In einer Atmosphäre sich verschärfender sozialer Polarisierung sind junge Menschen und Migrant*innen unter den Verlierer*innen. Erstere ziehen sich aus Skepsis über die Zukunft und einer Suche nach Sicherheit oft ins Private zurück. Gleichzeitig werden die Benachteiligsten der Globalisierung dafür verantwortlich gemacht. Bestandsaufnahme einer Crisis in the making.
Wäre der Wohlfahrtsstaat das gewesen, als was er in einer idealisierten Vorstellung gedacht war, hätte sich die soziale Pyramide des frühen 20. Jahrhunderts seit Mitte des Jahrhunderts eigentlich langsam zu einem verteilungsgerechten Quader verformen sollen. …genau: sollen. Dieser soziale Wandel hätte auf ständigem Wachstum aufgebaut, dessen Kosten weiterhin von anderen getragen hätten werden müssen. Solange dieses Modell zu funktionieren schien, lebte Europa wie die kapitalistische Made im Überflussspeck ohne sich zu kümmern, welche existierenden globalen Ungleichheiten es damit vertiefte und welche neuen es dadurch schuf.
Nun bildet sich das über die Jahre entstandene soziale Parallelogramm (das es nie zum Quader schaffte) langsam wieder zurück. Abgesehen davon, dass es passiert, sollte uns auch die Art wie es passiert zu denken geben.
Am stärksten betroffen von diesem Prozess ist die Mittelschicht. Deren Ausdünnung vollzieht sich auf verschiedensten Ebenen gleichzeitig, z.B. am Arbeitsmarkt, im Sozial- oder Bildungswesen. Eine wesentliche Begleiterscheinung dieses Prozesses ist die Veränderung der Möglichkeiten und Chancen junger Menschen – der Mittelschichtskinder – in der Gesellschaft.
Dem Mittelstand droht Ungemach
Weltweit ist diese Generation heute nämlich meist besser ausgebildet als ihre Elterngeneration. In dem beschriebenen gesellschaftlichen Transformationsprozess hat das bedeutsame Folgen; mit einer höheren Qualifikation ist nämlich keineswegs mehr der soziale Aufstieg gebucht. Vielmehr beweist sich das als Trugschluss: Schenkt mensch funktionalistischen Stimmen den Glauben, steigt das (formelle) Bildungsniveau zwar seit Jahrzehnten, wogegen kritischen Stimmen aber meinen, dass immer mehr junge Menschen prekär angestellt sind.
Wurde der Generation der jetzt über 30-jährigen ein Studium noch als Sicherheit für überdurchschnittliches Einkommen verkauft, ist es eben diese Generation, die nunmehr an die Grenzen gestriger Garantien stößt. Einer der Gründe dafür liegt darin, dass Bildung, wie auch Ausbildung, einer Marktlogik unterworfen wurden. Das Regelwerk kapitalistischen Wirtschaftens (Gewinnmaximierung führte zu Lohndumping, Outsourcing mündete in Personalleasing, …) taten ihr übriges dazu, dass immer mehr Menschen unter ihrer Qualifikation eingestellt werden. Andererseits nehmen Klientelismus und Korruption beim Kampf um Arbeitsplätze zu (was weiterhin leidenschaftlich unter den Teppich gekehrt wird).
Im ganzen Prozess gibt es noch viele andere Aspekte, die übersehen werden. Zum Beispiel steigt mit dem Verschwinden der Mittelschicht das Potential sozialen Ungleichgewichts. Integrative Politik wird zur immer größeren Herausforderung und soziale Kämpfe werden immer intensiver und häufiger. In einem solchen Klima wird Politik weniger von Solidarität, sondern von Ablehnung bestimmt. Sichtbar wird das ganz deutlich in aktuellen Debatten Flüchtlinge oder Sicherheit betreffend. Diese Liste liese sich beliebig fortsetzen. Aber werfen wir einen Blick auf die Bedeutung des Flüchtlingsthemas in einem solchen Klima.
Flüchtlingspoltik als Sicherheitsfrage?
In einer morbiden post-kapitalistischen Atmosphäre werden Regionen, ja ganze Kontinente, die über Jahrzehnte wirtschaftlich abhängig und politisch gefügig gemacht wurden, nun als „Gefahr“ für den erworbenen Wohlstand dargestellt. Dabei wird unter den Teppich gekehrt, dass die grassierende raubtierkapitalistische Praxis Europas der letzten Jahrzehnte weltweit eine massive gesellschaftliche Polarisierung bewirkt hat und diese nach wie vor vorantreibt. Die Verlierer*innen dieser Ausdünnung sind aber meist gut ausgebildet und auf Arbeitssuche. (Nein, Europa stellt da bei weitem keine Ausnahme dar. Auch woanders suchen Mensch nach Lohnarbeit.)
Von diesen Menschen, fühlt sich die/der Europäer*in bedrängt und in ihrem/seinem Wohlstand bedroht. Flüchtlinge und Einwanderer*innen des globalen Südens werden deshalb ohne mit der Wimper zu zucken inbrünstig kriminalisiert und entmenschlicht.
Auch wenn nicht auf den ersten Blick erkennbar, hat sich der politisch künstlich „erweiterte“ Sicherheitsdiskurs über das Flüchtlingsthema einen Platz in der vordersten Reihe politikbestimmender Themen gesichert. Und diese Themen bestimmen die zukünftigen Herausforderungen Europas. Migration, einer der ureigensten Prozesse der Menschheitsgeschichte, wird in diesem Zug zur Sicherheitsbedrohung hochgezüchtet in der zwischen Migrant*innen und Flüchtlingen sowieso nur selten ein Unterschied gemacht wird. Für die Zukunft ergibt die Mischung (Un)Sicherheit und Flüchtlinge eine explosive Mischung.
Ungeniert löst eine solche Sicht auf die Dinge eine Paranoia aus, mit welcher sich leicht Politik machen lässt. Unreflektiertes fügt sich meist nahtlos in rechtspopulistische Rhetorik ein. Das „die Linke“ – von der es zu erwarten wäre – dem nur wenig griffiges zu entgegnen hat, ist zwar ein anderes Thema, das aber bestimmt erwähnt werden muss. Besonders in Österreich scheint die blasse Selbstbeweihräucherung im linken Lager seit Jahren an Enttäuschung nicht zu überbieten zu sein. Bewältigt wird dadurch keine der Herausforderungen, nur die Fronten verhärtet.
Währenddessen wird die EU-Flüchtlingspolitik von so genannten „Sicherheitsforschungsprogrammen“ bestimmt. Das Ergebnis einer solchen Politik drückt sich in steigenden Opferzahlen im Mittelmeer und immer härteren und selektiveren Einwanderungsgesetzen aus. Dass eine solche Herangehensweise unweigerlich in einer Marinemission gipfeln muss, die sich den Herausforderungen der Flüchtlingspolitik annimmt ist nur ein weiterer trauriger Höhepunkt der gescheiterten EU-Nachbarschaftspolitk, die ursprünglich genau eine solche Entwicklung umlenken, abfangen, schlicht „vermeiden wollte“. Ob denn die Mittel und Wege mit der diese Politik betrieben wurde ihren Zweck erfüll(t)en, wird in dieser absurden Debatte gar nicht mehrhinterfragt. Dafür wird die geplante EU-Marinemission im Mittelmeer hochgepriesen, anstatt kritisch nach den Gründen dieses Flüchtlingsdramas und nach der Rolle Europas, vor allem des historischen Europas, zu fragen.
Ergo: Auf keiner Ebene wird ehrlich in Frage gestellt, woher die Paranoia kommt, mit der Politik gemacht wird. Dafür werden in Kärnten wie in Brüssel, hier und dort, munter Menschenrechtsfragen in Sicherheitsfragen umgewandelt und die eigene Verantwortung an sich verschärfenden hausgemachten sozialen Kämpfen heruntergespielt und peripherisiert. Ein Ende ist nicht absehbar.
Reaktionäres Neo-Biedermeiertum
Aber kommen wir zurück zur Verschiebung der Perspektiven junger Menschen in einem solchen Klima. Unter sich verschlechternden sozio-ökonomischen Bedingungen führ(t)en die Gesetze des Marktes (die heilige Kuh) zu sich ständig verschärfenden Gesellschaftsunterschieden. Durch diese Veränderungen werden Zweifel, Skepsis und Ängste geschürt. Die Instrumentalisierung des Sicherheitsdenkens ist, wie bereits angerissen, ganz zentral dabei.
Ein anders Anzeichen dafür ist z.B. der enorme Leistungsdruck, dem mensch beim Eintritt ins Gesellschaftsleben ausgesetzt ist. Statt dem dadurch ersehnten sozialen Aufstieg, bleiben unterm Strich aber eher permanente Zukunftsängste und stressbedingte Krankheiten übrig. Diejenigen, die diesen Hamsterkreislauf nicht mehr mitmachen wollen, brechen aus, ziehen sich zurück und nehmen anstatt eines Jobs, der ihrer eigentlich erarbeiteten Qualifikation entspricht, einen erstbeliebigen an, weil dieser zumindest ein gewisses Maß an Stabilität bietet. Der Rückzug ins Private und die Suche nach Zufriedenheit in alternativen Konsum- und Lebensformen ist keine Seltenheit mehr. Ein wenig stellt sich diese Situation wie ein modernes Biedermeiertum – ein Neo-Biedermeiertum – dar.
Anders als im Biedermeier flüchtet mensch diesmal aber nicht vor der hektischen Welt der sich industrialisierenden Städte oder etwa vor dem System Metternich. Diese Flucht ist anders, fast schizophren. Sie hätte das wunderbare Potential in Alternativen zu verlaufen, verläuft aber ausgesprochen oxymorisch. Anders formuliert: Das kapitalistische Wirtschaftsmodell wird zwar verteufelt, aber nichtsdestotrotz bedient. So suggeriert alternativer Konsum, die Welt könnte gemütlich von zu Hause aus verbessert werden, wenn mensch nur das „Richtige“ kauft. Mensch bastelt irgendwie an Veränderung und „verschwindet“ hinter den eigenen vier Wänden, eingebunkert zwischen Ikea und Butlers während vor der Haustür die größten Umwälzungen seit Jahrzehnten vonstatten gehen.
Viele Alternativen – zumindest Mainstreamalternativen – sind aus jetziger Sicht aber noch immer mehr hipp (ja, im Sinne von Hipster) als notwendig und benötigen einen Kundenstock, welcher über das nötige Kleingeld verfügt. Andererseits ist aber interessant, dass sich einige der „neo-biedermeierischen“ Alternativen nicht alleine zunehmender Beliebtheit erfreuen, sondern ökonomische Gründe haben, da Praktikant*innengehälter Arbeitnehmer*innen bereits am Karrierebeginn in Ausbeutungsverhältnissen fesseln: Greisslerläden statt Hypermarkets, Stadt- statt Landflucht, Subsistezwirtschaft statt Konservendosen, Food Coops statt Treibhausgemüse, dumpstern statt Hamsterkauf, Selbstgestricktes statt Stangenware, Familien- statt Singleleben, Handwerk statt Billigfabrikat, regionale Bio-Produkte statt China-Emulgatoren.
Fortschritt als Rückschritt
…was bleibt festzuhalten am Ende all dieser Gedanken? …was hat das alles miteinander zu tun?
Eines ist sicher: Das (zentral-)europäische Gesellschaftsmodell des 20. Jahrhunderts befindet sich in Auflösung. In Zukunft wird es die größte Herausforderung werden mit Rückschritten umgehen zu lernen. Anders ausgedrückt: Fortschritt wird in vielen Lebensbereichen in Zukunft Rückschritt bedeuten.
Dabei wird Zentral-Europa etwas erleben, dass es seit einem Jahrhundert nicht mehr gegeben hat: Das Level an Wohlstand wird unter dem der Elterngeneration liegen. Für viele Menschen drückt sich das bereits in einer unkoordinierten Flucht aus zermürbenden Kreisläufen aus.
Obwohl die Politik eigentlich mit Vorraussicht den daraus entstehenden Probleme von morgen vorbeugen sollte, verfängt sie sich in kurzsichtiger „Symptombekämpfung“ wie der Kriminalisierung von Einwanderer*innen oder Kürzung von Sozial- und Bildungsausgaben. Demokratie lebt zunehmend von moralisierenden Anfeindungen statt von Debatten über Alternativen im gegebene politischen Spektrum: Die Entfremdung politischer Institutionen, der Vertauensverlust in die Politik, die Ausbreitung des Gefühls der Vergeblichkeit politischer Beteiligung und die symptomatische Konstruktion von Feindbildern aus den Opfern von Globalisierunsprozessen – das alles sind Europas Debatten von heute.
Antworten darauf liegen oft in populistischem Fingerzeig, wahlperiodsichen Lösungsansätzen, farbenprächtigem Parteigeplänkel und manchesmal gierigen Hetzreden, während wirksame, umsetzbare Alternativen in einem solchen Klima heißbegehrt bleiben. Ob desillusionierte bürgerliche Jungparteien, elitäre Globalisierungsgegner oder polemische Hetzer sie finden werden, bleibt zu bezweifeln.
In integrativen Alternativen zu denken ist im gegenwärtigen Transformationsprozess insofern nicht nur die Mindestanforderung an eine verantwortungsbewusste Politik, sondern an jedeN EinzelneN. Eine starke europäische Identität im 21. Jahrhundert muss auf sozialer Inklusion und kritischem Bewusstsein globaler Prozesse aufbauen, um in einer komplexen Welt den kommenden Herausforderungen gewachsen zu sein.