Bei einem Treffen mit einem desertierten syrischen General in einem türkischen Grenzort wird deutlich, dass hinter jedem Krieg individuelle Traumata stehen und jeder Schritt in einer sich transformierenden Umgebung neue Wahrheiten erzeugt.
Südostanatolien. Mir gegenüber sitzt ein desertierter General der syrischen Armee. In einem leeren Restaurant erzählt er mir aus seiner Sicht über das Land, das sich nur ein paar Kilometer weiter südlich seit Jahren in einem Auflösungsprozess befindet. Adnan Salo, einst zuständig für das Chemiewaffen-Arsenal Syriens, setzte sich schon vor den Giftgasangriffen in Ghouta bei Damaskus Ende August 2013 in die Türkei ab. Mittlerweile hat er eine leitende Position in einer größeren Einheit der Freien Syrischen Armee (FSA).
Im Laufe des Gesprächs wird mir klar, dass die meisten Konfliktlösungsstrategien den Krieg verlängern statt ihn zu lösen. Der General selbst will aber weiter für sein Syrien kämpfen, für die Kinder und die Zukunft. Was aber Syrien denn eigentlich jetzt ist, bleibt der Interpretation jeder und jedem Einzelnen überlassen. Der Krieg in Syrien ist ein Konflikt der tausenden Interessen, Facetten, Meinungen und Interpretationen.
Von Heiligen und Dämonen
Sein Leben in den Dienst einer Sache zu stellen kann mehrere Gründe haben. Für alle jene, die nicht das Erlebnis einer Epiphanie oder sonstiger einschneidender Erlebnisse nennen können, spielt meistens die Sozialisation und die Annahme einer ganz speziellen Sichtweise auf die Welt eine maßgebliche Rolle. Gemeinhin spricht man dann von “seiner” eigenen Wahrheit.
Adnan Salos Wahrnehmung der Welt (oder zumindest seiner Umgebung) hatte zum Ergebnis, sich ein Leben lang in den Dienst Syriens zu stellen. In seinem Fall bedeutete das, sich auf eine Offizierskarriere einzulassen, die seine Wahrnehmung nachhaltig prägen sollte. So wurde ihm ein verklärtes Bild des Landes vermittelt, das es für einen Großteil der Syrer*innen nie gab.
In seiner Wahrnehmung war er Soldat einer Armee, die stets bereit war sich in einen nächsten Krieg zu stürzen, um sein Land nach außen hin zu verteidigen (dabei ist vor allem Israel gemeint, das traditionell zum höchsten aller Übel hochstilisiert wurde). Dabei musste er, wie andere in seiner Umgebung, ein Narrativ aufrecht halten, dem ein brüchiges und problematisches Elitendenken zugrundelag. In diesem Narrativ war die Regierung Asad gottgleich, der syrische Nationalismus ein Dogma, die äußeren Feinde Dämonen und das Mutterland Syrien das Zentrum der Welt.
Dass dieses Narrativ 2011 infolge von internen Protesten zerbrach, ist für den General besonders schmerzvoll, sogar traumatisierend. Das wird mir bewusst, als ich ihm gegenübersitze. Vieles woran er glaubte änderte sich, als seine Armee begann auf die eigene Bevölkerung zu schießen.
Wer es nicht schaffte sich in das neue Narrativ – in dem terroristische Gruppen das friedliche Syrien zerstören – einzufügen, floh, bzw. desertierte und begann die einstige unkritisierbare Führungsriege zu dämonisieren. So kommt es, dass Asad für Adnan Salo schlimmer sein muss als Hitler, wie er selber meint. Um mit dem Verlust dessen woran er glaubte umgehen zu können, baute er sich eine neue Welt in der sich zwar seine Perspektive änderte, nicht aber sein Standpunkt. In zahlreichen Vergleichen konstruiert er sein Gegennarrativ und breitet es vor mir aus:
Hitler muss genauso unmenschlich gewesen sein, wie es Asad jetzt ist. Der Schaden, den die Luftangriffe durch das Regime anrichten, sind 47x schlimmer als die Wucht der abgeworfenen Atombomben in Hiroshima und Nagasaki zusammen – beidesmal werden unschuldige Zivilist*innen getroffen.
Dass diese Wahrheit genauso brüchig ist, stört dabei nicht weiter. Wichtig ist es mit dem Trauma umgehen zu können, welches dadurch genährt wird, dass mittlerweile auch seine Söhne als FSA-Kämpfer bei Kämpfen umgekommen sind.
Am Ende sind wir alle Menschen, die sich in solchen Zeiten notfalls eigene Realitäten basteln, um dorthin flüchten zu können.
Abgesang der FSA…
Für Adnan Salo ist die FSA klar eine der stärksten Kräfte in Syrien (was aber gleichermaßen bezweifelt werden kann), die aber aufgrund der fehlenden Ressourcen und der schlechten Ausrüstung keinen Erfolg erkämpfen kann. Er pochte deshalb stark darauf, endlich die von den USA versprochenen Waffenlieferungen zu erhalten. Dabei blieb er in seiner angelernten Logik verhaftet: Der Krieg in Syrien könne nur militärisch gelöst werden. In dem Moment wird mir klar, dass ich einem syrischen General gegnübersitze, der sich zwar von seinem alten Leben in Syrien lossagte, sich selbst aber nicht entkommt. Er bleibt in seinem Habitus, wird nie ein Künstler werden, der dem Krieg gedichteschreibend entgegenwirkt. Er bleibt Militär, der sich als Handlungsgrundlage eine neue Wahrheit schafft.
Während die FSA also mit militärischen Mitteln um die Vorherrschaft in Syrien mitzukämpfen versucht, ist sie aber durch unzureichende Bewaffnung und Unterfinanzierung gelähmt.
Dabei ist es aber wahrscheinlich, dass die FSA geradezu an Ermangelung ihrer eigenen Fähigkeiten scheitert. Einerseits können die verschiedenen Einheiten nicht kohärent eingesetzt werden, womit kein verbundenes Zusammenwirken möglich ist. Für ein solches müssen vor allem Abstimmungsprobleme gelöst werden. Der genaue modus operandi der Koordination innerhalb der FSA – zwischen militärischer Führungsebene und ihren Einheiten – bleibt schleierhaft. Dieser ähnelt bestenfalls einem bruchstückhaften modus vivendi, einer anlassbezogenen Kompromisslösung, die Ausdruck eines Aufeinanderprallens von höherer militärischer Planungsnotwendigkeit und Improvisation im Feld ist.
Zudem schafft es die FSA nicht, dieses Manko aufzuheben indem sie sich nach außen hin glaubwürdiger in Szene setzen. Gruppen wie der Islamische Staat wiederum beherrschen diese Facette moderner Kriegsführung perfekt. Die zusätzlichen Ressourcen, die dabei gewonnen werden, münden in einer Spirale des Erfolgs. Beides fehlt der FSA.
…und was man davon lernen kann
Es drängt sich mir die Frage auf woher es kommt, dass manche Gruppierungen in der Lage sind sich zu vermarkten, während andere es offensichtlich nicht schaffen? Ein Grund wird mir dabei im Gespräch mit dem General geliefert.
Soldaten müssen sich selten über etwas Gedanken machen, das außerhalb des Schlachtfeldes passiert. Jene, dessen Aufgabe eben genau das ist, sind im Gegenzug in den seltensten Fällen an Kämpfen beteiligt, sondern arbeiten im Hintergrund. Ein normaler Soldat macht sich keine Gedanken über Propaganda oder die politische Situation. Wenn also ein altgedienter Soldat, wie der mir gegenübersitzende Adnan Salo meint, dass man ihm nur die notwendigen Ressourcen sicherstellen müsse, damit er daraufhin eine Armee zusammenstellen könne, handelt er genau dieser Logik entsprechend. Er muss kämpfen um einen Sieg zu erringen; das nicht gekämpft werden kann liegt am Nachschub. Nur: Dieser Zugang wird den Konflikt in Syrien nicht lösen. Diese Logik hat bis heute noch keinen Konflikt gelöst. Als “Querdenker”, der es schafft auftretende Defizite geschickt zu kaschieren, löst man den Konflikt zwar genausowenig, hat aber die besseren Karten in der Hand, um zumindest siegreich daraus hervorzugehen.
Um erfolgreich zu sein, reicht es für Gruppen wie die FSA nicht mehr, Kämpfer in Reih und Glied aufzustellen, mit Waffen auszurüsten und die Grundzüge an Guerilla-Kriegsführung auszubilden. Um erfolgreich zu sein, muss man die Vielschichtigkeit moderner Konflikte auszunutzen verstehen und sich als erfolgreicher vermarkten als man tatsächlich ist. Salopp könnte man meinen, dass nicht die Erfolge im Feld ausschlaggebend sind, sondern das Drumherum.
Man muss ökonomisch aktiv sein, ein Minimum an Propaganda betreiben, um die Basis zu erreichen und man muss Narrative konstruieren, etwa normale Menschen als Helden sterben lassen und Siege in grandiose, gar historische Erfolge umwandeln. Es ist genau dieser Logik geschuldet, dass die US-Armee die Beteiligung an Kriegen weltweit als unumgänglich für die/den Amerikaner*in verkaufen kann. Die FSA hat diese Kapazitäten infolge ihrer Entstehungsgeschischte und Zusammensetzung nie entwickeln können.
Selbstvermarktung als Erfolgsgrundlage
Gruppen wie die FSA werden erst als potenzieller Partner für ein zukünftiges Syrien im Ausland gehandelt werden, wenn sie sich besser zu verkaufen lernen, als sie sind. Durch die Begegnung mit Adnan Salo wird mir bewusst, dass es dazu auch Menschen braucht, die es schaffen neue Standpunkte zu vertreten und querzudenken.
Dabei scheinen die Grundlagen kapitalistischen Wirtschaftens auch bei militärischen Gruppierungen angekommen zu sein: Wer keine Werbung betreibt geht unter. Die ethnischen Milizen im libanesischen Bürgerkrieg vor 30 Jahren erreichten ihren Machthöhepunkt in dem Moment, als sie es schafften, militärische Macht mit ökonomischen Einfluss zu konsolidieren. Genauso wie die Milizen am Balkan vor 20 Jahren. Heute ist das jedoch zu wenig. Man muss sich zu verkaufen wissen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Man braucht Medienaufmerksamkeit.
Je öfter man es auf die Bildschirme der “Weltöffentlichkeit” schafft, desto realer wird man. In Anbetracht dessen, dass die Zeit der FSA größtenteils abgelaufen sein dürfte, bleibt abzuwarten wer diese Erkenntnis umsetzen wird. Der Islamische Staat legte auf jeden Fall viel vor, wenn es darum geht sich in Szene zu setzen. Das hat gerade für potentielle ausländische Kämpfer eine enorme Anziehungskraft, die den Dschihad romantisiert, was in der Region selber nur mäßiges Rekrutierungspotential ausstrahlt.
Aus einer analytischen Perspektive beurteilt, verlängern sich alle Gruppen, die um die Vorherrschaft in Syrien kämpfen, gegenseitig das Leben. So verlängert der Islamische Staat das Leben des Regimes und die Existenz eben dieses Regimes die Lebensdauer von oppositionellen Bündnissen usw. Dass das so bleibt, ist im Interesse eines realpolitischen Nullsummenspiels all jener Akteure, die ihr Interesse an Syrien auch mit fortschreitender Dauer des Kriegs in Syrien wahren wollen. Wie auch in anderen Konflikten ist der syrische Krieg mittlerweile zum lukrativen Geschäft geworden. Am meisten verdienen jedoch jene daran, die es schaffen im Hintergrund zu bleiben.
Beim Abschied salutiert Adnan Salo und verschwindet in der Menschenmenge. Ein bisschen bedrückt mich seine Gestalt schon. Er wirkt auf mich wie ein General, dem ein Krieg dazwischen kam, der seine Scheinwelt zerstörte.