In einer Zeit, in der Stereotypen und Klischees eine Hochkonjunktur erfahren, ist es notwendig und gut, sich mit den bunten Facetten des Lebens, vor allem in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen zu beschäftigen. Joumana Haddad gibt uns einen Anstoß tiefer über den “Anderen”, über das Fremde, nachzudenken.
Tun wir das, erkennen wir uns zumeist selbst, unsere Ängste kommen hoch, wir schauen uns in den Spiegel und entdecken eventuell Dinge an uns selbst, die uns so gar nicht gefallen mögen. Genau diesen Spiegel zur Selbstreflexion will uns Joumana Haddad mit ihrer Erzählung “I killed Scheherazade” vorhalten. Ihr 2010 veröffentlichtes Buch ist eine Sammlung autobiographischer Episoden, eine kapitelhafte Erklärung, was es heißt, heutzutage eine Frau in der arabischen Welt zu sein. Joumana Haddad richtet sich an uns, nicht indirekt und verklausuliert, sondern direkt spricht sie uns Westler an.
Haddad greift vereinfachte Bilder über arabische Frauen auf – mit einer ihr eigenen Sprache, die eine direkte, frei von lyrischen Sprachbildern ist, einer Sprache, die in erotischen Gedichten den Penis beim Namen nennt, anstatt ihn zu umschreiben. “Dear Westerner…”, so beginnt sie ihr erstes Kapitel und macht somit unmissverständlich, dass sie angetreten ist, Klischees über Bord zu werfen, die irgendwo zwischen Flaubert’s sinnlich-lüsternem Orientalistenblick und den vermeintlich besorgten, pseudo-feministischen Mahnern, die die Unterdrückung der arabischen Frau unter dem Kopftuch oder dem Hijab mit freiem Auge erkennen mögen, zu verorten sind.
Haddad versteht ihre Streitschrift aber nicht als einseitige Anklage westlicher Kulturalismen, sondern vielmehr als Selbstreflexion und -kritik. Sie spart nicht mit kritischen Kommentaren zu und Angriffen auf die gegenwärtigen Zustände in den verschiedenen arabischen (politischen) Landschaften. Im Versagen der politischen Elite sieht sie vor allem die Zivilgesellschaft in der Pflicht. Drei Phänomene benennt Haddad als charakteristisch für die momentane Identitätskrise der arabischen Zivilgesellschaft: erstens ist diese mit der Schizophrenie konfrontiert, nicht das zu leben, was sie denkt und glaubt. Zweitens ist die arabische Welt von einem Herdentrieb und einer starken Gruppendynamik geprägt; und schlussendlich zeigt sich ein politischer Stillstand, der die Zivilgesellschaft gleichermaßen prägt und in ihrer Entwicklung hemmt. In dieser Gemengelage verschwindet die arabische Frau als anonymes Wesen und Haddad macht es sich zur Aufgabe, die arabische Frau in ihrer Individualität greifbar und sichtbar zu machen, indem sie ihre eigene, kraftvolle, inspirierende und faszinierende Geschichte erzählt.
Joumana Haddad, die 1970 in Beirut geborene Schriftstellerin, Künstlerin, Verlegerin ist eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Sie wurde in den Jahren 2014, 2015 und 2016 vom Wirtschaftsmagazin “Arabian Business” zu den 100 mächtigsten Frauen in der arabischen Welt vom Früh schon, inspiriert durch die literarische Sammlung ihrer Eltern, beginnt sie Marquis de Sades “Justine” und Vladimir Nabukovs “Lolita” zu lesen und ihren eigenen Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität, fernab der arabischen Keuschheit, zu entwickeln. Später sollte sich das in erotischen Gedichten und der Herausgabe des Magazins “Jasad” (arabisch für Körper) materialisieren. Haddad eckt damit an, provoziert Kritik und (politischen) Gegenwind, Widerstand, den sie in Kauf nimmt, um ihre Botschaft zu vermitteln, was sie als höchste Aufgabe für die arabische Frau in der Gegenwart ansieht: “Think for herself.”
Das Lesen des schmalen Büchleins wird zu einem lustvollen Galoppritt durch die Bekenntnisse der “Angry Arab Woman” Haddad. Fasziniert von der Direktheit und Offenheit der Autorin steht die Frage im Raum: Warum diese Faszination? Warum, gerade als jener, in Klischees denkender Westler, der von Haddad direkt adressiert wird, ist man(n) so fasziniert? Der Umstand, dass hier eine Frau, noch dazu aus dem arabischen Raum, eine Streitschrift für die Selbständigkeit, Selbstreflexion und Unabhängigkeit schreibt, fasziniert wohl vor allem auch vor dem Hintergrund eines zunehmend verrohenden öffentlichen Diskurses, der nicht nur auf dem Rücken, sondern vor allem auf und durch die Körper ausgetragen wird. Haddad’s flammendes, Mut machendes Plädoyer zur Eigenständigkeit und vor allem auch zum genau Hinsehen und Zuhören erfüllt damit eine Sehnsucht nach jener Buntheit und Vielfalt in einer zunehmend in Schwarz-Weiß gefärbten, polarisierten und polarisierenden öffentlichen Debatte.
Die Veröffentlichung des Buches im Jahr 2010 liegt zwar schon sechs Jahre zurück, es hat jedoch nichts an seiner Aktualität verloren. Blickt man auf den gegenwärtigen Diskurs rund um die Flüchlings”krise” in Europa zeigt sich ein stark an Geschlechterrollen orientierter Diskurs. Die Ereignisse rund um die Kölner Silvesternacht brachten einen verstärkten, harschen Diskurs rund um die Stellung von Mann und Frau in der europäischen und arabischen Welt zu Tage, die jetzt scheinbar – ähnlich Huntigtons Thesen – kulturell aufeinander prallen. Vereinfacht gesagt, versagte der “postheroische europäische Mann” in dieser Nacht. Dies zeigt, inwiefern der Flüchtlingsdiskurs sexualisiert und vergeschlechtlicht wurde. Eines fällt dabei auf: die arabische Frau wird in diesem Diskurs nicht als aktives Subjekt angesprochen, sondern vielmehr als passives Objekt der Unterdrückung und Ausbeutung wahrgenommen. Diesen blinden Fleck im Diskurs hilft die Lektüre von Haddad’s “I killed Scheherazade” zu beleuchten. Die Perspektive der aktiven, emanzipierten, selbständigen arabischen Frau wird in ihrem Buch nur allzu deutlich eingefordert. Haddad fügt eine fehlende Dimension, die Stimme der arabischen Frau hinzu, die notwendig ist, um das Bild in seiner gesamten Vielfalt und Komplexität zu verstehen. Sie steht damit in einer Reihe von Autorinnen aus dem Nahen Osten, wie etwa Iman Humaydan-Younis, die den Westen vehement dazu auffordern, seinen Blick zu schärfen und die Individualität von arabischen Frauen zu erkennen, bzw. ihre Schicksale auch in der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte zu betrachten.
Gerade angesichts der derzeitigen (politischen) Situation in Europa sind die Stimmen derer, die Differenzierung und den Blick für das individuelle Schicksal einfordern, leiser geworden. Prominent dahingegen diejenigen, die mit Pauschalurteilen Kulturalismen, Stereotypen und Klischees über “den Westen”, “den Nahen Osten”, “den arabischen Mann” oder “die arabische Frau” verbreiten. Ihnen sei die Lektüre von Haddad’s Buch wärmstens empfohlen. Joumana Haddad’s Buch und ihre eigene Geschichte sind ein Appell zur Buntheit und Selbständigkeit und sie formuliert diesen Appell in einer spannenden Art und Weise.
Joumana Haddad: I killed Scheherazade – Confessions of an angry Arab woman
Dar Al Saqi, Beirut, 2010, 150 Seiten, 13,35 €
Joumana Haddad: Wie ich Scheherazade tötete – Bekenntnisse einer zornigen arabischen Frau
Hans Schiller Verlag, Berlin 2010, 124 Seiten, 18 €