Der Sammelband Der (Alb)Traum vom Kalifat zeigt die vielen Facetten der Radikalisierung im Zusammenhang mit dem politischen Islam auf. Dabei fokussiert das Buch nicht zu stark auf den Islamischen Staat – der in aller Munde ist –, sondern denkt viele andere Stränge mit und zeigt die geografische Vielfalt des Phänomens auf.
Der (Alb)Traum vom Kalifat, Herausgegeben von Jasmina Rupp, MENA-Expertin am IFK in Wien, bietet einen vertiefenden Einblick in eine Thematik, die oft unreflektiert diskutiert wird und über die medial meist sehr polarisierend berichtet wird. Diese problematische Unausgewogenheit sucht der Band durch Einblicke in mehrere länderspezifische Erfahrungen zu erhellen. Klar wird dabei, dass weltweit viele Konflikte in und um den politischen Islam aus einem speziellen Verhältnis zwischen Staat und Religion erwachsen und deshalb – in weiterer Folge – wahrscheinlich im Zentrum von Friedensbemühungen stehen werden.
Basiswissen reloaded
Ein wesentlicher Teil des Bandes widmet sich den Grundlagen für die vielfachen Konflikte. So werden einerseits einige der komplexen Zusammenhänge, Unterscheide und Gegensätze angerissen, die hinter diesen Konflikten stehen und andererseits ideengeschichtliche Ansätze, Begriffsklärungen sowie wichtige historische Eckpunkte in einen Kontext gerückt. Dies ist deshalb ein wichtiger Beitrag zur gegenwärtigen monolithischen Debatte über den Islam, weil es sie mit Fakten und Hintergründen anreichert und damit für ein tieferes Verständnis der politischen Dynamiken sorgt.
Wesentlich ist dabei auch, dass die virtuelle Dimension des gegenwärtigen internationalen Dschihadismus und ihre Verwebung mit Legitimationsmustern aufgezeigt wird, wie es z. B. Nico Prucha tut. In seinem Ansatz verläuft die Grenze zwischen Religion, Propaganda und politischer Indoktrinierung fließend und macht die KonsumentInnen des Online-Jihad zu potenziellen Radikalisierten. Der Islamische Staat stellt für ihn dahingehend die „ultimative Fusion des virtuellen Raums mit echtem Territorium dar.“ Damit postuliert er einen wichtigen Ausgangspunkt für eine vertiefende Beschäftigung mit dem Phänomen.
Andere Länder, andere …
Die Untersuchung verschiedener Länderbeispiele von Marokko bis Indonesien und Nigeria bis Bosnien und Herzegowina macht die mannigfaltigen Dimensionen und damit einhergehende Komplexität des Themas klar. Politischer Islam wird einerseits nirgendwo gleich gelebt woraus andererseits resultiert, dass die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Eigenheiten in den jeweiligen Ländern keine einheitliche Bewältigung der damit verbundenen Herausforderungen möglich machen. Indes bietet Der (Alb)Traum vom Kalifat Bilder der inneren Verfasstheit von im Dschihad-Diskurs oft nur marginal thematisierten Ländern (wie z. B. Marokko oder Indonesien). Ganz zentral werden dabei immer wieder die Fragen nach dem (historischen) Verhältnis von Staat und Religion sowie der ambivalenten Rolle von Religionen in Staatsbildungsprozessen angesprochen. Dadurch wird verdeutlicht, wie sehr die internationale, von sicherheitspolitischen Überlegungen geprägte Bekämpfung der Ursachen von Radikalisierungsprozessen zu kurz greift. Denn vieles, das auf den ersten Blick oft ideologisch oder religiös wirkt, ist in Wirklichkeit sozialer Natur.
Wenn man ob der Breite der Fallstudien, die im Band vorliegen, einen Wunsch äußern dürfte, so wäre lediglich eine ausgewogenere Darstellung der Konflikte in Syrien und im Irak von Vorteil. Vor dem Hintergrund, dass es sich dabei um ganz wesentliche Schauplätze des internationalen Dschihadismus handelt, hätte ein kritisch-analytischer Abriss des Konfliktherdes „Sy-raq“ den vorliegenden Band nur noch besser gemacht.
Einblicke in Deradikalisierung und Prävention
Darauf aufbauend sind die Darstellungen von Fallbeispielen sehr interessant und könnten sogar mehr sein, um die sozialen Zusammenhänge von Radikalisierung besser zu verstehen. In vielerlei Hinsicht ein Sonderfall im Buch ist der Beitrag von Thomas Schmidinger, der sich mit Strategien gegen dschihadistischen Fanatismus auseinandersetzt. Mit Nachdruck macht sein Versuch, einen Einblick in die österreichische Deradikalisierungs- und Präventionslandschaft zu geben, deutlich, wie angespannt und umkämpft diese ist. Alleine die zwar lobenswerte aber überbordende Verortung seiner Person als jemand, der in diese Arbeit unmittelbar eingebunden ist und deshalb keinen externen Beobachter darstellen kann, lässt dies erkennen. Ob der wenigen Einblicke, die man in die österreichische Deradikalisierungs- und Präventionsszene hat, hätte etwas weniger „Ich“ mehr Platz für die eigentliche Sache übriggelassen.
Dennoch ist sein Einblick gerade deshalb vielsagend: Er beschreibt eine struktur-konservative, fragmentierte Szene, in der so viele „Wahrheiten“ herumschwirren, dass eine Strategie dahinter nur schwer erkennbar ist. Die Beiträge von Moussa al-Hassan Diaw, Rüdiger Lohlker und im Entferntesten auch der von Barbara EA Korte, verdichten den Eindruck über die möglichen Wege aus der Radikalität jedoch und runden ihn ab, wodurch klar wird, dass entlang mehrerer Ebenen mit Hochdruck an der Delegitimierung der dschihadistischen Ideologie gearbeitet werden kann. Lohlker zeigt dahingehend einen „gesunden“ Umgang mit Radikalität auf, indem er neben Deradikalisierung den Begriff Disengegement ins Spiel bringt. Bei Disengegement geht es darum, in Gegenstrategien nach pragmatischen Zielen zu suchen, die nicht nur auf ideologischer Ebene stattfinden können. Daneben scheint die Einbindung zivilgesellschaftlicher Initiativen notwendig.
Gegenmittel gegen gefährlich flache Debatten
Nur durch die Beleuchtung der unterschiedlichen Facetten des politischen Islam versteht man die Zusammenhänge für die aktuellen Ereignisse. Dieser Aufgabe haben sich im vorliegenden Band ausgewiesene Experten aus den Bereichen Konfliktforschung, Islamwissenschaft, Theologie, Pädagogik und Psychologie angenommen. Das Ergebnis sind vielseitige Impulse zur Bestimmung und Bewältigung der Herausforderungen, die mit Radikalisierung im politischen Islam einhergehen.
Damit leistet der vorliegende Band einen wichtigen Beitrag zur Verbreiterung des Diskurses über Dschihadismus. Es ist sogar so, dass die inhaltliche Spannweite verdeutlicht, wie weit man (geografisch und inhaltlich) gehen kann und noch immer mitten im Thema ist. Dieser Umstand kann durchaus auch ein bisschen als Warnung gelesen werden, denn ein schwarz-weißer Zugang, um den Herausforderungen im Sog des internationalen Dschihadismus zu begegnen, dürfte mit Sicherheit zu kurz greifen. Der (Alb)Traum vom Kalifat präsentiert sich als entscheidende Grundlage und stellt sich damit gegen eine zunehmend verflachte Debatte.
Jasmina Rupp (Hg.):
Der (Alb)Traum vom Kalifat. Ursache und Wirkung von Radikalisierung im politischen Islam
Böhlau Verlag, Wien 2016, 250 Seiten, 35,00 €