Die Welt ist ziemlich in Unordnung. Das ist im Grunde nichts Neues und daran wird sich auch nichts ändern. Denn egal wer nun #JeSuisCharlie ist und wer nicht, den Nutzen aus dem Attentat und der gesellschaftlichen Polarisierung Europas werden die Herrschenden ziehen.
Wenige schlagen sich die Bäuche voll und die große Mehrheit kaut auf ihren Fäusten herum. So ist das Leben, singt Josef Hader: „Der eine kommt nach Paris, der andere nach Schrunns-Tschagguns. (…) und in 70 Joa kennt uns kana mehr.“ Manche landen vielleicht auf einer Südseeinsel und ertrinken dort in 50 Jahren, weil der Meeresspiegel ansteigt. Das ist aber eher die Ausnahme. Die Attentate der vergangenen Wochen werden dafür sorgen, dass auch alles so bleibt, wie es ist. Oder, wenn es schlimmer wird, dass wir die Schuldigen schnell gefunden haben. Hierfür sorgen Charlies Engel, die die „Herren der Welt“ für sich zu instrumentalisieren wissen:
Charlies Engel der „externen Bedrohung“
Damit alles so bleibt wie es ist, bedarf es der „externen Bedrohung“. Bis 1989 war es meistens der „Real Existierende Sozialismus“, danach einzelne Staaten wie Irak oder Serbien, oft auch die Kurden oder Palästinenser. Spätestens seit 9/11 ist es vor allem „der internationale Terrorismus“, der Koalitionen der Willigen in Kriege ziehen ließ für „Freedom“, „Liberty“ und „our way of life“, manchmal auch für ihre Religion. Im Falle Frankreichs waren es jüngst Konflikte in Libyen und Mali. Auf den Bannern der Streitmacht stand Terrorismusbekämpfung, humanitäre Intervention und „Responsibility to Protect“ – für die Demokratie und gegen den barbarischen Despotismus. Die Durchsetzung geopolitischer Interessen, wie die Sicherung von Uranvorkommen im Niger, sind die wohlverdiente Beute eines gerechten Krieges der Aufklärung. „Militärische Interventionen“ und „gezielte Tötungen“ erscheinen in demokratischem Lichte. Etwas, das sowohl westlichen Militärs als auch der gegnerischen Seite den notwendigen Pathos in der Kriegsführung verleiht. Freilich verwenden wir den Begriff Terror nur dann, wenn er gegen uns eingesetzt wird und nicht, wenn wir selbst Zivilisten ermorden. So geschehen in Belgrad 1999, als die NATO einen serbischen TV Sender absichtlich bombardierte oder in Fallujah 2004, als US-Marines ein Krankenhaus stürmten, um zwei Beispiele von zahlreichen anderen zu nennen.
Die externe Bedrohung durch kaltblütige Mordbanden wird wieder einer Koalition der Willigen bedürfen: Einem Europa, das die „demokratischen Werte der Aufklärung“ verteidigt und diese notfalls auch mit Feuer und Drohne in die Länder der unliebsamen Feinde trägt.
Charlies Engel des „Okzidents und nicht des Orients“
„Dem Islam fehlt die Aufklärung und das ist gefährlich“ – eine Aussage, die, je nachdem ob sie im bürgerlichen Feuilleton oder im Boulevard steht, mehr oder weniger deutlich mitschwingt. So genannte Magazine für Leute, die lesen, schärfen ihr Profil mit der Rhetorik eines Covers, das die Master-Message gekonnt vorwegnimmt: „Was den Islam gefährlich macht“, glänzt vom Sujet gemeinsam mit bewaffneten Kämpfern. Der Islam, kommend aus dem Orient, ist eine Bedrohung für unsere demokratische Gesellschaft. Hier herrschen die Vernunft und der Humanismus. Es ist aber genau dieser humanistische Geist, der uns von der bedingungslosen Ratio der Aufklärung ins „Jahrhundert der Lager“ brachte und Krieg und industrielle Vernichtung ungeahnten Ausmaßes über Europa säte. Die antisemitischen Töne eines Voltaire wurden ebenso zu Randnoten der Geschichte erklärt wie das Rassendenken eines Immanuel Kant. Diese nebulösen „Werte der Aufklärung“ haben seit #JeSuisCharlie wieder Hochkonjunktur und wurden zur Speerspitze einer pseudo-akademischen Polemik gegen eine Religion. Dadurch verhärten sich Fronten und ein gefährlicher Dualismus entsteht, der andersgelagerte gesellschaftliche Problemlagen verschleiert: Der Islam wird als “Darstellungsform des Anderen” genutzt, um das Eigene aufzuwerten und gesellschaftliche Defizite wie die soziale Frage zu nivellieren. Eine auf den Islam fixierte Diskussion der Attentate von Paris spielt der Konstruktion einer westlich-europäischen Schicksalsgemeinschaft in die Hände, die sich über eine „Erfindung der Tradition der Aufklärung“ definiert. Eine „fremde Religion“ wird zum anti-modernen Gegenprojekt stilisiert. Diese Darstellung nützt nicht nur rechtsextremen Kräften, sondern auch jenen, die ihren Einfluss erhalten möchten.
Religionskritik ist dennoch angebracht, allerdings immer in Form einer Ideologiekritik und nicht als Herrschaftsinstrument: Unser goldenes Kalb bezeichnete der Ökonom Stephan Schulmeister trefflich als „marktreligiöse Wissenschaft“. Der Engel des „Okzidents und nicht des Orients“ trägt dazu bei, die Kritik an unseren eigenen Götzen der Wachstumsblindheit, des Marktglaubens und des Konsumismus zu vergessen, zugunsten einer Islamfeindlichkeit, die weit in die bürgerliche Mitte hineinreicht.
Charlies Engel der Freiheit
Freiheit bedeutet, all das tun zu können, was man möchte, seine Meinung sagen zu dürfen, verwirrende, polemische Artikel zu schreiben und deswegen nicht im Gefängnis zu landen. Allerdings bedeutet „sich-frei-fühlen“ nicht unbedingt auch wirklich frei zu sein. Von Trier bis nach Palästina führten uns Philosophen vor Augen, dass individuelles Handeln begrenzt wird durch Denken, Macht und Struktur. Wenn in den „Ländern der Aufklärung“ von der Verteidigung der Freiheit gegen die Barbaren die Rede ist, dann geht es um das Freiheitsverständnis der Herrschenden: totaler Konsum, einseitige Transparenz, grenzenloser Individualismus. Dabei hieße es, gerade diese Freiheit zu hinterfragen und nicht mit dem Finger auf die Unfreiheit anderer zu zeigen.
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Die drei Engel für Charlie lassen uns das Vorgehen der Mächtigen unhinterfragt hinnehmen. Die Konstruktion einer Schicksalsgemeinschaft dient Eliten, ihr Handeln zu rechtfertigen, selbst wenn es weder „aufgeklärt“ noch „demokratisch“ ist. Während die soziale Zuspitzung längst in Europa angelangt ist, sich Ernährungs- und Finanzkrisen häufen und der Klimawandel seinen Tribut fordert, bringen uns die drei Engel für Charlie die guten alten Feindbilder zurück und alles bleibt dann so, wie es ist. Auch wenn es schlimmer wird. Und suchen wir nach einer gefälligen Antwort, beschwören die „Herren der Welt“ den „Kampf der Kulturen“ herauf.
Josef Hader würde vermutlich sagen: „Jetzt hamma wos zum Reden und in 70 Joa kennt des dann kana mehr.“
C’est la vie.