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Nach Lektüre der ersten Zeilen eines Beitrags hat ein Leser längst beschlossen, ob aus einem Blatt Papier eine bewusstseinserweiternde Informationsquelle wird oder es ein totes, gepresstes Stück Holz bleibt. Im Falle digitaler Medien müssen die Rezipienten lediglich über ihre Flatscreens wischen, durchschnittliche Lesezeiten von Artikeln verbleiben im einstelligen Minutenbereich, das Urteil über den Gehalt eines Textes ist ein sekundendauerndes Schnellverfahren. Die Zeit, die sich ein Mensch für die Lektüre eines Artikels nehmen darf, schwindet, während das Informationsangebot unendlich steigt.
Solche Entwicklungen treiben gehaltvollen Journalismus in eine tiefe Krise. Die Ursachen für den Rückgang ausführlicher Informationen sehen Bildungsbürger gerne im Aufstieg verdummter Massen, der das Ende ihrer Hochkultur einläutet. Tatsächlich liegen die Wurzeln dieser Krise in der Funktionslogik eines Systems begraben, das von Industriekapitänen und Bildungsbürgern angeführt wird.
Weniger Zeit, mehr Raum, stets Arbeit
Wir leben in einer Gesellschaft, die mit einer Verkürzung der Zeit und einer Ausdehnung des (medialen) Raumes konfrontiert ist. Flexibilität und permanente Erreichbarkeit sind die Anforderungen an ein Subjekt, das theoretisch in der Lage wäre, binnen 24 Stunden zwischen Wien und New York zu pendeln und währenddessen mit Moskau eine Videokonferenz abzuhalten, sofern es über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt. Jedenfalls aber muss das Individuum tunlichst versuchen, stets nützlichen Tätigkeiten nachzugehen und die Bereitschaft an den Tag legen, rund um die Uhr auf Abruf zu arbeiten, mit einem Pathos bzw. Drive, der einer scheinbaren Selbstverwirklichung dient. In einer Leistungsgesellschaft wurde Sinnstiftung mit Verwertbarkeit gleichgesetzt, die keinen Platz für ausschweifendes Gerede lässt. Gebraucht werden Hard Facts, möglichst kurz und unhinterfragt.
Für mediale Berichterstattung bedeutet dies eine Zäsur, da ihre Adressaten über ein größeres Informationsangebot verfügen und gleichzeitig über weniger Zeit für Lektüre.
Suchmaschinen und soziale Netzwerke: Manipulierte Zeitersparnis
Mittels der Algorithmen von Suchmaschinen lässt sich eine offenbar elegante Abkürzung nehmen. Es ist den multimedialen Konsumenten möglich, die Inhalte der gesamten Zeitungslandschaft sekundenschnell zu durchforsten, sich weitere Informationshäppchen auf diversen Blogs zu holen, die sozialen Medien zu bedienen oder auf andere Informationskanäle umzusteigen. Das beängstigend passgenaue Vorkauen der schier unendlichen Information vom Suchmaschinenanbieter und den sozialen Netzwerken hinterfragen die Konsumenten selten. Zu groß ist der Nutzen durch die Zeitersparnis und zu angenehm läuft die Phrase „eigenständiger Medienkonsum“ über die Lippen.
Teaser, Tagwords, Optimization: Die Coca-Colonisierung der Recherche
Zeit ist Geld, für alle und besonders auch im Journalismus. Die Betreiber der Blogs, Online-Plattformen, Zeitschriften und Magazine konkurrieren um ein möglichst hohes Google-Ranking, das – wie könnte es anders sein – selbstverständlich käuflich ist. Im Zeitalter der Digitalisierung und des Massenkonsums werden aus Vorspännen Teaser und aus Titeln Header. In Online-Redaktionen evoziert die Suche nach Tagwords für die Search-Engine-Optimization ein flüchtiges Kribbeln unter den Fingernägeln, der oft mehr Bedeutung beigemessen wird als der inhaltlichen Ebene eines Textes.
In der Regel gehört ausgiebige Zeit für analoge (!) Recherche in dieser Branche ebenso der Vergangenheit an wie Schlapphüte, Trenchcoats, Filmdosen, Notizblöcke und im Übrigen auch feste Dienstverträge. Die Konkurrenz zwischen Medien, aber auch Journalisten steigt ins Unermessliche, Verkaufszahlen und Klicks dominieren den redaktionellen Alltag, Kurzlebigkeit ist Zeitgeist und die finanzielle Entlohnung selbst hochqualifizierter Reporter blanker Hohn.
Aristokratie oder Prolokratie?
Seine Rechtfertigung findet dieses Vorgehen in den vermeintlichen Bedürfnissen einer neuen Leserschaft. Diese möchte nicht mehr über einer ausgedehnten Reportage dinieren, sondern möglichst knappes Stakkato-Fast-Food im Vorbeigehen verzehren, das sich im Spiegelbild eines Bulimie-Bildungsideals wiederfindet und bestenfalls die eigene politische Meinung bestätigt. Die Wurzeln hierfür liegen allerdings nicht im kulturellen Verfall durch die Herrschaft der ungebildeten Massen, sondern in einem System, in dem schnell verwertbare Informationen den höchsten Stellenwert genießen. Journalistisches Fast-Food ist kein Bedürfnis, sondern ein Sachzwang, für Autoren und Leser gleichermaßen.
Vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, der eine Inwertsetzung von Information unterstützt und in dem Freizeit zum Unwort wurde, werden kurze, nutzbare Inhalte zum Dogma erhoben. Ausgedehnte, zum Verweilen einladende Texte hingegen bleiben einer materiell abgesicherten Oberschicht vorbethalten, die über die notwendige Zeit, das Geld und den Habitus verfügt, jene Inhalte zu konsumieren. Gleichzeitig predigt das konservative Bürgertum den kulturellen Verfall durch die Prolokratie.
Die Ursache des Sprachverfalls, für viele Philologen Ausdruck des Untergangs einer Hochsprache und damit des Qualitätsjournalismus, ist nicht der Aufstieg der populären, dekadenten Kultur der Massen, sondern Ergebnis unseres gesellschaftlichen Systems, von dem jene am meisten profitieren, die am lautesten gegen die Prolokratie ins Feld ziehen. Es ist ihr Dogma der Verwertbarkeit, das Funktionalität, Flexibilität und Kurzlebigkeit zu einem neuen Qualitätsmerkmal für journalistische Texte macht. Es ist deren Wachstums- und Wettbewerbsblindheit, die Qualitätsmedien bedingungslos um ihre Existenz konkurrieren lässt.
Das Fundament der Krise des Qualitätsjournalismus ist eine systembedingte Logik, die Information auf ihren Fast-Food-Charakter reduzieren möchte, denn eines ist sicher: Zeit ist ein rares Gut. Der Genuss eines Textes und eine kritische, reflektierte Bewusstseinsbildung werden auf dem Altar einer leistungsorientierten Gesellschaft geopfert. Insofern geht die wahre Bedrohung für qualitativ hochwertigen Journalismus von jenen aus, die von diesem System profitieren.
Die Gefahr kommt nicht von unten, sondern von oben.