Im Mai hat der Irak ein neues Parlament gewählt. Die daraus hervorgegangene Koalition deutet ein Aufbrechen des Lagerdenkens an, was auch den Frauen mehr Spielraum in der Politik verschaffen könnte.
Nach den letzten Parlamentswahlen im Irak wurde ein Viertel der 328 Mandate erneut an Frauen vergeben. Dies ist nicht nur dem erfolgreichen Abschneiden der Kandidatinnen zu verdanken, sondern einer seit 2005 bestehenden gesetzlichen Quotenregelung. Der Einzug ins Parlament bedeutet für Politikerinnen daher stets auch mit dem Makel der „Quotenfrau“ behaftet zu sein. Eine Rolle, der sich viele Frauen nicht mehr fügen wollen.
Das selbstbewusste Auftreten von Politikerinnen zog im vergangenen Wahlkampf eine beispiellose Schmutzkübelkampagne ihrer Gegner nach sich. Diese erreichte ihren Tiefpunkt mit der Veröffentlichung eines Sex-Tapes, das die Politikerin Intidhar Ahmed Dschassim zeigen soll. Dschassim zog daraufhin ihre Kandidatur für das Nasr-Bündnis von Premierminister Haidar al-Abadi zurück. Viele andere Frauen ließen sich durch das misogyne Klima jedoch nicht einschüchtern.
Für Rückenwind sorgte mitunter die wiederbelebte irakische Frauenbewegung. Ihr gelang es im Vorjahr durch eine breite Protestbewegung eine umstrittene Reform des Personenstandsrechts zu verhindern. Diese hätte drastische Verschlechterungen für Frauen zur Folge gehabt, wie z.B. das Recht des Mannes auf Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung seiner Ehefrau (d.h. ein Recht auf Vergewaltigung in der Ehe) oder die Herabsetzung des Heiratsalters für Mädchen auf neun Jahre. Ganz allgemein sah der Gesetzesentwurf vor, dass die Gerichte bei Fragen zum Personenstand der religiösen Rechtsprechung folgen müssen – nach schiitischer oder sunnitischer Konfession differenziert. Vorstöße für solch eine Islamisierung des Personenstandsgesetzes gibt es seit 2004. Diese werden interessanterweise nicht vom schiitischen Klerus vorangetrieben, sondern von den konservativen schiitischen Fraktionen im Parlament.
Chancen durch al-Sadr?
Der unerwartete Wahlsieger war bekanntlich der schiitische Kleriker Muqtada al-Sadr. Al-Sadrs Sairun-Liste verkörperte vieles, das den politischen Status-quo infrage stellt. Daraus erklärt sich auch ihr Erfolg. Mit einem Wahlkampf, der das Problem der grassierenden Korruption ganz oben auf die Tagesordnung setzte und zudem die konfessionelle Spaltung von Politik und Gesellschaft kritisierte, gelang es Sairun die Unzufriedenheit vieler IrakerInnen zu kanalisieren. Eine Unzufriedenheit, die sich auch in der äußerst geringen Wahlbeteiligung von 44,5 Prozent niederschlug. Dennoch ist der Erfolg Sairuns bemerkenswert, zumal es sich um eine ungewöhnliche Allianz aus Islamisten, Kommunisten und kleineren nationalistischen Gruppen handelte.
Infolge des Chaos nach den Wahlfälschungsvorwürfen und ganz offenen Drohungen Teherans und der pro-iranischen Parteien kam es auch im Sairun Bündnis zum Konflikt zwischen religiösen und linken Kräften. Konkret ging es in al-Sadrs Ankündigung doch mit dem pro-iranischen Lager zusammenzuarbeiten. Doch aus frauenpolitischer Perspektive bleibt dieses politische Experiment interessant: Es zeigt die Risse im schiitischen Establishment auf. Muqtada al-Sadr vertritt eine nationalistische Agenda, die sich stark gegen den Einfluss Teherans richtet. Wohingegen eine Reihe schiitischer Politiker, allen voran der Milizenführer Hadi al-Ameri, eine klar pro-iranische Agenda vertreten. Mit dem Aufbrechen des religiösen Lagerdenkens verlieren Kategorien wie Sunnit oder Schiit jedoch allmählich an Bedeutung. Dies ist wiederum im Sinne vieler Frauen, da es eine langsame Verdrängung von Religion in der Politik in Gang setzen könnte.
Das gute Abschneiden der Sairun-Liste konnte darüberhinaus das Kräfteverhältnis im Parlament zugunsten säkularer Parteien verbessern. Auch die Kommunistische Partei konnte starke Gewinne verzeichnen. Sie ist mit Kandidatinnen angetreten, die sich in keine Schublade – sei sie westlich oder nahöstlich – pressen lassen. Die Lehrerin und Frauenrechtlerin Suhad al-Khatib war eine davon. Sie hatte vor allem die soziale Frage ins Zentrum ihres Wahlkampfes gerückt und war damit in der konservativen Pilgerstadt Nadschaf höchst erfolgreich. Die Kommunistin Haifa al-Amin konnte diesmal ins Parlament einziehen. Sie löste eine Kontroverse aus, da sie den Hidschab verweigert und bereits 2014 gegen ihren islamisch-konservativen Bruder in Nassiriyah angetreten ist. Von Quotenfrauen kann hier also keineswegs die Rede sein.
Der Irak kann auf eine traditionsreiche Frauenbewegung zurückblicken. Von den Engagements der ersten Welle irakischer Feministinnen, die in den 40ern und 50ern um eine Reform des Personenstandsrechts und allgemeine politische Besserstellung von Frauen kämpften, zur zweiten Welle in den 70ern, die den Fokus auf Bildung und Arbeit legte. Frauen unterschiedlichen ideologischen Zuschnitts waren stets Bestandteil des politischen Lebens. In Zeiten des Aufbruchs unterstützen sie tatkräftig Alphabetisierungskampagnen, in Zeiten des Regresses wurden wiederum die Stimmen derer lauter, welche die erzkonservativen Vorstellungen des politischen Establishments am besten repräsentierten.
Derzeit scheint sich der Irak wieder einmal auf einem Scheideweg zu befinden. Nach schwierigen Verhandlungen einigten sich das Sairun-Bündis, die Nasr-Liste von Ministerpräsident Haidar al-Abadi, die konservativen Schiiten von Al-Hikma und das eher säkular-nationale Bündnis Al-Wataniya auf eine Regierungsbildung. Doch so wie bisher kann es nicht weitergehen. Davon können gerade Frauen ein Lied singen. Vor allem die wiederkehrenden Gewaltzyklen haben den Irak aus geschlechtspolitischer Sicht um Jahrzehnte zurückgeworfen und viele Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zunichte gemacht – wie etwa die stets wiederkehrende Debatte ums Personenstandsrecht zeigt. Auch aktuell wäre eine erneute Gewalteskalation für die irakische Frauenbewegung fatal. Kein Wunder: Schließlich ist es die Unsicherheit, die Frauen aus dem öffentlichen Raum verdrängt und sie wieder zu Gefangenen in den eigenen vier Wänden macht.