Der libanesische Konfessionalismus als Uraufführung

Hannah Reich verlässt den akademischen Raum der Kulturgeographie um anhand des „ästhetischen Raumes“ nach Augusto Boal zu erforschen, wie sich das Phänomen des Konfessionalismus im Menschen ausdrückt, sich in seiner Haltung manifestiert und sich in Gruppenbeziehungen abzeichnet.

Reich beabsichtigt durch das interaktive Theater und durch ihre Aktionsforschung verschiedene Realitäten in Bezug auf den Konfessionalismus und die Sozialstruktur der Gesellschaft im Libanon wahrzunehmen, anzuerkennen und die damit im Zusammenhang stehenden, historisch bedingten kolonialen Strukturen im Libanon zu überwinden.

Die Autorin wählt eine Mikroperspektive, um mittels der Aktionsforschung im gemeinsamen Gruppenprozess die Interaktion des handelnden Subjekts und die Raumstrukturierung zu untersuchen. Sie zieht dazu zum einen den Mediziner und Sozialpsychologen Kurt Lewin und zum anderen den Theatermacher und Regisseur Augusto Boal heran und erweitert den lewin’schen Ansatz der Aktionsforschung um das Konzept und die Praxis der Performance nach Boal. Reich wählt den Ansatz über das Performative, da über den Ausdruck von Erfahrungen und Emotionen ein Zugang zur Gegenwart erreicht werden kann. Außerdem kann das „nicht Sagbare“ und „nicht Gesagte“ in der Darstellung Raum erhalten. Der ästhetische Raum des Forumtheaters nach Boal dient Reich somit als Forschungsinstrument. Diese interaktive, partizipative Theatermethode, die auf den sozialen Wandel abzielt, bietet einen Schutzraum in dem der Zuschauer zum Schauspieler werden kann und in ihm- und perspektivisch im „wirklichen“ Leben- Handlungsalternativen erproben kann. Im Forumtheater findet die nach Lewin als wesentliches Element der Veränderung verstandene Verbindung zwischen emotionaler Erfahrung und analytischer Distanzierung statt. Die Herangehensweise Reichs ist damit schlüssig und konsequent.

Die theoretische Einleitung der Autorin findet nachfolgend ihre Reflexion und Bezugnahme in der Auseinandersetzung über den ästhetischen Raum des Forumtheaters. Sie reflektiert, dass das Theater im „umkämpften Deutungsterrain“ von Nachkriegsgesellschaften Konflikt verstärkend wirken kann und stellt den „Joker“ sowohl als Mediator zwischen Bühnen- und Zuschauerraum als auch als innehaltenden Erzähler vor, der dieser Konfliktverstärkung entgegenwirken kann. Reich analysiert konkret drei Theateraufführungen, die in Zusammenarbeit mit der libanesischen NGO „Al Boued Amtar“ in einem Workshop-Prozess mit 14 Jugendlichen, die unterschiedlicher Konfessionen zugehörig sind und aus verschiedenen Regionen des Libanons kommen, präsentiert wurden.

Das Forschungsprojekt wurde zeitnah zum „Sommerkrieg 2006“, d.h. während einer akuten Krise in Beirut initiiert. Die Autorin, die Anleiterin der Methoden des Theaters der Unterdrückten (Facilitator) und Wissenschaftlerin zugleich ist, nimmt zum einen eine Aufführungsanalyse und zum anderen eine textbezogene Inhaltsanalyse der drei Aufführungen vor. Sie reflektiert ihre Rolle in diesem Projekt und führt aufrichtig an, welches ihre sprachlichen und kulturellen Grenzen in diesem, ihr „fremden“ Kontext sind und worin die Chance als „nicht alles gesprochene verstehende“ Beobachterin liegt.

Durch die qualitative Inhaltsanalyse des Stückes und die Analyse der Interventionen der Zu-Schauspieler wird herausgearbeitet, wie der Konfessionalismus unausgesprochen und implizit omnipräsent im alltäglichen Leben der Menschen ist, auch wenn durch die Interaktionen die Ablehnung eben dieser konfessionellen Orientierung sowie die Sehnsucht nach Verschwinden dieser zum Ausdruck gebracht wird. Reich zieht bestehende Diskussionen um den öffentlichen Raum heran, um die Aktionen und Reaktionen im ästhetischen Raum, der durch die Aufführungen entstanden ist, weitergehend zu analysieren. Sie arbeitet die Diskrepanz zwischen der Ablehnung des Konfessionalismus und dem tatsächlichen alltäglichen Verhalten heraus, die sie nicht nur im Stück und während der Aufführungen sondern im gesamten Workshop Prozess beobachten konnte. Das Phänomen „Konfessionalismus“ wird in den Aufführungen nicht benannt, es ist nicht Gegenstand der dargestellten Dialoge. Unausgesprochen strukturiert es jedoch Beziehungen und Verhalten, da allein durch die Verwendung von Indizien (u.a. Namen, Gesten, Blicken, Herkunftsbenennungen) die konfessionelle Zuordnung erfolgt. Die Gültigkeit dieser Normen wird im Stück und in den Interventionen nach Reich bestätigt und weiter verfestigt.

Reich präsentiert neun zusammenfassende Schlussfolgerungen, die sie aus der vorangestellten Analyse zieht. Sie geht im Rückblick auf die Theorien und Thesen noch einen Schritt weiter und abstrahiert Transformationsmöglichkeiten, die innerhalb einer konfessionellen Gruppe angestoßen werden könnten. Sie konstruiert einen Ansatz, der das „Wir Gruppengefühl“, das „relationale Wissen“ und die „humorvolle Flexibilität“ als Potenziale einer Gruppe nutzen und Handlungsspielräume der Einzelnen innerhalb einer Konfession vergrößern könnte. Sie gibt damit einen Anstoß und eröffnet eine Perspektive, wie „die Geographie der Angst“ im Libanon durch die Fokussierung auf das soziale Feld und den sich darin manifestierenden Köperhaltungen, innerhalb einer konfessionellen Gruppe erfasst und transformiert werden könnten. Darüber hinaus ordnet sie das Forumtheater als eine emanzipatorische sozialgeografische Forschungsmethode ein, zeigt auf wie dieses interaktive Theater die sozialgeografische Forschung bereichern kann und überzeugt argumentativ vor Sinnhaftigkeit des Eingangs der Methode in diesen Forschungsbereich.

Hannah Reich gewährt dem Leser einen tiefen Einblick in implizite und subtile sozialräumliche Strukturierung durch den Konfessionalismus im Libanon, sie führt die Theorie des Aktionsforschers Lewins mit dem Ansatz Boals zusammen und stellt die wissensgenerierende und damit friedensbildende Kraft des Forumtheater-Forschungsprojektes vor. „Frieden stiften durch Theater“ ist eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre für Forscher und Praktiker im sozialen Feld, sie regt an, sich über die Grenzen der eigenen wissenschaftlichen und praktischen Verortung hinweg zu bewegen und das Potenzial des Performativen zu erfahren.

frieden-theater-libanon

Hannah Reich: Frieden stiften durch Theater- Konfessionalismus und sein Transformationspotenzial.
Interaktives Theater im Libanon
transcript Verlag, Bielefeld 2013, 332 Seiten, 39,99 €

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