Iran: Zwischen Stillstand und Bewegung

Ein politischer Reisebericht über soziale Spannungen, den Wünschen nach Stabilität und weshalb der Teufel auch in Persien Prada trägt: In Iran ist vieles in Bewegung, während anders im Stillstand verharrt.

Sozialer Frust: Es knistert in der Bevölkerung

„Look at the donkey king“, schreit mir Ramin ins Gesicht, während wir ein Propagandaposter der Revolutionsführer passieren. Der inszenierte Personenkult ist allgegenwärtig: Überall hängen Bilder eines grimmig dreinblickenden, kämpferischen Rohollah Khomeini neben seinem Nachfolger Ali Chamenei. Das Sujet des derzeitigen obersten Geistlichen wirkt verständnisvoller und gütiger als das seines Vorgängers. Selbst ein leichtes Grinsen vermag der genaue Beobachter zu vernehmen. Die Sprache der Bilder ist klar: Einst der Revolutionär, der die Volksmassen vom neoabsolutistischen Schah-Regime befreite, jetzt der verwaltende Hüter der Revolution, ein geistiger Führer mit barmherzigem Weitblick und gleichwohl einer dogmatischen Rechtschaffenheit. Ramins Finger drehen sich beim Anblick der Bilder über dem Kopf und zeichnen einen imaginären Turban. „Brain on holiday! Look, Look!“ Der gasbetriebene Subaru des pensionierten Installateurs schlängelt sich einen Gebirgspass parallel zur Chalus Moutain Road entlang, die – beeindruckend wie prestigeträchtig – Teheran mit der kaspischen Küste verbindet.

Ikone der Revolution: Bildnisse Ruhollah Khomeinis sind allgegenwärtig. Bild: © Markus Pfanner
Ikone der Revolution: Bildnisse Ruhollah Khomeinis sind allgegenwärtig. Bild: © Markus Pfanner

Viel hat man in dieser Gegend nicht übrig für „die Mullahs“. Die geistlichen Führer revoltierten im Jahr 1979 gegen das vom Westen gestützte, auto- wie kleptokratische Regime der Pahlavi-Dynastie. Die Kleriker konnten geschickt ein Machtvakuum für sich beanspruchen. Jegliche andere soziale Kraft wurde seit dem C.I.A. – gestützten Putsch gegen Mohammad Mossadegh ausgeschalten, dies gilt besonders auch für die iranische Linke. Übrig blieben ein dem Westen höriger Adel und ein Klerus, dessen radikale Vertreter Ende der 1970er-Jahre die Gunst der Stunde nutzten. Die schiitischen Revolutionäre rund um Ruhollah Khomeini etablierten eine theokratische wie (schein-) demokratische Ordnung, die auf göttlichem Recht sowie vereinzelter Mitbestimmung des Volkes basiert. Die Revolution 1979 ist nicht nur geopolitisch die Zäsur schlechthin, auch innerhalb der iranischen Gesellschaft war sie ein Schlüsselereignis. Die „Befreier des Volkes“ erlösten die Perserinnen und Perser zwar vom Schah-Regime und seinem gefürchteten Geheimdienst SAVAK, führten aber einen strengen religiös-moralischen Kodex ein und setzen ebenso auf „Säuberungsaktionen“, Überwachung und Repression. Ein Regime wurde von einem anderen abgelöst, Revolutionen sind von Zeit zu Zeit nicht revolutionär, sondern Rochaden an den Machthebeln einer Gesellschaft.

Gedanken an die „revolutionäre“ Vergangenheit, die Befreiung des Volkes, scheint in der Gegend zwischen Chalous, Rasht und Teheran niemand zu verschwenden, im Gegenteil. Hier, an der immergrünen Nordseite des Alborz-Gebirges, ist Schah-Kernland. Wie die iranischen Eliten seit eh und je residierte auch der Alleinherrscher Reza Pahlavi im Sommer an der kühlen kaspischen See, jetzt tun dies die Mullahs.

Eine Imbissbude nahe Nowshar am Kaspischen Meer: „Ihr Österreicher müsst doch wissen, wie das ist. Ihr hattet Hitler und trotzdem seid ihr gute Menschen. So ist das auch bei uns. Iran ist kein böses Land, wir sind keine bösen Menschen. Verbreitet das in Europa!“, wird uns hinter vorgehaltener Hand erzählt – bestimmte Beleidigungen, besonders gegen die Revolutionsführer, stehen unter Strafe. Vergleiche der Ayatollahs mit Hitler bzw. der NS-Herrschaft begegnen uns oft.

Vielen Menschen kann man den Frust nicht verübeln. Die Liste der Menschenrechtsverletzungen ist lang. Oppositionelle Gruppierungen zu verfolgen, hatte bereits vor der Revolution eine gewisse Tradition, nicht zuletzt auch die kommunistische Tudeh-Partei, die mit US-amerikanischer Unterstützung bekämpft wurde.

Die Medien Irans sind gleichgeschalten, das Internet zensiert. Facebook ist verboten, die Homepages gewisser ausländischer Medien ebenso. Diese Beschränkungen zu umgehen, ist Iranerinnen und Iranern jedoch ein Leichtes: Mittels App lassen sich sämtliche Online-Dienste problemlos abrufen. Wie weit klassische Zensur in heutigen Zeiten noch greift, ist fraglich.

Iran führt nach China  zudem die meisten Todesstrafen aus, gefolgt von Saudi Arabien, Irak und den USA. Besonders Vergehen im Bereich der grassierenden Drogenproblematik des Landes enden häufig mit einer Exekution.

Frauen werden systematisch unterdrückt, ihre strukturelle und politische Benachteiligung ist vielen Iranerinnen ein Dorn im Auge. Die Frage des Kopftuches – im kulturalistischen Westen der Signifikant für Unterdrückung schlechthin – spielt eine untergeordnete Rolle. Während „anständige“ Iranerinnen zum Tschador greifen, dem mehr oder weniger empfohlenen Dress-Code und Symbol für traditionelle Werte, halten es besonders junge, urbane Iranerinnen anders: Der Schleier hängt legere auf dem Kopf und droht jederzeit verloren zu gehen.  Eine Rüge der Sittenwächter nehmen sie durchaus in Kauf, das Kopftuch ist (populär-)kulturelles Mittel zum Zweck, Zeichen für Anpassung und Widerstand gleichermaßen. Vielmehr als Kleidungsvorschriften beschäftigen Iranerinnen Forderungen nach Gleichberechtigung, Zugang zum Arbeitsmarkt sowie soziale Fragen. Kontakte mit Frauen auf offener Straße sind selten, wenngleich viele Iranerinnen und Iraner westlichen Reisenden äußerst aufgeschlossen, hilfsbereit und einladend entgegenkommen. Die Frage, wie uns Iran denn gefalle, beantworten wir – freilich und ehrlich – stets mit einem „Sehr Gut“. Eine Resonanz, die bei den meisten zufriedene Blicke hervorruft. Eine junge, progressive Perserin reagiert auf unsere Antwort mit Unverständnis. Ihr perfektes Englisch weist uns zunächst den Weg zu einer Teheraner U-Bahn-Station, bevor sie eine Hasstirade anstimmt: Sie verstehe nicht, wie man in dieses Land reisen könne. Aus ihrer Unzufriedenheit macht sie keinen Hehl und meint öffentlich wie lautstark, die Regierung ihres Landes sei „zum Kotzen“. Ein männlicher Passant beobachtet den offensichtlichen Wutausbruch der enttäuschten Frau und reagiert prompt: Mit eindeutigen Gesten und in gebrochenem Englisch erklärt er uns, welche Bedürfnisse dieser Frau seines Erachtens nicht befriedigt würden. Dieser Zwischenfall steht sinnbildlich für ein Dilemma in der iranischen Gesellschaft. Frauen werden strukturell wie politisch benachteiligt. Gleichzeitig sind viele, besonders junge, urbane Iranerinnen bestens gebildet. Sie fordern ihren Platz in einer Gesellschaft, die auf „Humankapital“ angewiesen ist. Bildung erscheint vielen ein Mittel zur Überwindung patriarchaler Verhältnisse. Und obwohl sie immer wichtiger für das Gemeinwesen werden – 70% aller Universitätsabsolventen im Bereich Technik sind Frauen –, bleiben dogmatische und politische Mauern bestehen.

Stabilität und kultureller Widerstand: Die Trümpfe des Regimes

Unterstützerinnen und Unterstützer findet die iranische Regierung dennoch zahlreiche, besonders in den ärmeren Vierteln Teherans und am Land, hier vor allem im Süden. Allerdings sind dies nicht nur „Ungebildete“ und „Verblendete“, sondern auch etablierte, gut ausgebildete Konservative, die den Herrschenden Irans ihre Loyalität erweisen. Die Ablehnung des hedonistischen westlichen Konsummodells eint jene Kräfte, die sowohl Universitätsprofessorinnen, Ingenieurinnen als auch Arbeiterinnen und Arbeiter umfassen. Dies nicht umsonst, denn Iran ist  einerseits ein vollständig durchkapitalisiertes Land. Andererseits gilt es, eben jenen “schädlichen Einfluss” vonseiten der Ultrakonservativen zu minimieren. Es mangelt den Herrschenden keineswegs an Rückhalt aus bestimmten Teilen der Bevölkerung.

Die politische Stimmung des Bazars ist gewichtig. Bild: © Christoph Winter
Die politische Stimmung des Bazars ist gewichtig. Bild: © Christoph Winter

Sicherheit und Stabilität sind der zweite Trumpf in den Händen der Herrschenden: „Schau dich einmal um. Wir sind eine Insel der Seligen in einem Meer aus Konflikten. Wohin man blickt, überall ist Krieg. Afghanistan, Irak, Syrien. Nicht alles ist gut bei uns. Aber hier gibt es eine funktionierende Gesellschaft und kein Schlachten, kein Terror. In Brüssel lebt man gefährlicher als in Teheran“, erzählt Mostafa, Betreiber eines Elektrogeschäftes. Die Stimmung des Bazars wiegt politisch viel in Iran. Gerade aus diesem sozialen Milieu begegnen uns unterschiedlichste Positionen, von Ablehnung bis Zustimmung gegenüber der aktuellen Lage. Viele sind ob der Atomgespräche und der Aufhebung der Sanktionen anfangs euphorisch gewesen, nunmehr aber ernüchtert. Der schnelle Wohlstand, die Goldgräberstimmung und die Öffnung des Landes haben den hiesigen Wirtschaftstreibenden bis dato wenig Vorteile gebracht. Gerade aber angesichts der Lage in angrenzenden Ländern, etwa Türkei, Syrien, Irak oder Afghanistan loben viele die Stabilität Irans: Ob der Blutzoll für eine weitere „Befreiung“ nicht zu hoch sei und man wohl besser täte, sich einfach mit der Situation abzufinden, beschäftigt dieser Tage viele unserer Gesprächspartner.

Beschauliches Ambiente in einem Park Teherans: Politische Stabilität ist Trumpf. Bild: © Christoph Winter
Beschauliches Ambiente in einem Park Teherans: Politische Stabilität ist Trumpf. Bild: © Christoph Winter

Money Rules: Der Teufel trägt auch in Persien Prada

Die Wandmalereien an der ehemaligen amerikanischen Botschaft erzählen vom Sieg der Revolution gegen den „großen Satan“ USA. Auf den Straßen Teherans herrscht jedoch ein anderes Bild. Zwar beugt sich das Land nach wie vor nur widerspenstig der überheblichen Diktion des Westens.

Bild: © Markus Pfanner
Bild: © Markus Pfanner

Die kapitalistischen Zentren des Landes jedoch scheinen den Kulturkampf gegen das Modell Konsumismus längst verloren zu haben: Der Teufel trägt auch in Persien Prada. Die Straßen Teherans sind gesäumt von Boutiquen mit internationalen Produkten sowohl der Schwarzmarkt als auch die Fälscher-Industrie blühten während der Sanktionen. Fast-Food-Restaurants, die Burger, Donuts, Hot Dogs und Pizza feilbieten, dominieren viele Straßenecken. Wer die traditionelle iranische Küche sucht, muss seinen Blick schärfen.

Während für die einen der konsumistische Lebensstil verabscheuungswürdig ist, bildet er für die anderen einen (bisweilen naiven) Akt des Widerstandes: Wir lernen Kourosh beim Tee kennen. Der Innenarchitekt Anfang vierzig lebt beschaulich im Norden Teherans, er führt uns durch die Straßen. Nicht selten sind uns seine Loblieder auf den europäischen und amerikanischen „Way of Life“ unangenehm, oft ist man versucht, die vermeintliche „Freiheit“, von der er spricht, als Chimäre zu entlarven. Kourosh ist Angehöriger der oberen Klassen und zeigt uns polierte Einkaufszentren, Konsumtempel aus Glasfassaden, die von Kaffee aus Wien bis zu den neuesten Smartphones aus Korea keine Wünsche der kauffreudigen Seele offen lassen.

Nicht nur auf den Einkaufsstraßen Teherans offenbart sich der Konsumismus, sondern auch in den Gesichtern der Menschen. Die zahlreichen operierten Nasen, oftmals ein Geschenk zum Schulabschluss o. ä., zeugen von einer Oberflächlichkeit, die sich mit Hollywood messen kann. In Iran ist alles käuflich, von der Studienzulassung bis zur Flasche feinsten französischen Rotwein – in Sachen Kommerzialisierung und sozialer Gerechtigkeit ist man längst amerikanisiert: Money rules. „In Persien kriegst du alles, wenn du das notwendige Geld hast. Und wenn du die richtigen Leute kennst, hast du nichts zu befürchten“, meint die Kulturschaffende Neda. Wir sitzen in ihrer Apartmentwohnung, ihr Kopftuch hat sie abgelegt, wir stoßen mit Tequila an, aus dem Nebenraum duftet es nach Haschisch. Die Flasche Alkohol – egal welcher – kostet umgerechnet vierzig Euro, geliefert wird frei Haus. Die Preise für Cannabis und Opium sind wesentlich niedriger, Iran liegt auf der Route für Drogenschmuggel von Afghanistan nach Europa schlechthin. Neda beißt in eine Ringlotte und grinst mich an: „Niemand kümmert es, was in den eigenen vier Wänden passiert. Und wenn ihr einmal Probleme habt, ruft mich an.“

Dass dem nicht ganz so ist, zeigt sich im Juni 2016, als einige Partygäste wegen „schmutziger Aktivitäten“ zu 99 Peitschenhieben verurteilt werden. Im Juli 2016 zerstören Badischi-Milizen hunderttausende Satellitenschüsseln, die dem Empfang ausländischer Sender dienen. Der Besitz von Parabolantennen ist offiziell illegal und wird mit hohen Geldstrafen geahndet. De facto besitzen jedoch 70 Prozent aller Iranerinnen und Iraner derartiges Gerät. Irans Hardliner fürchten den steigenden Einfluss prowestlicher Kräfte auf die Gesellschaft, besonders seit dem Wahlsieg von Hassan Rohani (2013) und dem guten Abschneiden des reformistischen Zusammenschlusses „Liste der Hoffnung“ bei den Wahlen 2016. Beide verheißen eine Öffnung des Landes. Aus diesem Grund schlägt die Justiz – eine Bastion der Hardliner – in jüngster Zeit öfter zu. Exempel werden statuiert, das Gewaltmonopol ist fest in den Händen reaktionärer Kräfte.

Diese Öffnung gen Westen scheinen viele Iranerinnen und Iraner hingegen herbeizusehnen. Das repressive, vielerorts schlicht antiquierte Vorgehen Irans Herrschender polarisiert die Gesellschaft: Die einen positionieren sich antiwestlich, während andere – vor allem junge, urbane Perser – einer prowestlichen Euphorie verfallen.

In kaum einem Land werden wir herzlicher empfangen wie in Iran. Kaum ein Moment vergeht, an dem wir nicht auf offener Straße zu Tee, zum Essen oder zum Dialog eingeladen werden. Viele unserer Gesprächspartner können nur spärlich Englisch und wir kein Persisch. Oftmals wirkt es, als hätten die Iranerinnen und Iraner eine gefühlte Bringschuld, als wäre es nicht ihr Verdienst, dass ihr Heimatland auf der Weltbühne den Schurken spielt (bzw. spielen muss). Man gibt sich dezidiert prowestlich, sieht in der Annäherung Richtung Westen die Erlösung von der unterdrückerischen Herrschaft des Regimes. Uns hingegen ist das freilich unangenehm. Häufig sind die sprachlichen Barrieren jedoch zu hoch, um dem Gegenüber deutlich machen zu können, dass man selbst nicht der Ansicht ist, in der „besten aller möglichen Welten“ zu leben.

Atomare Risse im Beton?

Ob und wie sich die iranische Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten verändern wird, ist kaum absehbar, am wenigsten von einem externen Beobachter, der lediglich einen Moment lang Einblicke in eine andere Welt erhält. Fest steht lediglich, dass diese mancherorts der westlichen erschreckend ähnlich ist.

Besonders der Atomstreit, welcher im Juli 2015 zwischen Iran und der internationalen Staatengemeinschaft begraben wurde, versprach eine schrittweise Aufhebung der internationalen Sanktionen. Deren „Fallout“  zog erhebliche soziale Konsequenzen für die Bevölkerung nach sich. Trotz eines prognostizierten Wirtschaftswachstums von 5% im Vergleich zu 0,5% im Vorjahr ist der große Wurf bis dato nicht eingetreten. Dies auch, weil versprochene Übereinkünfte mit europäischen Unternehmen wie Airbus, Renault oder Siemens ins Stocken geraten. Die USA hingegen torpedieren nach wie vor den Zugang Irans zum US-Finanzmarkt, geben eingefrorene Gelder nicht frei und erlassen nach dem Atomabkommen neue Sanktionen. So wird eine Investition in die iranische Wirtschaft zum riskanten Unterfangen. Das Pokerspiel der Mächtigen bekommt Irans Bevölkerung zu spüren, die mit handfesten Problemen konfrontiert ist: Mangels Investitionen steigt die Arbeitslosigkeit, Miet- und Lebensmittelpreise schnellen in die Höhe, vielerorts wirtschaften Entscheidungsträger in die eigenen Taschen. Die Beendigung des Atomstreits konnte in dieser Hinsicht keine Erleichterung bringen.

Inwieweit eine Deregulierung und Liberalisierung des iranischen Marktes jedoch überhaupt einen Boom (und nicht einen Ausverkauf) nach sich ziehen wird, ist fraglich. Die teils erzwungene Abschottung des Landes veranlasste Iran dazu, zahlreiche Produkte inländisch herzustellen. Auf besonders vielen Konsumgütern steht „Made in Iran“. Wie sich eine Marktöffnung auf den produzierenden Sektor auswirken könnte, macht ein chinesischer Handelsdelegierter in der Lobby meines Hostels deutlich. Auf die Frage, was er denn hier mache, antwortet er selbstbewusst: „I am here to take over the market.“

Politisch betrachtet sind viele Iranerinnen und Iraner ebenfalls ernüchtert. Der im Westen als große Hoffnung inszenierte Rohani ist für kritische Köpfe keine wählbare Alternative zu den Hardlinern, man ist enttäuscht und frustriert. Die „gemäßigten Konservativen“ um Rohani stehen zwar in ökonomischen Bereichen für einen liberalen Reformismus, politisch jedoch geben sie sich in mancherlei Hinsicht unnachgiebig. Dasselbe gilt für die „Liste der „Hoffnung“. Diese konnten bei den Parlamentswahlen 2016 beachtliche Erfolge in den urbanen Zentren erzielen. Allerdings finden sich in den Reihen der Hoffnung auch Mohammad Reyshahri und Ghorbanali Dorri-Najafabadi, die an der Unterdrückung von Studierendenprotesten und der Ermordung politischer Gefangener in den 1980er-Jahren beteiligt waren.

Jedenfalls aber wabert der soziale Druck unterhalb der gepanzerten Oberfläche des Regimes: Soziale Probleme, Repression und das Faktum, sich nicht mehr einfach vor der Welt verschließen zu können, heizen die gesellschaftliche Unzufriedenheit an. Hinzu treten regionale Konflikte gegen den Erzrivalen Saudi-Arabien, der Krieg in Syrien und der nach wie vor beständige Druck des Westens, die materielle Zugeständnisse an die Bevölkerung zusehends erschweren.

Zur Rolle des westlichen Beobachters

Als Reisender in diesem Land stellt sich am Ende immer die Frage, welche Eindrücke und Positionen ein Reisebericht transportiert. Wie ich in diesem Beitrag zu zeigen versuchte, sprechen in Iran Stimmen einer pluralen, diversen Gesellschaft. Sie verfügt über ihre je eigenen Widersprüche und Problematiken. In anderer Hinsicht sind die Probleme der Iranerinnen und Iraner Sorgen, die auch Europäerinnen und Europäer plagen: soziale Schieflagen, Misswirtschaft, Verteilungskämpfe, Identitätskonflikte.

Das Bild Irans polarisiert jedoch hierzulande: Den meisten westlichen  Beobachtern gilt jenes Land als Teil der „Achse des Bösen“, Bilder des rassistischen Films „Nicht ohne meine Tochter“ bestimmen nach wie vor die Kartografie unseres Denkens: Gezeichnet werden Porträts einer archaischen, fanatischen Theokratie, deren einzig erklärtes Ziel die Zerstörung aller „Werte“ des Westens ist. Diese Theokratie gelte es hernach zu entmachten, das iranische Volk zu „befreien“. Damit wird Iran zur Projektionsfläche für das immanent Böse, das der – gute – Westen zu bekämpfen hätte. Andere wenige wiederrum sehen Iran als letzte Bastion gegen einen westlichen (Kultur-) Imperialismus. Beide Positionen liegen mit ihren einhelligen Darstellungen falsch.

https://www.youtube.com/watch?v=68luyEclqF4

Indes verfügt Iran nicht nur über eine komplexe Geschichte, sondern auch über eine vielfältige Gesellschaft. Ihre politischen Positionen sind oftmals sehr unterschiedlich, kontrovers und hörenswert. Keineswegs spiegeln sie die Standpunkte des Regimes unisono wider, wie es manch medialer und politischer Akteur im Westen suggeriert.

Eine aufgeschlossene Beschäftigung mit Irans Gesellschaft wäre politisch wie kulturell wünschenswert, besonders abseits der internationalen Politik: Hier spielen die Mächtigen Schach, sie denken in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse. Damit fördern sie Vorurteile auf allen Seiten, sehr zum Leidwesen eines solidarischen Miteinanders und einer offenen Begegnung mit der iranischen Bevölkerung.

Ein Blick auf deren Positionen zeigt, dass es zwischen dem beschworenen Guten und dem Bösen zahllose Grauschattierungen gibt, dass dieses Land weder ein Hort des Terrors noch eine antikapitalistisches Bollwerk ist.

Vielmehr gerät vieles in Bewegung, während anderes im Stillstand verharrt – genauso wie in Europa.

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