Verena Ringler von „European Commons“ zur Zukunft der Europäischen Union.
Das Gelingen des europäischen Projekts wird letztlich vom Faktor Mensch abhängig sein. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick in den „EU Coalition Explorer“. Diese Studie des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR) gibt neue Einblicke zur Zusammenarbeit der Regierungen und Bürokratien der EU Mitgliedsstaaten, indem sie erstmals das informelle Beziehungsnetz zwischen den Staaten sichtbarmacht. Auf Grundlage einer europaweiten, regelmäßigen Befragung von Entscheidern und Entscheidungsvorbereitern sowie Expertinnen und Experten in den Hauptstädten der EU veranschaulicht der „Explorer“ die Interaktionsdichte zwischen den einzelnen EU-Staaten. Sowohl Anzahl als auch Vielfalt der Allianzen innerhalb der EU Staaten lassen sich analysieren. Des Weiteren veranschaulicht dieser Datenatlas den wahrgenommenen Stellenwert anderer Mitgliedsstaaten wie auch die jeweiligen Vorlieben und Erwartungen an die Zusammenarbeit in der Europäischen Union. „Man bekommt einen gruppendynamischen Eindruck der Interaktionen zwischen den EU Ländern“ erklärte Ringler, „wer informell gut vernetzt und angesehen ist, kann erfolgreicher Initiativen entwickeln und Partner gewinnen“.
Der Datenatlas liefert unter anderem Hintergründe und Zusammenhänge zum Zustand der EU an sich, zur Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion, zum Rechtspopulismus, der Energiepolitik, der Asyl- und Migrationspolitik sowie der EU Außen- und Sicherheitspolitik. Dabei werden die Themen sehr kompakt und gut verständlich durch hervorragende Übersichten und Grafiken aufbereitet. Die Ergebnisse stehen Regierungen und Forschungseinrichtungensowie der Öffentlichkeit online auf der Website des ECFR zur Verfügung.
Die größten Enttäuschungen im jüngsten „Coalition Explorer“ waren Ungarn, Großbritannien und Polen. Auch Österreich wurde von den übrigen EU Mitgliedsstaaten nicht optimal wahrgenommen. Das schlechte Abschneiden Österreichs erklärt der Studienautor und renommierte deutsche Politologe Josef Janningin kurzen Worten damit, dass sich die anderen EU-Staaten von Österreich mehr regionale Initiativ- und Prägekraft in Richtung Balkan sowie Zentral- und Osteuropa erwartet hätten.
Es lohnt sich also, sich der Zusammenarbeit der Regierungen und das Zusammenspiel von Gesellschaften in der EU mit frischem Blick zu nähern. Nehmen wir uns etwa die vier Felder von SWOT Analysen vor Augen, also jenem Managementinstrument, das übersichtliche Gesamtbilder eines Ist-Zustandes durch die Identifikation der Stärken, Schwächen, Chancen und Bedrohungen ergibt. Wir erkennen dann rasch: sämtliche Dynamiken und Themen rund um die EU sind von mindestens genauso vielen „Strenghts“ und Opportunities“ geprägt wie von „Weaknesses“ und „Threats“. Ich empfehle daher, die Antennen auszufahren, um Risiko- und Gefahrenbilder konsequent durch Chancenträger und etwa stabilisierende oder gestaltende Trends zu ergänzen. Es gilt in diesem Europawahl-Jahr und mit Blick auf die Neubesetzung sämtlicher EU Spitzenposten, auch im politischen und gesellschaftlichen Bereich ambitioniertere Folgenabschätzungen und strategische Vorausschau zu betreiben und das „europäische Modell“ von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit im internationalen Wettbewerb der Systeme rechtlich, politisch und finanziell auszubauen und mit ökonomischen Treibern zu hinterlegen. Dies wiederum im analogen wie im digitalen Raum.
Drei konkrete Projekte dahingehend wären:
- Erweiterung der Liste kritischer Infrastrukturen um multilaterale und supranationale Rechts- und Regelwerke. Die Frage ist etwa mit Blick auf die Digitalisierung und hybride Bedrohungen von außen, ob EU Staaten ihre Listen kritischer Infrastrukturen in der Zukunft um immaterielle Aspekte erweitern sollen. Das könnten gemeinsame Rechtsrahmen und Regelwerke sein.
- Europa muss sich ein „civic CERN“ leisten. Die Frage ist aber auch, wie wir die integrierte, multidisziplinäre Befassung zu unserem Zusammenleben in Europa – also Demografie, Mobilität, Migration, Soziales und Bildung—mit ähnlicher Ambition und ähnlicher finanzieller Ausstattung starten können wie wir dies in Fragen der Natur- und Medizinforschung tun. Wir leisten uns etwa mit Steuergeldern eine Zentrifuge in der Schweiz, das CERN, weil wir die am weitesten entferntesten und die kleinsten Teile unserer Materie kennenlernen und mit ihnen umgehen wollen; ein äquivalent ausgestattetes und anerkanntes „civic CERN“ würde uns ermöglichen, unsere Nachbarn kennenzulernen und mit ihnen umzugehen.
- Wir definieren und schützen eine digitale EU Außengrenze. Illiberale bis autoritäre Formen von Gesellschaftsordnung haben sich über den digitalen Raum längst in die EU und direkt in unserer Wohnzimmer bewegt. Wir haben es im europäischen Zusammenspiel bisher nicht geschafft, ein „europäisches Internet“ zu schaffen und zu sichern, das anders als ein „amerikanisches Internet“ und ein „chinesisches Internet“ funktioniert. Die europäische Vorstellung wäre es einerseits, die Modernisierungsgewinne der Digitalisierung zu vergemeinschaften anstatt zu privatisieren und andererseits, die Menschen- und Grundrechte konsequent im digitalen Raum zu garantieren. Europa und insbesondere die nächsten EU SpitzenpolitikerInnen sind aufgerufen, viele – jedoch bisher fragmentierte – Ansätze dahingehend zu verbinden und den digitalen europäische Raum langfristig zu gestalten. Es gilt, ein offenes Netz mit der Vorstellung von offener Gesellschaft zu bauen, zu hüten und vor Destabilisierung zu schützen.
Zusammenfassend gilt es mit Blick auf die Sicherheitspolitik zu sagen: Sie zum Primat zu erklären produziert verlässlich kurz- und langfristige, vielschichtige Kosten. Sicher ist eins: Nachlässigkeiten auf der diplomatischen, politischen und zivilen Seite sind volkswirtschaftlich und ressourcentechnisch immer teurer als es das entschiedene Primat der Gestaltungs- und Ordnungspolitik über der Sicherheitspolitik hat. Europas Herausforderung in der internationalen Lage der Zeit ist es, die Vorstellung von „Soft Power“ nicht ad acta zu legen, sondern sie in der gegenwärtigen Monopol-Lage verschiedener regionaler Ordnungsmächte ökonomisch und politisch entschieden auszubauen: Idealismus als der neue Realismus.
Die Autorin
Verena Ringler, gebürtige Tirolerin, gründete 2005 die Projektboutique „European Commons“. Sie entwickelt und realisiert Dialog- und Kooperationsprojekte mit Entscheiderinnen und Entscheidern hinsichtlich europäischer Zukunftsfragen. Von 2006 bis 2009 wirkte Ringler in einem diplomatischen Team der EU im Kosovo, zuletzt baute sie das Europacluster der deutschen Stiftung Mercator auf und aus. Sie bringt Politiker und Politikerinnen, Wirtschaftstreibende, Jugendliche und Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaft in die Begegnung oder den Dialog, um Europas Zusammenhalt und Handlungsfähigkeit zu stärken.