Mit dem Roman Other Lives lieferte Iman Humaydan-Younis einen Denkanstoß dazu, was es bedeutet, sein Land während eines Krieges zu verlassen. Im Fokus steht zwar der Libanon, die Erfahrungen und Emotionen der Protagonistin lassen sich aber auf jedes andere Land und Schicksal übertragen. Schließlich treffen wir jeden Tag auf Menschen, die auf der Flucht sind oder waren.
Flucht und Migration sind in der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Debatte allgegenwärtige Begriffe. Bis Mitte 2015 belief sich die Anzahl jener Personen, die unter das Mandat von UNHCR fallen, auf noch nie dagewesene 58 Millionen. Die Aufmerksamkeit dabei wird aber lediglich einem Bruchteil der komplexen Realität der Flucht und ihren dahinterliegenden Gründen gerecht. Debatten darüber schenken den damit einhergehenden Herausforderungen meist nur technisch-bürokratische Aufmerksamkeit und werfen die menschliche Dimension diskursiv in den Burggraben der Festung Europas, in der sich rechte Parteien gerade einrichten.
In der Öffentlichkeit wird zwar Vieles thematisiert, das individuelle Leid der Flüchtenden kommt dabei aber nur in Randnotizen vor, wenn es nicht gänzlich übersehen wird. Vor allem die langfristigen Aspekte und traumatisierenden Erfahrungen von Flucht und Entwurzelung kommen zu kurz. Nur hin und wieder findet mensch tiefergehende Einblicke abseits von Massenmedienproduktion. Selbst dort überwiegen aber harte Kriegsschilderungen und un(kritisch)kommentierte Fluchterfahrungen.
Literarische Auseinandersetzung mit Flucht und Migration
Die Thematisierung von Flucht und Migration in der Literatur erlaubt es diese Oberflächlichkeit zu durchbrechen. Indem mensch tiefer geht, kann erahnt werden was Menschen auf ihrer Flucht verlieren, oft vergeblich in der Ferne suchen oder bei ihrer eventuellen Rückkehr in die Heimat wiederzuerlangen hoffen. So auch der 2010 unter dem Titel Hayawat Okhra im Beiruter Arrawi Verlag und 2014 bei Interlink Books in der englischen Übersetzung Other Lives erschienene Roman der libanesischen Schriftstellerin Iman Humaydan-Younis. In ihrem bereits dritten Roman nach Wilde Maulbeeren (2006 [2004]) und B wie Bleiben wie Beirut (2007 [2006]) entwirft sie das Bild einer traumatisierten Nachkriegsgeneration des libanesischen Bürgerkrieges (1975-1990). Other Lives ist als Andere Leben 2013 auch in deutscher Übersetzung im Lenos Verlag erschienen.
Ergreifend gibt Other Lives preis, welche Auswirkungen Krieg, Gewalt und Entwurzelung auf das Leben. Myriam, vor 15 Jahren zusammen mit ihren drusischen Eltern vor dem Bürgerkrieg im Libanon nach Australien flüchtete, kehrt als fast 40-jährige wieder in den Libanon ihrer Geburt und Kindheit zurück. Vor der Flucht wurde ihr Bruder von einer Granate zerfetzt, der Vater verlor den Verstand, die Mutter erlitt einen Schock und sprach kaum mehr.
Bei ihrer Rückkehr findet Myriam heraus, dass sich ihre Heimat verändert hat: in der Stadt herrscht Aufbruchsstimmung, die die Kriegsgräuel vergessen machen will. Doch sie will sich erinnern und die Geister des Bürgerkrieges konfrontieren: ihren toten Bruder, ihren verschwundenen Liebhaber, und das Leben, das sie hinter sich gelassen hat, als Ausgewanderte.
We emigrate and build another life and believe that we’ve been saved. But at a certain moment everything that we have built becomes ruined and we return to a past that we reckoned had disappeared or that we had intentionally forgotten throwing it somewhere under thick layers of memory.
Identität und Geschlecht
Der eigentliche Grund ist Heimweh nach dem Land ihrer Jugend, einem Ausdruck der zerbrechlichen Identität von Menschen, die sich durch Entwurzelung nirgends richtig zugehörig fühlen. In dieser Hinsicht wird der Charakter Myriams in Other Lives von Nour, den sie am Flug nach Beirut kennenlernt und zu dem sie sich hingezogen fühlt, gespiegelt. Der palästinensische Journalist Nour lebt in den USA und personifiziert in vielerlei Hinsicht eine solche Entwurzelung. Er lebt ein Leben, das zwischen Ritualen und Bewegung oszilliert: Rituale mit denen er seine Identität diversen Fremdzuschreibungen öffnet und Bewegung durch die er sich der Untiefe dieser Identität entzieht. Die pathologische Suche nach seinen Wurzeln im Libanon wird schnell unbefriedigend. Was wie Resignation und Enttäuschung über sein Scheitern wirkt, enttarnt Myriam jedoch als seinen Unwillen zu – und Angst vor – Bindung in zwischenmenschlicher wie aber auch geographischer Hinsicht. Für Nour wurde seine Entwurzelung selbst die Hauptdimension seiner Identität ein Schicksal (dass vor allem durch Globalisierung weitreichende Herausforderungen mit sich bringt und) welches Myriam selbst bis zu einem gewissen Grad mit ihm teilt. Michelle Hartman, die das Werk ins Englische übertragen hat, formuliert dies so:
We see Myriam as a woman who often feels disconnected from the people around her and the places she inhabits. She is restless in motion, searching for a home she cannot find. Her inability to settle is meticulously laid bare and depicted in all its raw emotions.
In einem Ensemble dichter Prosa thematisiert Iman Humaydan-Younis mit den unausgesprochenen Emotionen Myriams ein Stück libanesischer und globaler Zeitgeschichte und schafft es damit der Vielschichtigkeit von Erfahrungen von Flucht und Entwurzelung gerecht werden. Sie dringt so auch in selten thematisierte Problemfelder vor: sie „erforscht“ die Herausforderungen von Frauen, wenn sie ihre Identität zwischen Liebe, Krieg, Intimität, Verlust, Heimat, Flucht und Migration ausverhandeln müssen. Myriam bewegt sich in Other Lives in einer Welt, die zutiefst von ihren Erfahrungen zwischen und im Libanon, in Australien, Kenia und Südafrika geprägt ist. Diese Erfahrungen nimmt sie selbst als spiralförmig („cut-off, broken, incomplete, re-making itself in repetitive rows“) und nicht linear war. Am Ende landet sie immer wieder am Ausgangspunkt, egal wohin sie sich bewegt und was sie macht. Glück existiert für sie deshalb auch nur als diffuse Kategorie neben Beständigkeit; beides kann sie nicht leben.
She asks this knowing full well that happiness is something we only remember and never live: it’s pointless to ask someone whether she is happy.
Alternativen des Daseins tun sich für sie als Konsequenz an jedem neuen Ort auf. Letztlich behandelt Iman Humaydan-Younis dadurch nicht nur eine individuelle, sondern verschiedene kollektive Erfahrungen von Frauen auf der Flucht und Migrantinnen. Speziell in der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte wird dieser Aspekt viel zu selten aufgegriffen, obwohl Frauen und Mädchen etwa die Hälfte aller Flüchtlinge, Binnenvertriebene oder Personen, die über keine Staatszugehörigkeit verfügen, umfassen.
Geschlecht und Gewalt
Um über Frauen, deren Leben von Gewalt gezeichnet sind, zu sprechen, ist Literatur ein ausdrucksstarkes Vehikel. Sei es strukturelle Gewalt, die auf verschiedenen Ebenen unmittelbare Auswirkung auf Gründe und Erfahrungen der Flucht von Frauen hat, oder geschlechtsbezogene Gewalt im Kontext politischer Umwälzungen (ein heftiges Beispiel dafür wäre etwa der Roman Als gäbe es mich nicht von Slavenka Drakulić). Iman Humaydan-Younis fragt sich selbst, was Literatur tun kann, wie sie Realität widerspiegeln kann und was ihre Rolle in der Flüchtlingskrise ist. Sie gibt aber auch gleich eine Antwort darauf: „Wir müssen uns von der Fiktion des Schweigens und der Gleichgültigkeit befreien. Wir müssen unsere Stimme erheben.“
Obwohl Iman Humaydan-Younis in ihren Werken meist die Schicksale von Frauen und Mädchen anspricht, ist es eine ihrer Stärken, brennende gesellschaftliche Fragen in einer „Unschärfe“ zwischen der Kategorie Frau und Mann zu positionieren. Diese gewollte Unschärfe erlaubt es ihr, die Relevanz von Gewalt und Gedächtnis im Hier und Jetzt abseits von Geschlechterkategorien einzuordnen und es somit nicht auf ein Geschlecht zu beschränken. Dennoch schafft mensch es durch Other Lives vielleicht etwas leichter, seinen Blick für Geschlechterverhältnisse in der Flüchtlingsdebatte und Gewaltkontexten zu schärfen. Der Roman ist deshalb all jenen, die der oberflächlichen, die Menschlichkeit verhöhnenden, öffentlichen Debatte satt sind, ans Herz zu legen.
Die wesentliche Leistung des Buches liegt aber vor allem in seiner Eindringlichkeit, die der LeserInnenschaft einen flüchtigen Blick auf die künftigen Fragen, die sich Menschen stellen werden, die jetzt vorwiegend als stumme Protagonisten der Flüchtlingskrise wahrgenommen werden. Schließlich treffen wir jeden Tag auf Menschen, die auf der Flucht sind oder waren. Symptomatisch dafür ist die Frage, die Miriyam in Other Lives stellt: “Did I live many lives or only one life enough for many women?“ oder anders formuliert: Wer bin ich eigentlich? Und diese Frage ist natürlich nicht nur auf Frauen beschränkt.
Iman Humaydan-Younis: Other Lives
Interlink Books, Northampton 2014, 153 Seiten, 15,00 $
Iman Humaidan: Andere Leben
Lenos Verlag, Basel 2013, 188 Seiten, 19,90 €