Mit der militärischen Intervention Russlands ist in Syrien eine neue Dynamik entstanden, die dazu geführt hat, dass tatsächlich Chancen für einen Waffenstillstand bestehen. Glaubt man US-Außenminister Kerry, dann standen die Chancen für einen Waffenstillstand überhaupt noch nie so gut wie jetzt und das trotz der vielen Toten durch meist russische Luftangriffe in den letzten Wochen. Euphorie ist keine angebracht, scheitern Waffenstillstände doch in der Regel an ihrer Umsetzung aber der Wille scheint sowohl auf der Seite der USA als auch Russlands vorhanden zu sein. Russland hat auch bereits in diesem Zusammenhang die Bereitschaft demonstriert mäßigend auf Assad einzuwirken.
Vorausgesetzt man löst die Frage über die Zukunft der Person Assad, ist es mittelfristig durchaus möglich, dass Vertreter des Assad-Regimes, der verschiedenen machtlosen Oppositionsgruppen und der großen Rebellenmilizen darüber verhandeln werden, wie Syrien nach einem Waffenstillstand aussehen soll. Die Syrer können sich bei diesen Verhandlungen auf die Erfahrungen der Nachbarländer Libanon und Irak stützen; Erfahrungen die beide Parallelen mit den Herausforderungen in Syrien zeigen. Das irakische Beispiel zeigt auf den ersten Blick eine ähnliche Ausgangslage wie in Syrien. Vor 2003 herrschte im Irak ebenfalls ein zumindest ursprünglich säkulares Regime, das sich auf eine religiöse Minderheit stützte und über die religiöse Mehrheit herrschte; zusätzlich strebte eine ethnische Minderheit nach Autonomie. Die von den USA angeführte Invasion veränderte dieses Machtverhältnis vorerst ohne Bürgerkrieg – der kam erst später. Die (schiitische) Mehrheit unterdrückte nun die (sunnitische) Minderheit und die ethnische (kurdische) Minderheit erhielt eine weitreichende Autonomie. Es ist allgemein bekannt wie dieser „Regime Change“ geendet hat, befindet sich der Irak doch mit Unterbrechungen seit 2005 in einem Bürgerkrieg, der die Entwicklung des „Islamischen Staates“ erst möglich gemacht hat. Man muss kein besonders provokanter Geist sein, um heute die Meinung zu vertreten, dass der Irak in seinen ursprünglichen Grenzen nur schwer wieder herzustellen sein wird. Abgesehen von der Autonomie für die Kurden, die sich allerdings als Schritt Richtung Unabhängigkeit herausgestellt hat, bietet das irakische Beispiel demnach kaum positive Anhaltspunkte für eine Neuordnung Syriens.
Wenden wir uns deshalb dem anderen Nachbarland Syriens zu, dem Libanon, in dem zwischen 1975 und 1990 ebenfalls ein blutiger Bürgerkrieg getobt hat. Die libanesische Demographie ist ungleich komplexer aber verkürzt war auch hier die Dominanz einer religiösen Minderheit (der Christen) über eine religiöse Mehrheit (Muslime unterschiedlicher Konfession) die Hauptursache für den Konflikt. Nach 15 Jahren wurde der libanesische Bürgerkrieg, in dem sich längst auch innerkonfessionelle Konfliktlinien gebildet hatten, durch das von Saudi Arabien gesponserte Abkommen von Taif und das syrische Militär beendet. Die Eckpfeiler dieser Einigung waren eine kosmetische Änderung des bereits bestehenden konfessionellen Proporzes zugunsten der Mehrheit (der Muslime), der aber gleichzeitig die (christliche) Minderheit weiterhin überrepräsentierte. Außerdem wurden die wichtigsten Milizführer in das politische System des post-Taif Libanon kooptiert. Garantiert wurde die Umsetzung des Abkommens von Taif durch die Entwaffnung der Bürgerkriegsmilizen unter Aufsicht der syrischen Armee. Leider entpuppte sich die von den Vereinigten Staaten und Saudi Arabien geduldete syrische Präsenz schnell als Besatzung, die nach Kriegsende genauso lange dauern sollte wie der gesamte Bürgerkrieg zuvor. Gerechtigkeit gab es für die Libanesen auch nicht, gerade ein Milizführer musste sich vor einem Gericht verantworten und das unter höchst fragwürdigen Bedienungen.
Ein weiterer Nachteil des libanesischen Modells ist die Regierung unter der Beteiligung ehemaliger Warlords, die mit grassierender Korruption einhergeht. Der Grad der Korruption innerhalb der politischen Elite ist so hoch, dass er es nicht einmal erlaubt ein funktionierendes Abfallwesen aufzubauen, weil man sich nicht über die Aufteilung der Profite einigen kann. In dem auf Proporz und Konsens ausgerichtetem System blockieren sich die einzelnen Akteure ständig gegenseitig und Einigungen müssen durch ausländische Mächte vermittelt werden, wie momentan bei der seit Mai 2014 überfälligen Wahl eines Staatspräsidenten.
Trotz dieser vielen Nachteile ist das libanesische Modell erfolgreich, wenn man die Abwesenheit von Bürgerkrieg seit 25 Jahren als Kriterium für Erfolg ansieht. Die Herausforderungen, die sich für den Libanon aus dem Krieg in Syrien ergeben, wurden bis jetzt auch relativ gut bewältigt – man stelle sich nur vor hierzulande wäre jeder vierte Einwohner ein Flüchtling wie es im Libanon der Fall ist. Durch die ständige politische Blockade aufgrund des konfessionellen Proporzes ergeben sich auch Freiräume für die Zivilgesellschaft, die man in den meisten anderen Staaten der Region vergeblich suchen wird. Das libanesische Modell hat eben auch in der Praxis einige Vorteile und selbst wenn es nur die konfessionelle Vielfalt ist, die durch das politische System garantiert wird. Manchen Sunniten oder Schiiten, die gemeinsam die Mehrheit der libanesischen Bevölkerung bilden, ist dieser Umstand, der nicht zuletzt eine gewisse Säkularität garantiert, gar nicht unrecht.
Es bleibt allerdings die Frage, ob Elemente eines konfessionellen Proporzes nicht erst recht politische Machtkonflikte zu Konflikten zwischen einzelnen Konfessionen transformieren? Ein berechtigter Einwand, der aber im Fall von Syrien der Realität hinten nach hinkt, denn eine Transformation von einem reinen Machtkonflikt zu einem interkonfessionellen Krieg hat bereits stattgefunden. Drohungen gegen Alawiten und die Schia im Allgemeinen kommen nicht nur von radikalen Predigern oder dem „„Islamischen Staat“ sondern auch aus den Reihen von großen Rebellen-Milizen wie der „Islamischen Front“, die allgemein in westlichen Medien mit dem Label „moderat“ bedacht werden. Auf der anderen Seite bedienen sich besonders die ausländischen schiitischen Milizen auf der Seite des Regimes ebenfalls einer höchst sektiererischen Symbolik. Die syrische Gesellschaft ist bereits besonders zwischen Alawiten und Teilen der Sunniten derartig gespalten, dass es nur schwer vorstellbar erscheint, dass Elemente eines konfessionellen Proporzes diese Spaltung vertiefen können – tiefer geht es nämlich kaum mehr.
Wie lassen sich Teile des libanesischen Modells auf Syrien übertragen? Zunächst bedeutet ein libanesisches Modell für Syrien, dass Vertreter des Regimes und der Milizführer an einer Übergangsphase beteiligt werden müssten. Eine Strafandrohung könnte es hier keine geben, jemand der Angst hat das Ende von Saddam und Qaddafi zu finden, wird sich schwer in den politischen Prozess integrieren lassen. Das libanesische Modell zeigt, dass sich ehemalige Milizchefs ohne Strafandrohung in das politische System kooptieren lassen. Weiters müssten die Milizen, um überhaupt in den politischen Prozess integrierbar zu sein, ausnahmslos aufgelöst werden. Wichtig ist die Ausnahmslosigkeit, ist es doch einer der großen Schwächen des libanesischen Modells, dass mit der Hizballah eine Miliz ihre Waffen behalten konnte. Garantiert werden sollte die Auflösung der Milizen von mehreren externen bewaffneten Mächten. Als Anreiz für eine Auflösung können Teile der ehemaligen Milizen in den neuaufgestellten Sicherheitskräften aufgehen. Neben dem „Islamischen Staat“ werden in Syrien auch andere Gruppen wie Jabhat al-Nusra oder vermutlich auch Ahrar al-Sham zu einer solchen Einigung nicht bereit sein und – auch das zeigt das libanesische Beispiel – es wird einer gemeinsamen Anstrengung und ausländischer Hilfe bedürfen, um Gruppen die sich gegen eine politische Nachkriegsordnung stellen zu zerschlagen.
Um die Alawiten als größte religiöse Minderheit in ein neues politisches System zu integrieren, müsste ihnen eine Perspektive in einem zukünftigen Syrien aufgezeigt werden. Eine solche Perspektive kann nur geschaffen werden, wenn die religiösen Minderheiten im neuen politischen System überrepräsentiert sind und so ihre Existenz gesichert ist, wie es auch mit den Christen im post-Taif Libanon geschehen ist. Besonders den Alawiten als größte Minderheit müsste eine Teilhabe am politischen Prozess garantiert werden.
Das libanesische Modell bietet tatsächlich einige Ansätze für eine zukünftige politische Neuordnung Syriens. Der Blick in den Zedernstaat eröffnet aber gleichzeitig den Blick auf eine ganze Reihe von Fehlentwicklungen, die es in Syrien zu vermeiden gilt. Das libanesische Modell hat sich trotzdem als erfolgreich bei der langfristigen Beendigung eines Bürgerkriegs erwiesen und deshalb sollte auch eine teilweise Anwendung auf Syrien diskutiert werden. Um im Gegensatz zum Libanon einen funktionierenden souveränen Staat aufzubauen, bedarf das libanesische Modell aber wichtiger Adaptierungen damit ein dauerhafter politischer Stillstand vermieden wird. Mehr als eine nachhaltige Beendigung des Bürgerkrieges ist momentan in Syrien nicht möglich, dazu sind besonders die Animositäten zwischen Teilen der Sunniten und den Alawiten zu stark ausgeprägt. Ein wirkliches Miteinander wird wahrscheinlich erst in ein oder zwei Generationen möglich sein, bis dahin kann das libanesische System aber die Voraussetzungen für ein friedliches Nebeneinander schaffen.