierung
Das Narrativ, welches die Anti-Haftar-Seite streut, ist folgendes: Die chaotischen Zustände während der Wahlen im Sommer 2014 zeichneten sich durch eine niedrige Wahlbeteiligung von unter 20 Prozent aus. Außerdem erklärte der Oberste Gerichtshof in Tripolis einen Verfassungszusatz für ungültig und erklärte damit das frisch gewählte Parlament für illegitim. Durch die Gründung paralleler Institutionen in Ostlibyen, etwa der nationalen Ölgesellschaft oder der Zentralbank, institutionalisierten die Behörden im Osten des Landes die militärische Spaltung.
Durch zahlreiche Kriegsverbrechen sowie Menschenrechtsverletzungen büßte die LNA an Legitimität ein. Des Weiteren führt Haftar den Osten autoritär und verbietet jeden Kontakt zu Institutionen der Einheitsregierung. Das Demokratiedefizit in Ostlibyen zeichnet sich einerseits durch die Dysfunktionalität des Repräsentantenhauses (an den Sitzungen nehmen regelmäßig weniger als die Hälfte der Abgeordneten teil), sowie andererseits durch die Absetzung gewählter Bürgermeister in Ostlibyen aus. Außerdem stehen Teile des Repräsentantenhauses unter der Kontrolle Haftars, womit die einzige gewählte Institution des Landes keine neutralen Beschlüsse mehr fassen kann. Widersprüchliche Aussagen Haftars, dass Libyen nicht bereit für die Demokratie sei, er aber ausschließlich einen vom Volk gewählten Präsidenten als Oberbefehlshaber der Streitkräfte akzeptiere, verdeutlichen seine Umstrittenheit.
In Bezug auf die aktuellen Kämpfe um Tripolis gilt Haftars LNA als alleiniger Aggressor, da sie den Angriff startete und somit für den Tod von hunderten Libyern verantwortlich sei. Außerdem beschoss die LNA im Zuge der Offensive zivile Wohnviertel südlich von Tripolis.
Die Perspektive der LNA
Die Sympathisanten der Libyan National Army, die vor allem in Ostlibyen zu finden sind, verfolgen ein anderes Erklärungsmuster: 2014 wurde das Repräsentantenhaus gewählt. Die Wahl, bei der sich rund 40 Prozent der registrierten Wähler (was jedoch weniger als 20 Prozent der Wahlberechtigten entsprach) beteiligten, war ein Debakel für die bis dato parlamentarisch stark vertretenen Islamisten. Daraufhin mobilisierten ebenjene Islamisten ihre Milizen und stifteten Unruhe in der Hauptstadt, bis das neu gewählte Repräsentantenhaus schließlich seinen Sitz ins relativ sichere ostlibysche Tobruk verlegen musste. Die abgewählten Parlamentarier hielten jedoch an ihrer Macht fest und etablierten eine eigene Volksversammlung, die schließlich die „Heilsregierung“ von Khalifa Ghweil zu etablieren versuchte. Ghweil, ein libyscher Afghanistan-Veteran und Angehöriger des islamistischen Milieus, stiftete weiter Chaos, ehe die Vereinten Nationen unter Ausschluss wesentlicher Akteure eine Einheitsregierung installierten und dabei eine Allianz mit einigen Islamisten einging, die Ansar al-Sharia und diverse Schura-Räte in Ostlibyen unterstützten. Khalifa Haftar, der vom legitimen Parlament zum Armeechef ernannt wurde, besiegte diese islamistischen Akteure im Laufe der letzten Jahre in allen Städten Ostlibyens und baute eine nationale Armee auf. Als die ohnehin schon zahnlose Einheitsregierung nach mehreren Monaten im Amt noch immer nicht von der legitimen parlamentarischen Versammlung, dem Repräsentantenhaus in Tobruk, wie vertraglich vorgesehen bestätigt wurde und die innerlibyschen Verhandlungen zur Reform der Einheitsregierung mehrmals scheiterten, verlor diese endgültig ihre Legitimität. Neben dem Vorwurf der Unterstützung von Terroristen wirft Haftar der Einheitsregierung fehlende Durchsetzungsfähigkeit vor.
Bei der aktuellen Offensive in Tripolis geht es laut LNA darum, die eigenen Interessen in Tripolis in Zukunft abzusichern. Denn sollte es zu einer Verhandlungslösung kommen, braucht es eine gewisse Machtbasis vor Ort, um das Fortbestehen des Kompromisses zu garantieren. Außerdem gab es in den letzten Wochen einen regelrechten Dschihad-Tourismus von Syrien über die Türkei nach Libyen. Wenn sich diese Leute in Libyen festsetzen, wird man sie kaum wieder los. Libyen kann nur von einer gewählten Person regiert werden, womit der Kopf der Einheitsregierung, Fayez Serraj, der international als Regierungschef gehandhabt wird, als illegitim anzusehen ist. Die LNA unterstrich dieses Narrativ durch die Ausstellung von Haftbefehlen gegen Serraj und andere Mitglieder der Einheitsregierung im Zuge der jüngsten Offensive.
Zivilgesellschaft zwischen den Fronten
Während beide Seiten gewisse Umstände ausblenden oder ignorieren, bleibt die objektive Wahrheit eine Sache der Perspektive einerseits und der Frage welche Informationen man als glaubwürdig erachtet andererseits. Die Narrative, die beide Seiten professionell verbreiten, was eine regelrechte Propagandaschlacht in den sozialen Medien zur Folge hat, dienen der jeweiligen Seite lediglich zur Rechtfertigung ihrer Taten und um die Bevölkerung für sich zu gewinnen. Der traurige Nebeneffekt der jüngsten Polarisierung in Libyen ist, dass Stimmen aus der Zivilgesellschaft, die in der Mitte stehen, oder sich überhaupt außerhalb der dargestellten Erklärungsmuster befinden, in der aktuellen Propagandaschlacht untergehen.