Friedensforschung, ein Kompass in stürmischen Zeiten

Schon beim Anlesen des neuen ZFF Jahrbuchs wird klar: Die Friedensforschung ist ein Dickicht, das es aufzuforsten gilt. Werner Wintersteiner und Lisa Wolf haben sich dieser Aufgabe aus Anlass des zehnjährigen Bestehens des ZFF angenommen und so einen facettenreichen Band geschaffen, der viele Zukunftsperspektiven aufzeigt, aber auch einige Fragen stellt.

Sammelbände zu rezensieren ist immer wieder eine Herausforderung, weil man oft divergierende Positionen, unterschiedliche Zugänge und allfällige Dissonanzen ansprechen muss. Mitunter kann das bekannterweise entweder zu einer inspirierenden Tätigkeit oder aber zu einem frustrierenden Vorhaben werden.

Das ZFF der Universität Klagenfurt.
Das ZFF der Universität Klagenfurt.

Im vorliegenden Fall ist es jedenfalls Ersteres. Interessant ist das Buch an sich schon deshalb, weil es als das bisher umfassendste der JahrbuchreiheFriedenskultur des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik (ZFF) der Universität Klagenfurt erschien. Das Jahrbuch für Friedensforschung 2015 legt heuer mit 24 Artikeln einen aktuellen Überblick  zur Situation der Friedensforschung in Österreich vor und bietet auch ausgewählte internationale Perspektiven zur Kontextualisierung . Darüber hinaus äußern sich rund 35 ExpertInnen zur Situation der Friedensforschung in Österreich. Als wichtigstes Ergebnis attestiert die Umfrage einen dringenden Bedarf an Friedensforschung.

Thematisch ist das Buch eine Gratwanderung zwischen beharrlicher und durchaus kritischer Darstellung des Standes der Friedensforschung in Österreich, einer Herleitung ihrer Genese und potentieller Neuordnung dieser unglaublich dynamischen Disziplin. So spannt der Sammelband den gesamten Rahmen dessen auf, was Friedensforschung in der Vergangenheit bedeutet hat, in der heutigen politischen Auseinandersetzung bedeutet und in Zukunft bedeuten soll und kann.
Der Blick in die Zukunft erscheint dabei gleichermaßen als ein Aufzeigen von Defiziten aber auch von Verbesserungsvorschlägen, um künftig sinnvolle Beiträge für den Frieden erstellen zu können, wie es Sabine Jaberg ausdrückt.

Es scheint, als ob die Friedensforschung dabei selbst auf den Prüfstand gestellt wird. Es werden alle möglichen Kabel angeschlossen, Diagnoseprogramme scheinen im Hintergrund abzulaufen, die insgesamt 14 AutorInnen schalten die Gänge hinauf und hinab, lassen den Motor aufheulen, schrauben hier und da herum, greifen tief in den thematischen Werkzeugkasten, versuchen sich auf verschiedenen Fahrbahnbelägen, ziehen am Rahmen, prüfen Zahlen, Werte und Kritiken, gehen auf Tuchfühlung mit dem Wissenschaftsdesign, ja, beginnen die Designer selbst zu hinterfragen. Alles wird berührt, angesprochen, bewertet und eingeordnet.

Friedenswissen als Orientierungswissen

Die Vielfalt der Artikel und die Breite der Zugänge, die damit einhergeht, zeigt aber vor allem eins: die Flüchtigkeit des zu bearbeitetenden Feldes in einer globalisierten Welt und das Fehlen klar vordefinierter Wege. Gleichzeitig wird aber in den “Arbeitsfeldern” deutlich gemacht, warum eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Gebiet unbedingt notwendig ist, was die Friedensforschung in der Praxis leisten kann und welche Diskurse sie aufzuspannen in der Lage ist. Die Theorie- und Praxiseinblicke sind vor allem hinsichtlich der gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen von großer Relevanz, weil sie politische und soziale Verhältnisse zu beleuchten imstande sind, unter denen zukünftige Konflikte entstehen können. Die Beiträge von Viktoria Ratković, Wilfried Graf oder Jürgen Pirker sind eindringliche Beispiele dafür.

Sehr deutlich wird beim Lesen des Bandes, dass Friedensforschung um Anerkennung sucht. Sie will kritische gesellschaftswissenschaftliche Beiträge leisten, weil sie nämlich eins besonders gut kann: tiefsitzende Probleme durch pluralistische Zugänge identifizieren, die Fehlstellen benennen und so Vorschläge erarbeiten, um diese zu füllen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Sammelband auch ein Plädoyer um über Fixierungen hinaus Problemlagen neu zu denken.

Dass dies in dem sich gegenwärtig rasch dynamisierenden politischen Klima ein widersprüchlicher Prozess sein kann, streitet der Sammelband jedoch nicht nicht ab. Vielmehr macht es den Eindruck, dass die AutorInnen das in Kauf nehmen und darauf mit Breite und Vielfalt kontern. Bei der Lektüre wird deutlich, dass dadurch ein neuer, offener Raum erschlossen werden kann, der Chance zur Kreativität gibt und in dem das “Orientierungswissen” der Friedensforschung dringend gebraucht wird.
Lena Freimüller spricht hier im Zusammenhang mit Kunst von der Gestaltung von “Resonanzräumen, in denen Orientierungsprobleme der Gesellschaft reflektiert werden können.” In einem Beitrag macht Claudia Brunner in Anlehung an die mythische Figur der Kassandra indessen deutlich, dass es darum geht die “Regeln des Vorkriegs zu entdecken, zu entziffern und zu entblößen”:

Die “Regeln des Vorkriegs” zu entziffern sollte meines Erachtens das Hauptanliegen einer Friedens- und Konfliktforschung sein, die sich nicht als Beraterin und Erfüllungsgehilfin imperialer Politiken versteht, sondern als deren Korrektiv und Gegenentwurf, als lebendiges Sammelbecken auch für Widerspenstige und Widerständiges.

Ziegel und Mörtel

Der Band hält viel mehr, als sein Titel verspricht. Auf gut österreichisch würde man zu hören bekommen, dass “es donn scho a bissal mehr is”. In diesem Sinne bietet er inmitten eines Begriffs- und Perspektivendickichts eine Standortbestimmung mit Österreicheinschlag. Sehr positiv ist, dass er damit das willkommene friedensparadigmatische Pendent zur sicherheitsparadigmatischen Jahresvorschau, liebevoll Ziegel genannt, ist. Dem etwas normativen “Ziegel” bietet das Jahrbuch des ZFF somit quasi den “Mörtel”, um seine realistisch-normativen Darstellungen einzubetten.

Je mehr Zynismus und ideenloser Konservativismus unsere Politik bestimmt, desto notwendiger werden Wissen und Ansätze, die Werner Wintersteiner und Lisa Wolf so sorgfältig gesammelt haben. Man kann es fast als Gegenmittel gegen politische Oberflächlichkeit und Policy-Kurzsichtigkeit bezeichnen. Der Weg zum Umdenken und zur Verwendung einiger Zugänge durch politische Entscheidungsträger dürfte dennoch sehr steinig werden.

Die Distel als Titelbild des Sammelbandes ist demnach sehr treffend gewält. Werner Wintersteiner merkt dazu an, dass die Tugend der Distel, die Beharrlichkeit, gerade für die Friedensforschung eine starke Symbolik in sich trägt: “Veränderung entsteht auch durch Beharrlichkeit.” Eine schöne Metapher, zudem eine mit Strohhalmqualität für das oftmalige Randdasein unterfinanzierter FriedensforscherInnen. Die mangelnde Institutionalisierung, an der die Disziplin ferner leidet, bedarf daher einer besseren (inter-)universitären Verankerung, internationalen Vernetzung und verdient großzügigere strukturelle und ideelle Förderung, so die Bilanz.

Frieden (neu) denken

Gerade in einem sich zuspitzenden gesellschaftlichen Klima wird dieser “Mörtel”, in den wir Debatten einbetten können, so dringend benötigt. Die Finanzkrise, die Griechenlandkrise, die politische und militärische Krise um die Ukraine, die Kriegssituation im Nahen Osten, die Fluchtbewegungen, die europäischen Dissonanzen machen den großen Bedarf an Friedensforschung, an “Orientierungswissen”, immer deutlicher.
Um in einem Klima verstärkter Politisierung und Dynamisierung der Gesellschaft zukünftige potentielle Spannungen, die sich dadurch ergeben könnten, zu lösen und zu vermindern, sind die Erfahrungen der Friedensforschung als Leitfaden für politische, diplomatische und zivilgesellschaftliche Arbeit unverzichtbar.

Als “Fachwissen für politische Praxis” sollte der Friedensforschung eine prominente Stellung zukommen. Beim Aufzeigen von Konflikten. Bei der Sichtbarmachung von Gewalt. Beim Aufdecken diskriminierender Denkmuster. Als Hilfestellung beim Umgang mit Ängsten. Beim Herstellen und Abwägen von Kontexten. Beim Identifizieren von Zusammenhängen. Um der oft aufblitzenden Ignoranz mit klugem, abwägendem und differenziertem Wissen zu entgegnen.
Das alles wird bei der Lektüre des Sammelbandes zum Stand der Friedensforschung klar. Ich lege es allen ans Herz, die flacher Zugänge zu gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen müde sind und eine Brise Inspiration herbei sehnen.

UnbenanntWerner Wintersteiner, Lisa Wolf (Hrsg.):
Friedensforschung in Österreich. Bilanz und Perspektiven.
Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec 2016, 396 Seiten. 27,80 €

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