Shabka hat den Politikwissenschaftler Bassil Salloukh in Beirut getroffen, um mit ihm über die Wahlen im Libanon, die Flüchtlingsfrage und eine mögliche Ausweitung des iranisch-israelischen Konfliktes auf den Libanon zu sprechen.
Das neue Wahlgesetz im Libanon hat die Wahlen nicht unbedingt gerechter aber komplizierter gemacht. Resultiert daraus die niedrige Wahlbeteiligung von nur knapp 50 Prozent?
Viele aus der Mittelklasse, gut ausgebildet und säkular ausgerichtet, erwarten nicht mehr viel von der Politik. Sie haben genug von Korruption, Konfessionalismus und der schlechten ökonomischen Lage und gingen daher nicht zur Wahl. Eine Wahlbeteiligung von fast 50 Prozent zeigt jedoch, dass viele es immer noch für sinnvoll halten, ihre Stimme abzugeben. Diese Wähler haben hauptsächlich entlang konfessioneller Linien gewählt. Der größte Verlierer der Wahlen war die Zivilgesellschaft. Seit Jahren haben unabhängige Parteien ein neues Wahlgesetzt gefordert, um besser repräsentiert zu sein. Doch das ist beim neuen Wahlgesetz nicht der Fall. Es wurde von den etablierten Parteien entworfen, um sicher zu stellen, dass sie ihre Machtposition auch bei den Wahlen im Mai zementieren konnten.
Bei den Wahlen 2009 standen sich zwei Blöcke gegenüber. Ein Bündnis von westlich orientierten Parteien unter Führung von Saad al-Hariri und ein pro-syrisches Bündnis mit Hisbollah, Amal und Verbündeten. Spielten diese Blöcke auch bei den Wahlen 2018 eine dominierende Rolle?
Bei libanesischen Wahlen ging es immer darum, Allianzen zu schließen, um Sitze im Parlament zu gewinnen. Nicht, weil man gemeinsam ein bestimmtes politisches Programm verfolgen wollte. Das war auch bei den Wahlen im Mai nicht anders. Doch wo 2009 die zwei politischen Blöcke in jedem Wahlbezirk miteinander konkurrierten, gab es diesmal, abhängig von den Wahlbezirken, Allianzen über die ehemaligen Blockgrenzen hinweg. In der westlichen Bekaa etwa ging das christliche Free Patriotic Movement (FPM) eine Allianz mit Amal und Hisbollah gegen das Future Movement ein. In Zahlé hingegen eine Allianz mit dem Future Movement gegen Amal und Hisbollah. Daher sage ich, dass die Grenzen zwischen den Blöcken verschwimmen, die binäre Betrachtungsweise ist nicht mehr aktuell. Die Parteien stimmen in der einen Sache überein, aber bei einem anderen Thema sind sie sich nicht einig.
Es gab Befürchtungen, dass der Krieg in Syrien die Sunniten im Libanon radikalisieren könnte. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Die Hisbollah hat Al-Nusra aus dem Libanon vertrieben, das syrische Regime hat diese Gruppen auf der anderen Seite der Grenze besiegt. Es stimmt, dass extremistische Organisationen in manchen palästinensischen Camps immer noch präsent sind. Aber das waren sie bereits vor dem Syrienkrieg. In den Camps werden sie von anderen politischen Gruppen, wie etwa der Fattah, unter Kontrolle gehalten. Der libanesische Militärgeheimdienst hat gute Beziehungen zu Fattah und Hamas, die kooperieren und beobachten radikale Gruppen in den Camps. Das Problem bleibt daher auf die Camps reduziert.
Mit Blick auf die Wahlen würde ich das Wahlverhalten der sunnitischen Libanesen als sehr moderat bezeichnen. Egal ob in Tripoli, Beirut, Saida, oder der Bekaa – der radikale Diskurs hat die Wähler nicht angesprochen. In Tripoli etwa, [Anm.: eine sunnitische Hochburg], hat jener Kandidat, der sich als radikaler Gegner der Hisbollah gab, verloren. Während ein anderer, der sich als moderater Sunnit präsentierte, gewonnen hat. In Beirut hat Saad al-Hariri in den letzten Wochen vor der Wahl einen sehr konfessionell geprägten Diskurs begonnen – ohne Erfolg. Das sagt uns, dass die Sunniten keine radikale Wählerschaft sind.
Im April wurde vom syrischen Regime ein Gesetz verabschiedet, wonach Immobilien, die nicht innerhalb einer Frist von vier Wochen durch die Eigentümer registriert werden, an den Staat fallen. Viele, die ins Ausland geflüchtet sind, werden dem nicht nachkommen können und riskieren ihre Lebensgrundlage in Syrien zu verlieren. Kann das für den Libanon bedeuten, dass syrische Flüchtlinge auf lange Zeit im Land bleiben?
Die Verabschiedung dieses Gesetzes hat große Aufregung im Libanon erzeugt. Vor allem bei christlichen Parteien, die fragten, ob das der Beginn eines dauerhaften Verbleibs von Syrern im Libanon sei. Das neue Kabinett wird sich jedenfalls mit diesem Thema auseinandersetzen müssen. Ob es den Syrern im Libanon wie den Palästinensern ergehen könnte? Ich glaube nicht. Der Libanon kann 1,5 Millionen Flüchtlinge nicht auf Dauer aufnehmen. Die libanesische Regierung wird daher mit dem syrischen Regime verhandeln müssen. Es gibt Stimmen, die sagen, wenn die syrischen Flüchtlinge nicht zurück nach Syrien gehen und die internationale Gemeinschaft den Libanon ökonomisch nicht unterstützt, dann schicken wir sie weiter nach Europa. Sie könnten also als Faustpfand bei Verhandlungen eingesetzt werden, wie es die Türkei und Jordanien gemacht haben. Premier Saad al-Hariri hat bisher alle Verhandlungen mit dem syrischen Regime bezüglich der Flüchtlingsfrage abgelehnt. Ich denke daher, es braucht einen neuen Anlauf. Es gibt das Argument im Libanon, dass viele Orte in Syrien wieder sicher seien und die Flüchtlinge dorthin zurück gehen können. Wir werden sehen, wie die Regierung das löst.
Aktuelle Ereignisse in Syrien deuten darauf hin, dass der Konflikt zwischen dem Iran und Israel eskalieren könnte. Was würde das für den Libanon bedeuten?
Es gibt dazu zwei Sichtweisen: Die einen sagen, dass wir uns auf eine große Konfrontation hinbewegen. Eine, die auch den Libanon betreffen könnte. Andere vertreten die Ansicht, was in Syrien passiert, bleibt auf Syrien beschränkt. Sie gehen davon aus, dass die regionalen und internationalen Akteure, die in den Syrienkrieg involviert sind, eine Ausweitung des Konflikts auf andere Regionen verhindern werden. Ich denke, es kommt bei einer Analyse auch darauf an, wie man Iran sieht. Ist Iran ein Land, das seine Macht in der Region ausbauen möchte, oder will es seine Interessen in der Region verteidigen? Ich sehe Iran eher als Land, das seine Interessen verteidigen möchte. Unabhängig davon ist der iranische Staat ein rationaler Akteur. Die iranische Regierung weiß, dass mit einem neuen Krieg viel am Spiel steht. Daher glaube ich, die Akteure werden sich darauf verständigen, die Konfrontation auf Syrien zu beschränken. Interessant ist, dass die Raketen, die im Mai von iranischen Truppen in Syrien Richtung Israel abgefeuert wurden, die Golan-Höhen trafen und nicht etwa Tel Aviv. Es waren also, aus Sicht des Iran, der Hisbollah und des syrischen Regimes, Raketen von Syrien nach Syrien. Denn sie sehen die Golan-Höhen ja als von Israel besetzte Gebiete an. Es ist davon auszugehen, dass die israelische Armee diese Symbolik versteht. Wichtig in diesem Zusammenhang ist außerdem die Rolle Russlands. Russland ist in Syrien präsent und Freund der Iraner, der Türken, der Israelis, des syrischen Regimes und koordiniert sich mit den USA. Ich glaube daher, Russland ist in der Lage den Konflikt einzugrenzen und dafür zu sorgen, dass diese Eskalation nicht außer Kontrolle gerät. Am Ende des Tages werden die Großmächte entscheiden, was in Syrien geschieht, nicht regionale Mächte, wie der Libanon.
Zur Person:
Bassel Salloukh (@bassel67) ist Professor für Politikwissenschaft and der Libanesisch Amerikanischen University (LAU) in Beirut.