Die Debatte um die Wirksamkeit von Sanktionen ist längst Teil einer größeren Auseinandersetzung: Wahre PR-Schlachten, Negative Campaigning und Fake News beherrschen die internationale Politik. Die EU droht aufgrund ihres hausgemachten Kommunikationsdefizits zwischen den Fronten des Informationskrieges unterzugehen.
Sanktionen sind das meist genutzte, nicht-militärische Instrument in der jüngeren Geschichte der internationalen Politik, sieht man einmal von klassischen diplomatischen Mitteln ab. Will die EU ihren Anspruch auf wertebasierte Außenpolitik behalten, aber zugleich nicht als zahnloser Tiger verspottet werden, muss sie sich zwangsweise am Sanktionsbaukasten bedienen. Hier stellt sich allerdings eine grundsätzliche Frage: Können Sanktionen überhaupt wirksam sein? Diese Diskussion gibt es, seit es Sanktionen gibt. Nicht nur im akademischen Elfenbeinturm, auch im politisch-öffentlichen Raum gehen die Meinungen teils weit auseinander, wie das Beispiel der Russlandsanktionen zeigt: Während Schweden, Großbritannien, die baltischen Staaten, Polen, Frankreich und Deutschland die Sanktionen eher befürworten, kann man für Österreich, Ungarn, Bulgarien und Italien eine ablehnende Haltung attestieren – ganz zu schweigen von den Differenzen innerhalb der Mitgliedstaaten, ihren unterschiedlichen Parteien, Verbänden und Think Tanks.
It’s not the economy, stupid!
Ein Denkfehler, der immer wieder gemacht wird, dreht sich um die Beschaffenheit von Sanktionen: selbst wenn es sich genuin um „Wirtschaftssanktionen“ handelt, haben diese mit ökonomischen Motiven oft nichts am Hut. Die EU begreift die Sanktionen gegenüber Moskau als explizit nicht ökonomisch motiviert. Mit der Destabilisierung der Ostukraine und der Annexion der Krim sind es vielmehr politische und völkerrechtliche Hintergründe für die nun seit vier Jahren anhaltende Sanktionspolitik der EU. Wie Sabine Fischer und Janis Kluge vom Berliner Regierungs-Think Tank SWP in einer Analyse anmahnen, sollte man nicht jegliche Exportverluste als direkte Konsequenz aus Sanktionen verrechnen. Rein ökonomische Studien zur Wirksamkeit von Sanktionen sind mit Vorsicht zu genießen. Sanktionsskeptischen Studien von Wirtschaftsverbänden dienen nicht selten den Partikularinteressen von Wirtschaftsverbänden. Genauso gibt es von Seiten der Wirtschaft auch Gründe, Sanktionen zu befürworten. Etwa im Bereich der Rechtssicherheit bei Investitionen: Wer heute in Taiwan investiert, muss wissen, ob es den Inselstaat in Zukunft noch gibt, oder die Gefahr einer chinesischen Annexion besteht. Pekings Annexionspläne sind real. Den weiteren Verlauf der EU-Sanktionspolitik gegen Russland kann Chinas Entscheidung bezüglich Taiwan beeinflussen.
Sonderfall USA
Die USA nutzen ihre Sanktionsregime gegenüber dem Iran und Russland gewiss auch, um sich von beiden Wettbewerbern an den Rohstoffmärkten abzunabeln. Dabei handelt es sich aber nicht um rein wirtschaftliche Ziele: es geht auch um die Vorherrschaft in der umkämpften MENA-Region. Geopolitik kennt keine Grenzen zwischen Wirtschaft und Politik. Sanktionen sind für die USA fast ausschließlich Instrumente der geopolitischen Interessenverfolgung und kaum Bestrafungsakte grober Rechtsverstöße. Diese Diskrepanz zwischen politikorientiertem und legalistischem Sanktionsverständnis gab es schon immer. In Zeiten des Wandels sind die Auffassungsunterschiede umso größer, was Sanktionen anfälliger für verkürzte Interpretationen macht. Je stabiler das jeweilige internationale System, desto stabiler der common sense über Instrumente der Konfliktbearbeitung. In einer instabilen Welt, in der internationales Recht von allen Seiten ausgehöhlt wird, gibt es einen solchen common sense nicht. Sanktionen sind dem Wettbewerb der Narrative ausgesetzt. Will man ihn gewinnen, muss man sich von der reinen Zahlenlastigkeit in der Debatte lösen, ohne ganz auf quantitative Fakten zu verzichten.
Zeit der Geschichten: Wer hat die bessere Story?
„Politics in an information age may ultimately be about, whose story wins”. Dieser Satz stammt vom US-Politologen Joseph Nye, der sein kluges Machtkonzept um eine Stufe reicher gemacht hat: Sharp Power, eine Unterstufe der sogenannten Smart Power, ist auf dem Vormarsch. Die Einsicht, dass smarte Machtansätze in Form eines Mixes aus „soften“ (z.B. Investitionen in public diplomacy) und „harten“ Machtmitteln (z.B. die Beteiligung an Kampfeinsätzen) notwendig für das Bestehen im internationalen Wettbewerb sind, ist mittlerweile bis in alle Teile der außenpolitischen Community vorgedrungen. Joseph Nye kann sich laut eigener Aussage kaum vor Vortragsanfragen in Peking retten. Sharp Power ist wortwörtlich eine scharfe Waffe: Wer keine Skrupel vor Fake News oder Desinformationskampagnen hat, kann sie umso besser für die Diskreditierung von Kontrahenten nutzen. Man wirbt also nicht in erster Linie für die eigene Position, wie bei Soft Power, sondern unterminiert die des anderen.
Ob Sanktionen wirksam sind oder nicht, entscheiden im Informationszeitalter vor allem PR-Abteilungen und Fake News-Maschinerien. Man denke nur an die Rolle der Sankt Petersburger Trollfabrik im US-Präsidentschaftswahlkampf, in welchem die öffentliche Meinung gezielt beeinflusst wurde. Auch in der Sanktionspolitik gibt es ähnliche Ansätze des Kreml, zum Beispiel die Etablierung des Narratives, die Sanktionen würden Europa selbst mehr schaden als Russland. Neueste Forschungserkenntnisse legen zumindest für die russische Bevölkerung starke Effekte im Hinblick auf einen sogenannten Rally-around-the-flag-Effekt nahe, bei dem durch die Kreation eines äußeren Feindes Geschlossenheit im Inneren hergestellt wird. Putins Popularität scheint ungebrochen. Und auch in Teilen Europas wächst das Misstrauen hinsichtlich des gegenwärtigen Kurses der EU, wie Studien zur öffentlichen Meinung in Deutschland zu den Sanktionen zeigen. Dass jeweils die Hälfte der Befragten für und gegen die Sanktionspolitik der EU votiert, ist insofern bemerkenswert, dass es sich bei Deutschland um einen der eher verlässlichen Sanktionsbefürworter handelt. Sharp Power alleine wird jedoch nicht reichen, um langfristig erfolgreich zu sein. Die EU wird zwangsläufig ein überzeugendes Narrativ aufbauen müssen, dass sich nicht ausschließlich in der Gegnerschaft zu autokratischen Modellen erschöpft. Hierin liegt zugleich die Chance der EU. Wenn sie begreift, dass das eigene Ordnungsmodell äußerst attraktiv ist – man sehe sich nur die Migrationsbewegungen an –, dieses aber besser gegen innere und äußere Angriffe verteidigen muss, kann sie sich im globalen Wettbewerb auf lange Sicht behaupten. Man darf deshalb nicht die Signalwirkung von Sanktionen für Dritte unterschätzen und sollte sie mit einer geeigneten Kommunikationsstrategie forcieren. Warum sanktioniert die EU Russland immer noch und was wäre die Alternative? Welche Voraussetzungen gibt es für eine Aufhebung? Auf diese Fragen sollten klare Antworten gegeben und gut in den Massenmedien platziert werden. Ein grundlegendes Problem der EU ist, dass ihre Kommunikation im Grunde mit der Verkündung ihrer Beschlüsse endet. Die Problematik national ausdifferenzierter Mediensysteme kann nicht über dieses hausgemachte Defizit hinwegtäuschen.
Spiel auf Zeit: Wer hat den längeren Atem?
Noch gibt es Einigkeit bezüglich der Russlandsanktionen, wenn auch eine äußerst fragile. Aufgrund der Notwendigkeit einstimmiger Beschlüsse in der Außen- und Sicherheitspolitik der EU reicht schon ein Abweichler, um die Russlandsanktionen, die alle sechs Monate verlängert werden müssen, zu Fall zu bringen. Italien hatte bereits beim letzten Mal mit einem Veto gedroht, konnte aber noch einmal überzeugt werden. Auch aus Österreich kommen immer wieder Rufe nach einem Ende des Sanktionsregimes. Außenministerin Karin Kneissl sorgte Anfang des Jahres mit ihrem Kommentar, die Sanktionen gegen Russland hätten sich als stumpf erwiesen, für Aufregung. Die Einladung Putins zu ihrer Hochzeit sorgte für massive Kritik und hinterlässt einen faden Beigeschmack. Wie weit reicht der Arm des Kreml in die österreichische Regierung? Hinzu kommt, dass die ukrainische Perspektive mittlerweile für viele gar keine Rolle mehr zu spielen scheint. Das Land verkommt zum Spielball der Interessen anderer. Andreas Umland, der in Kiew am Euro-Atlantischen Institut forscht, warnt vor einem großen ukrainisch-russischen Krieg mit fatalen Folgen für Europa. Inwiefern die Sanktionen zu einer weiteren Eskalation beitragen oder ebendiese verhindern können, bleibt weiterhin umstritten. Gerade deshalb muss die EU ihr Möglichstes tun, um mittels eines sticks and carrots-Ansatzes ihre Position zu festigen und zugleich Moskau Gesprächsangebote zu eröffnen. Die Devise „Dialog statt Sanktionen“ ist genauso falsch wie die Hardlinerposition einer Isolation Russlands. Es braucht beides, solange sich an der Situation in der Ukraine nichts ändert. Dies erfordert eine bessere Kommunikationsstrategie. Den Informationskrieg wird man jedenfalls nicht gewinnen, wenn man die Augen vor ihm verschließt.