Der Untertitel des Sammelbandes ist Quintessenz der zehn Berichte und Analysen: Der Irak ist seit der US-Invasion im Jahr 2003 in Auflösung begriffen.
Soweit nichts Neues. Allerdings gelingt es den AutorInnen, die an diesem Band unter der Herausgeberschaft von Tyma Kraitt mitgewirkt haben, ein detailliertes Bild jener Ereignisse und Entwicklungen zu zeichnen, die das Land und seine Bevölkerung dorthin geführt haben, wo es heute steht.
Die aktuellen Ereignisse rund um die Mosul-Offensive beleuchtet das Buch, das bereits im März 2015 erschienen ist, freilich nicht. Damals waren Mosul und große Teile des Irak noch fest in der Hand des „Islamischen Staates“. Viele bezweifelten schon damals die Lebensfähigkeit des multi-religiösen Irak an. Es sah so aus, als könnte das Land entlang ethnisch-religiöser Bruchlinien zerbrechen. Wie die Herausgeberin Kraitt schreibt, hegte sie während der Arbeit am Buch Befürchtungen, der Irak könnte als Staat nicht mehr existieren, wenn das Buch erst einmal in den Läden zu kaufen ist. Nun, der Irak existiert noch. Die irakische Armee, ethnisch und religiös definierte Milizen und die Kurden scheinen durch ihr gemeinsames Vorgehend gegen den „Islamischen Staat“ vorerst geeint.
Vorerst. Denn welche Ziele werden die einzelnen Gruppen verfolgen, wenn der gemeinsame Feind militärisch besiegt sein wird? Es ist zu befürchten, dass der Untertitel „Ein Staat zerfällt“ aktuell bleibt.
Das Cover des Buches, eine auseinanderbrechende Pipeline, steht symbolisch für dieses Zerfallen. Aber auch für das Erdöl, das einerseits Quelle großen Reichtums ist, andererseits die Begehrlichkeiten ausländischer Mächte weckte, gipfelnd in der US-Invasion von 2003. Entsprechend präsent ist neben Themen wie Frauenrechte, Kurden, Wasser und „kulturelle Säuberungen“ auch das Thema Erdöl.
ExpertInnen aus den Bereichen Arabistik, Journalismus, Kultur- und Sozialanthropologie, Ökologie, Politikwissenschaft und Friedensforschung beleuchten die Auswirkungen dieser Invasion. An der multi-disziplinären Rückschau und Analyse liegt auch der Gewinn des Buches: Die LeserInnen erhalten wertvolles Rüstzeug an die Hand, um aktuelle und zukünftige Ereignisse und Entwicklungen zu verstehen und einordnen zu können.
Freilich, manche Überlegungen wirken überholt. Etwa jene, wonach der Westen sich langfristig wegen des Erdöls und zur Sicherung der Pipelines mit einem „Islamischen Staat“ einigen könnte.
Bei anderen Betrachtungen hätte man sich gewünscht, dass der Autor etwas weiter in der Geschichte zurück geht, um dem Ausmaß des Phänomens gerecht zu werden. So setzte die Zerstörung kulturellen Erbes im Irak nicht erst mit der US-Invasion ein. Auch unter Saddam Hussain hat die irakische Regierung massiv archäologische Stätten beschädigt und zerstört.
Das ändert aber nichts am positiven Gesamteindruck, den das Buch hinterlässt. Auch deshalb, weil es sich nicht mit LeserInnenmagneten wie etwa dem Thema „Islamischer Staat“ zufrieden gibt, sondern Hintergründe liefert, ohne an aktuellen Ereignissen vorbei zu schreiben.
So lassen die Berichte und Analysen letztendlich besser verstehen, warum die vielfach von außen angestoßenen Entwicklungen zuerst Al-Qaida im Irak (AQI), später dem „Islamischen Staat“ den Weg bereiteten. Die interessierten LeserInnen könnten also bestens vorbereitet direkt mit Speziallektüre zum „Islamischen Staat“ wie „Die schwarze Macht“ (Christoph Reuter) oder „Inside the Army of Terror“ (Michael Weiss) anschließen.
Wohin der Irak sich zukünftig bewegt, bleibt ungewiss. Die Autorin Liselotte Abid bringt es auf den Punkt:
… mit oder ohne Föderalismus – die immer wieder beschworene „Nationale Einheit“ wird nach dem Ausgang der Kämpfe gegen den IS nur durch generell forcierten Wiederaufbau und Durchsetzung gleicher Bürgerrechte für alle ethnischen, religiösen und kulturellen Gruppen stabilisiert werden können.
Bis dahin und darüber hinaus bleibt das Buch Empfehlung für alle, die sich jenseits einer schnellen Berichterstattung tiefer gehend mit dem Irak befassen wollen.
Tyma Kraitt (Hg.):
Irak: Ein Staat zerfällt. Hintergründe, Analysen, Berichte.
Promedia Verlag, Wien 2015, 224 Seiten. 17,90 €