Im April dieses Jahres jährte sich der Ausbruch des libanesischen Bürgerkrieges bereits zum 40. Mal. Als Kind der 1980er-Jahre waren die TV-Bilder des Bombenhagels auf Beirut, die imposante Erscheinung von PLO-Chef Arafat sowie die ständigen Flugzeugentführungen immer etwas, das ich mit dem Wort „Libanon“ verband. Dass es mich zwei Jahrzehnte später dann selbst in dieses Land verschlägt und es über Jahre sogar ein integraler Bestandteil meines Lebens wurde, verblüfft mich heute noch. Doch was geschah damals?
Eine Schilderung der genauen Ereignisse würde den Rahmen dieses Artikels bei Weitem sprengen und kann ohnehin im Internet nachrecherchiert werden. Nur so viel sei gesagt: Die Situation im Libanon war vor allem seit dem Endes des Schwarzen Septembers 1970, der der PLO eine bittere Niederlage in Jordanien bescherte und sie zur Verlegung ihres Kommandositzes von Amman nach Beirut zwang, besonders prekär. Zu den sozialen Spannungen im Libanon, die sich vor allem entlang konfessioneller Linien zwischen den verfassungsmäßig politisch und demnach auch wirtschaftlich privilegierten Christen und den am wirtschaftlichen Boom von Beirut weniger profitierenden Muslimen zeigten, kam noch das Problem der sich allmählich zum Staat im Staate entwickelnden Palästinenser hinzu. Seit Ende 1969 genießen die Palästinenser nämlich eine militärische sowie verwaltungspolitische Autonomie in ihren Flüchtlingslagern im Libanon, aufgrund eines geschickten Deals, den Arafat mit Hilfe von Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser mit der libanesischen Regierung aushandeln konnte. Da die sozialen Unterschiede zwischen Christen und Muslime enorm waren, fanden sich die ärmeren libanesischen Schichten in ihrem persönlichen Leid in den Palästinensern wieder und solidarisierten sich demnach mit ihnen. Der Kampf um die Befreiung Palästinas ging nunmehr Hand in Hand mit dem Kampf für eine gerechtere Verfassung im Libanon zugunsten einer demographisch betrachtet muslimischen Mehrheit, die politisch jedoch nach wie vor als Minderheit behandelt wurde. Im Hintergrund dieser Entwicklungen bemühte man sich von allen Seiten zwar um eine diplomatische Lösung, jedoch fand auf den Straßen von Beirut eine parallele Entwicklung statt, die sich in gegenseitiger Radikalisierung und Militarisierung widerspiegelte. Man befand sich de facto daher schon seit Anfang der 1970er Jahre in einem kalten Bürgerkrieg, den es jedoch zu verhindern galt. Endgültig waren es allerdings die Ereignisse des 13. April 1975, die zum Ausbruch des Bürgerkrieges führten. Was damals geschah, wurde als das „bus massacre“ bekannt und gilt auch heute noch als festgefahrene Meinung und als Grund für den Ausbruch des Bürgerkriegs.
Am 13. April 1975 berichtete die bekannte libanesischen Tageszeitung An-Nahar, dass es zu einem Massaker kam, begangen von maronitisch-christlichen Phalangisten an palästinensischen Zivilisten. Demnach war ein Bus mit unbewaffneten Palästinenserinnen und Palästinenser lediglich am Heimweg von einer Veranstaltung. Dabei fuhren sie durch den Ostbeiruter Stadtteil Ain El Rummaneh, als plötzlich ein Phalangisten-Kommando den Bus attackierte. Noch heute spricht man daher vom „bus massacre“ als Initialzündung für den libanesischen Bürgerkrieg, der bis 1990 dauern sollte. Noch am selben Abend beschossen politisch linksgerichtete pro-palästinensische sowie muslimische Milizen, die überwiegend im Westteil der Stadt lebten, die Stellungen der vorwiegend im Ostteil der Stadt lebenden und als politisch rechts stehenden maronitischen Christen. Die Familie Gemayel war der militärisch sowie politisch einflussreichste maronitische Clan. Durch Beirut verlief danach eine Demarkationslinie, die erst 15 Jahre später wieder beseitigt werden sollte.
Nun denn, auch ich habe jahrelang an dieser Version festgehalten und es fiel mir leicht, die Fronten in „rechte“ Christen und „linke“ Muslime einzuteilen, zumal mir die palästinensische Sache bis heute eine persönliche Herzensangelegenheit ist. Also in ein „gutes“ Westbeirut und in ein „böses“ Ostbeirut. Nie stand diese Sichtweise für mich außer Frage. Zumindest bis ich mich im Winter 2008 dank einer Verkettung von vielen Zufällen bei einer privaten Essenseinladung in Ostbeirut plötzlich am Tisch des Mannes wiederfand, der den ersten – und damit historischen – Schuss auf den besagten Bus abgab. Im Laufe der Jahre wurde mir dieser Mann, der mich bat, seine Geschichte vertraulich zu behandeln, zu einem Freund. Ich lernte den Menschen hinter dem „Bösen“ kennen, ich hörte seine Darstellung der Ereignisse vom 13. April 1975. Und ich lernte auch ein paar seiner damaligen Kameraden kennen. Und hörte zwei übereinstimmende Darstellungen zu den Ereignissen diesen Tages, jedoch erzählt von zwei Männern, die damals noch junge Burschen waren. Der eine, nennen wir ihn Joseph, war damals ein selbstbewusster 23-jähriger Student und Jugendfunktionär in der Phalange-Partei von Ain El Rummaneh. Der andere war sein Schwager in spe und damals ein eher verängstigter und schwacher Bursche von 19 Jahren, der nach eigenen Angaben bis heute traumatisiert ist von den Geschehnissen dieses Tages und sogar Jahre danach noch von Alpträumen verfolgt worden ist:
Joseph war an diesem Tag zu Hause, als plötzlich bekannt wurde, dass in seiner Parallelstraße von einem vorbeifahrenden Auto Schüsse auf den Phalangisten-Chef Pierre Gemayel abgefeuert wurden, welcher kurz zuvor noch in einer kleinen Kirche eine Messe besuchte. Joseph wurde daher angehalten, zusammen mit seinen Kameraden eine Straßensperre zu errichten, um die Gegend vorübergehend zu sichern. Als dann etwas später ein Bus mit Palästinensern kam, wurde dieser von Joseph und seinen Kameraden gestoppt. Joseph erzählte mir, dass dann plötzlich alles sehr schnell ging. Als Kommandant dieser Straßensperre, die sich gleich hinter seinem Haus befand, aber in derselben Straße der kleinen Kirche, wo kurz zuvor der Attentatsversuch auf Pierre Gemayel passierte, sah er aus dem Bus einen Gewehrlauf in seine Richtung zeigen. Er reagierte schnell und schoss. Alle anderen schossen in Panik ebenfalls auf den Bus und auch die Anrainer (es handelt sich um eine Wohngegend!) schossen von den Balkonen ihrer Häuser auf den Bus, zum Teil mit Schrotflinten und Jagdgewehren. Indes versteckte sich sein Schwager, der vor Angst ergriffen war, in einem Rinnsal. Die Ereignisse überschlugen sich. Joseph wurde leicht verletzt und musste daher ins Krankenhaus gebracht werden. Er sah dann nicht mehr, was weiter am Ort des Geschehens passierte. Ihm wurde vonseiten der Phalange-Partei verboten, darüber zu sprechen und seine Identität preiszugeben. Später las er dann im An-Nahar, dass maronitische Faschisten ein Massaker an palästinensischen Zivilisten verübt hätten. Diese Darstellung von An-Naher war ausschlaggebend für den Ausbruch langanhaltender Gefechte und der militärischen Abriegelung beider Stadtteile.
Ich selbst besuchte Ain El Rummaneh mehrmals und habe die ganze Szenerie genauestens unter die Lupe genommen. In der Tat musste ich mir zahlreiche Fragen stellen. . Viele Ungereimtheiten beschäftigen mich. Zum einen ist mir kein Palästinenser bzw. vormals linker Kämpfer bekannt, der Ain El Rummaneh persönlich kennt oder nach dem Bürgerkrieg besucht hat. Trotz der Versuche, die damaligen Ereignisse rational mit namhaften Personen der PLO und PFLP zu diskutieren, wies man Diskussionen darüber zurück mit dem Einwand „It’s their propaganda!“. Wenn man von offizieller maronitischer Seite eine Stellungnahme dazu einholen möchte, wird man genauso enttäuscht. Die Geschichte wird totgeschwiegen. So war es für mich dann auch nicht weiter verwunderlich, dass Joseph nie mehr darüber sprach, zumindest nicht außerhalb seiner Familie. Bis zu diesem Abendessen eben. Seltsamerweise hat auch kein mir bekannter libanesischer Historiker oder Libanon-Experte im Pool der Expats es sich je zur Mühe gemacht, den Ort des Geschehens innerhalb der letzten 40 Jahre persönlich zu besuchen. Hierfür sind die Fronten auch heute noch zu verhärtet. Lediglich der Historiker und linke Intellektuelle sowie damals aktive Teilnehmer an den ersten Kampfhandlungen, Dr. Fawaz Traboulsi, räumte mir gegenüber ein, dass das „Märchen“ der unbewaffneten Zivilisten nicht stimmt und es durchaus bekannt sei, dass An-Nahar die Story damals erfand. Aber mehr wisse auch er nicht über die genauen Umstände des „bus massacre“. Geschichtsrevisionismus ist in diesem Land, das bis heute entlang sozio-konfessioneller Linien tief gespalten ist, leider an der Tagesordnung. Lange schon meide ich die libanesische Presse, weil diese meist zu voreingenommen und viel zu polemisch berichtet. Egal ob links oder rechts, Polemik bestimmt die journalistische Arbeit.
Ich habe den Ort des Geschehens mit den Protagonisten des damaligen „bus massacre“ mehrmals besucht und mir zumindest ein Bild machen können. Folgende Ungereimtheiten lassen die Version von Joseph daher plausibler erscheinen, als die offizielle Darstellung: Zum einen handelte es sich um eine reine Wohngegend und um eine eher verwinkelte Straße, unweit von den viel praktischeren Hauptverkehrsrouten wie etwa der Damaskus-Straße oder der Furn el Shebbak-Straße in der Nähe des Nationalmuseums. Stattdessen ist die Maroun-Straße eine vergleichsweise eng und somit alles andere als eine Abkürzung oder Durchfahrtroute. Warum der besagte Bus diesen Weg nahm, um von einer Veranstaltung der PFGP-GC1 im Tal El Zaater-Flüchtlingslager zurück ins Burj El Barajne-Flüchtlingslager zu fahren, ist zumindest aus verkehrslogischer Sicht völlig unverständlich. Warum also hat der Bus nicht eine andere Richtung genommen? Warum hat er stattdessen die Maroun-Straße gewählt, also genau dort, wo sich auch heute noch die Kirche befindet, bei der kurz zuvor der Attentatsversuch auf Pierre Gemayel verübt wurde? Man wusste, dass es nach dem Attentatsversuch zu Straßensperren in den christlichen Hochburgen kommen würde, v. a. aber am Ort des Geschehens. Warum würde also ein Bus mit Zivilistinnen und Zivilisten just diese Route wählen?
Zum anderen gibt einem auch die Veranstaltung zu denken, die in Tal El Zaatar zuvor stattfand. Die PFLP-GC hatte – damals wie heute – innerhalb der palästinensischen Szene einen höchst zweifelhaften Ruf und überwarf sich schon im Vorfeld mit der Fatah-Bewegung von Yassir Arafat und der PFLP von George Habbash. Die PLO war sich durchaus bewusst, dass die PFLP-GC Versuche unternehmen könnte, friedliche Lösungsansätze der damaligen Libanon-internen Spannungen mit den Palästinensern zu kolportieren. Ghassan Tueni, zu dieser Zeit Chefredakteur und Herausgeber des An-Nahar, war andererseits bekannt als fragwürdige politische sowie auch als manipulative journalistische Figur, die immer wieder von dubiosen Quellen finanziert und gefördert wurde.
Mir zwingt sich dabei immer der Vergleich zu Berlusconis italienischer Mediaset auf. Er war damals außerdem Parlamentarier und stand in feindseliger Opposition zur Gemayel-Familie. Daher hätte er zumindest ein Interesse daran gehabt, die Gemayel-Familie politisch noch weiter zu isolieren als sie dies ohnehin bereits war. Dies könnte eventuell auch erklären, warum An-Nahar damals von einem „Massaker an Zivilisten“ sprach. Ich kam daher zur Überzeugung, dass dieses historische Ereignis von An-Nahar bewusst verfälscht dargestellt wurde.
Die Berichterstattung des An-Nahar war sicher nicht der Grund, der zum Ausbruch der Kämpfe führte, hat aber wesentlich zur Verhärtung der Fronten beigetragen, weswegen die Geschichte des libanesischen Bürgerkriegs nicht ohne die tragende Rolle der libanesischen Medien erzählt werden kann. Ich erwartete mir für dieses traurige Jubiläum Gedenkveranstaltungen, ich erwartete mir seriöse Artikel und Darstellungen der Ereignisse von vor 40 Jahren, ich erwartete mir eine historische Aufarbeitung. Stattdessen ging dieses traurige Jubiläum in den libanesischen Medien eher unter. Hie und da ein kleiner Hinweis auf den 40. Jahrestag, jedoch nichts weiter. Weswegen ich mich dann doch entschied, eine persönliche Version dieser Geschichte zu erzählen, die ich vor Jahren aus erster Hand erfahren habe.