Fotokünstlerisch studiert der Fotograf Martin Parr die kuriosen Sitten und Gewohnheiten einer sich verändernden Welt. In seinem gewaltigen Gesamtwerk nimmt er außerdem die Auswirkungen der Globalisierung und der neoliberalen Konsumspirale unter die Lupe.
Es ist immer etwas Spezielles, die Werke eines Magnum Fotografen zu sehen. Eine solche Ausstellung besucht man nicht, man betritt sie. Man taucht in sie und die soziale Dimension ein, die meist mitschwingt. In einer Magnum Fotoausstellung hört man entweder Kichern und Lachen oder nichts außer drückendem, betretenem Schweigen.
„Wir sind als ein Verein von Fotojournalisten gegründet worden, die die Realität beobachten“ meinte Thomas Höpker, ein ehemaliger Präsident der renommierten Fotoagentur Magnum, einst. Das bedeutet aber auch, dass der Schein, der Hochglanzillustrierte oft umgibt, bei Werken dieser Gruppe häufig vergeblich gesucht wird. Abgebildet werden Tatsachen, durch Blickwinkel hervorgehoben, ungeschönt und dadurch in ein anderes – oft kritisches – Licht gerückt. Angetrieben wird Magnum durch Neugier; Neugier über das, was in der Welt vor sich geht, so Henri Cartier-Bresson. Oft ist es aber einfach nur das, was im Alltag übersehen wird. Das, was zwar täglich unendlich oft gesehen, aber nicht wahrgenommen und selten hinterfragt wird.
Schrecklich schöne Bilder
Ganz in dieser Tradition, steht auch Martin Parr. Parr wurde 1952 in einer Vorstadt von London, zu einer Zeit geboren, die damals „fotografisch schlief“, wie er selbst einmal behauptete. In den 1980ern wurde er durch seine britische Strandurlaubsszenenserie als Porträtist typischen Alltagslebens international bekannt. Zurzeit steht er der elitären Fotoagentur Magnum als ihr Präsident vor.
Im Vordergrund seiner Arbeit steht, die Welt so zu zeigen, wie sie ist. Dazu musste er anfangs nicht weit weg reisen, das tat er angetrieben durch seinen Erfolg erst später. Er nimmt die Kamera meist in der ihm bekannten Welt in die Hand und dokumentiert die Gesellschaft und ihre Eigenheiten mit anthropologischem Feingespür fernab von exotisierender Sensationsfotografie. Für Parr ist alles, was uns umgibt, Thema: Ein Ball, ein Wirtshaus, ein Supermarkt, eine Touristenattraktion, das Zeitunglesen am Strand. Bettina Leidl, Direktorin des Kunsthauses Wien und Verena Kaspar-Eisert, Kuratorin der derzeit im Kunsthaus ausgestellten Retrospektive des Künstlers, fassen seinen Zugang zur Dokumentation der Wirklichkeit so zusammen:
Diese Fotografien berichten unmittelbar und schonungslos unverfälscht aus der Mitte der Gesellschaft; sie sind visuelle Zeugen unserer Lebensweise, unserer Traditionen, Vorlieben und Neigungen und, wenngleich unterhaltsam, zeigen sie auch die Verschwendung, die fehlende Nachhaltigkeit, die Unverhältnismäßigkeiten der sogenannten ersten Welt.
Dabei drängt er seinen wenig schmeichelhaften Blick auf die Kultur der Konsumgesellschaft den BeobachterInnen aber keineswegs auf. Seine Arbeiten sind von „einem speziellen Humor durchzogen“, der es schafft „unseren Blick auf die kuriosen und absurden Seiten des Alltags“ zu lenken, so ebenfalls Leidl und Kaspar-Eisert. Diese Freigabe zur oft amüsanten Begutachtung wird dennoch oft herablassend interpretiert, vor allem dann, wenn es die eigenen Eigenheiten sind, die exponiert werden. Zwangsweise lernt man sich durch die oft aufrüttelnde Nähe seiner Sujets dann selbst besser kennen, betrachtet sich selbst in einem anderen Licht. Die Serie „Think of England“ oder „Cakes & Balls“ sind Beispiele dafür. Lächerlich machen will er aber die von ihm dargestellten Personen und Situationen nie. „Vielmehr bewegen sich seine Darstellungen im Spannungsfeld widersprüchlicher Gefühlsregungen“, so Manisha Jothady in einem Essay über den Künstler. Anders – mit Claudia Busser – gesagt: “Fremdbild und Selbstbild sind nicht immer zur Deckung zu bringen.“ Das trifft es eigentlich genau und dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
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Aus dem Leben gegriffen
Bestechend bei Martin Parr‘s Bildern ist, dass sie in der Gesellschaft wurzeln und aus dem Leben gegriffen sind. Diese „Alltagsbilder“ haben schon auf den ersten, schnellen Blick, etwas Besonderes an sich. Es ist wohl die schelmische Qualität, die einem ins Auge springt. So ist es lediglich das Klischeehafte der Alltagskultur, das er offenlegt. Die diesen Klischees innewohnende Unmittelbarkeit macht Parr in einem Interview mit der Presse deutlich:
Wir sind in erster Linie daran gewöhnt, Propaganda zu sehen – die perfekte Version einer konsumierbaren Welt. Sobald eine Ästhetik davon abweicht, schreien alle auf und sind sich sicher, hier werde zwingend Kritik an den herrschenden Zuständen vorgebracht.
Durch seinen Blick für diese Ästhetik schafft Martin Parr es auf seine eigene Art die Brücke zwischen Kunst und Dokumentarfotografie zu schlagen.
With photography, I like to create fiction out of reality. I try and do this by taking society’s natural prejudice and giving it a twist.
ergänzt er selbst an anderer Stelle.
Seine Arbeit hat so nicht nur zahllose FotografInnen beeinflusst, sondern auch maßgeblich auf die Genres Street Photography und Dokumentarfotografie Einfluss genommen. Abgefärbt hat seit den 1980ern vor allem seine Art der „fotografischen Wirklichkeitsdiagnose“, wie es Manisha Jothady beschreibt, zu deren herausragenden VertreterInnen Martin Parr zählt. In diesem Sinne ist er ein großer Sozialbetrachter, immer mit einem Auge für das Partikuläre und einem für das große Ganze.
Vom Arbeitermilieu über die Mittelschicht zu den sagenhaft Reichen
Der Beginn seines künstlerischen Schaffens ist vor allem mit der Auseinandersetzung mit dem Arbeitermilieu und der Arbeiterkultur geprägt, wie in der Serie „Last Resort“, die Strandszenen der britischen Arbeiterklasse zeigt. Angetrieben durch den kulturellen Wandel, in der alte britische Traditionen dem Keimen der Massenkultur in einer gnadenlosen globalen ökonomischen Öffnung unter Margareth Thatcher wichen, untersuchte er die Auswirkungen dieses Prozesses auf die einfachen Leute.
Im den darauffolgenden Jahren rückte dann zunehmend die Mittelschicht in den Mittelpunkt seines Schaffens. Mit der Serie „The Cost of Living“ setzte er sich mit jenen Menschen auseinander, die von den Thatcher’schen Reformen profitierten und Materielles durchaus zu verteidigen begannen. Kurz darauf bereiste er für die Serie „Small World“ populäre Touristendestinationen, um den Auswüchsen der gestiegenen Mobilität dieser begünstigten Mittelklasse nachzufühlen. In „Common Sense“ hebt Parr wiederum das Partikuläre hervor und collagiert in einer Wandinstallation hunderte Aufnahmen dieser Massenkonsumkultur. Dabei werden Alltagsgegenstände, Junk Food, Schmuck und Trash lustig und traurig als Forensik des globalen Konsums inszeniert.
Sein Querschnitt durch die Klassendimension seiner Konsumkritik gipfelte schließlich in der Serie „Luxury“. Dabei fokussiert er seine Kamera auf die betuchten „Oberen Zehntausend“, die ihren Besitz zu Schau stellen. Letztendlich scheint es aber auch in diesem Fall der demonstrative Konsum zu sein, der Parr’s Blick bei den Champagnermittagessen, Pferderennen, Millionärs- und Kunstmessen anzuziehen scheint.
Parr’s Auge für Unspektakuläres, Normales, Alltägliches
Martin Parr’s forensischem Blick auf die vermeintliche Realität entgeht nichts. Seine Linse forscht fast jedem Aspekt des Lebens nach. Dabei geht es ihm um das Normale, Unhinterfragte und Alltägliche. Stellvertretend dafür nimmt etwa auch Essen und Nahrung bei ihm eine zentrale Stellung ein. Wie mit vielen anderen Aspekten, abstrahiert Parr beispielswiese die Küche eines Ortes, indem er „echtes Essen“ – das Ungesunde – das “Real Food“, dokumentiert:
Klarerweise betreibt Parr aber keine Food Art, wie wir sie im heutigen Sinne aus Hochglanzmagazinen oder von Instagram kennen, wo einzelne Lebensmittel oder ganze Menüs perfekt angerichtet, abfotografiert werden. Cuisine a`la Parr ist das Alltagsessen vom Würstelstand. Es ist das was in den unteren Regalen des Diskonters zu finden ist. Es ist das fettige Schnitzel, dass über den Tellerrand hängt. Dabei entlarvt seine Cuisine die vermeintliche normalen Plachutta- und Figlmüller-Versionen ironischerweise als Deluxe-Schnitzel.
Insgesamt ist es Parr‘s Faszination für den sozialen Aspekt dessen was wir essen, tun, anziehen, für den menschlichen Alltag, die im Herzen seiner Arbeit liegt. Diese Faszination unterhält, indem das scheinbar „Echte“ dann doch ungeschönt als das Besondere präsentiert wird – egal ob beim Essen, beim Baden, Tanzen oder Feiern. Das zieht sich wie ein roter Faden durch sein Gesamtwerk. Dieses Werk ist zugleich eine Sammlung als auch eine Analyse des Lebens, das wir leb(t)en. Seine Stärke liegt in der Zugänglichkeit – gewissermaßen ist das Werk selbsterklärend und bedarf keines ergänzenden Kommentars. Er lässt uns die Welt selbst verstehen, indem er sie uns zeigt, wie sie (auch) ist.
Einige seiner legendären Werkkomplexe sind derzeit im Hundertwasserbau, dem Kunsthaus Wien, im Rahmen einer umfassenden Retrospektive zu sehen.