Der Bürgerkrieg in Somalia hält nun schon seit über zwei Jahrzehnten an und ist einer jener Konflikte, die mit einfacher Schwarz-Weiß bzw. Gut-Böse-Kategorisierung nicht begreifbar sind. Ein unüberschaubares Zusammenspiel an Konflikten unterschiedlicher Intensität und Reichweite, die sich teils überschneiden, meist gegenseitig verstärken und von zahlreichen Faktoren beeinflusst werden, kennzeichnen die Situation am Horn von Afrika, mit wenig Aussicht auf baldige Stabilisierung.
Einen dieser Faktoren bildet die somalische Diaspora, d.h. im Ausland lebende SomalierInnen, die nach wie vor in enger Interaktion mit ihrer Heimat stehen und Einfluss auf die Geschehnisse im Land ausüben. Doch wie wirkt sich dieser Einfluss aus, werden dadurch bestehende Konflikte geschürt, gelöst oder auch beides? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss zuerst die somalische Diaspora ausgemacht werden: Wer ist sie? Wie setzt sie sich zusammen? Wo ist sie? Was macht sie? Und warum und wozu?
Die somalische Diaspora ist ähnlich komplex wie die Bevölkerung innerhalb Somalias und lässt sich nicht genau festmachen, da viele SomalierInnen z.B. zwei oder mehrere Staatsbürgerschaften besitzen und/oder zwischen Somalia und dem Gastland (oder -ländern) pendeln. Der größte Teil der Diaspora befindet sich in der unmittelbaren Umgebung Somalias, wobei es aber keine genauen Zahlen gibt sondern nur verschiedene Schätzungen. Die nächstgrößere Ansammlung findet sich auf der arabischen Halbinsel, Europa und Nordamerika sind ebenfalls beliebte Ziele somalischer MigrantInnen, wobei Großbritannien, Kanada und die USA am meisten SomalierInnen beherbergen, gefolgt von den skandinavischen Staaten. Insgesamt leben Schätzungen zufolge mehr als eine Million SomalierInnen im Ausland, was bei einer Gesamtbevölkerung von 8 Millionen Menschen stark ins Gewicht fällt wenn mensch vergleichsweise an einen Exodus der SteirerInnen und dessen Auswirkungen auf Österreich denkt. Diese fehlende Million spiegelt die somalische Bevölkerung wider, d.h. sie setzt sich ebenso aus Mitgliedern der verschiedenen Clans, Subclans, Sub- subclans usw. zusammen, und zeigt auch das nationale Einkommensgefälle auf: SomalierInnen mit höherem Einkommen können es sich eher leisten nach Europa oder Nordamerika zu reisen, der Großteil der unteren Mittelschicht lebt im arabischen Raum (durch vormalige Arbeitsplätze in der Region) und die einkommensschwachsten Familien flüchten eher in die unmittelbare Umgebung Somalias.
Im Ausland lebende SomalierInnen interagieren auf verschiedenste Art und Weise mit ihrem Heimatland, zum Beispiel durch finanzielle Unterstützung der Zurückgebliebenen mit Rücküberweisungen. Diese stellen Schätzungen zufolge zwischen 20% und 40% des Einkommens einer Durchschnittsfamilie oder anders gerechnet ca. ein Viertel des jährlichen BIPs, in Zahlen ausgedrückt wäre dies in etwa eine Milliarde Dollar pro Jahr (siehe Menkhaus, Ken (2006): The rise of Somalia as a diaspora nation. Impact on peacebuilding, governance and development.). Das immense Ausmaß der Rücküberweisungen nach Somalia zeugt von der ebenso immensen Abhängigkeit der Bevölkerung, da der zerfallende Staat ihnen großteils nicht einmal das nackte Überleben garantieren kann. Allerdings muss hier die Metapher des „zweischneidigen Schwertes“ herangezogen werden, denn diese direkte finanzielle Unterstützung kommt meist nur den engen Familienmitgliedern bzw. einzelnen Clans (Subclans/ Sub-subclans/ etc.) zugute und nicht der gesamten Bevölkerung. Des Weiteren werden immer wieder (unbewiesene) Vorwürfe laut, dass die Diaspora paramilitärische Gruppierungen wie die Al- Shabaab, Hisbul- Islamyyia oder einzelne Clanmilizen finanziert und so die Lage im Heimatland destabilisiert. Aus diesem Grund haben beispielsweise in den frühen 2000er- Jahren einige international agierende somalische Banken und informelle Geldtransfersysteme (Hawalas) ihre Arbeit niederlegen müssen. Rücküberweisungen werden aber zum Teil auch für Investitionen in die regionale Infrastruktur, Immobilien, Wirtschaft, lokale NGOs oder konkrete Friedensprojekte aufgewendet, was wiederum bestehenden Konflikten entgegenwirken kann und die allgemeine wirtschaftliche Lage der Bevölkerung verbessert. Hier finden sich aber auch einige Fallbeispiele dafür, wie vermeintlich allen zugute kommende Vorhaben unbeabsichtigt Konflikte produzieren oder verstärken: in der Region Galgal beispielsweise investierte ein Angehöriger der Darod- Diaspora in den Bau eines Eigenheims auf einem umstrittenem Gebiet, um welches der Darod- mit dem Isaaq- Clan bereits seit Generationen stritt. Durch dieses Bauvorhaben wurde ein bisher latent dahinschwelender Konflikt wieder entflammt und im Laufe der folgenden Wochen kam es zu einer Militarisierung beider Clans, die einen um die Baustelle vor Übergriffen zu schützen und die andere um ein Fortfahren des Baus zu verhindern. Der ausländische Investor gab sein Projekt schließlich auf und kämpfte daraufhin innerhalb der europäischen Diaspora für eine gemeinsame Nutzung des Gebietes.
Neben privatwirtschaftlichen Finanzflüssen fließt auch viel Geld in internationale und lokale NGOs, welche sich aber nicht nur mit wirtschaftlichen Investitionen in Somalia einbringen sondern beispielsweise auch umgekehrt die Mitglieder der Diaspora bei ihrer Integration ins Gastland unterstützen. Zahlreiche diasporische NGOs sind in den Wiederaufbau und Friedensprozess in Somalia verwickelt und sind von Infrastrukturprojekten über Bildung bis hin zu aktiver Friedensarbeit mit zahlreichen Themen beschäftigt. Meistens laufen diese Projekte entlang der traditionellen Clanlinien ab, manche aber, wie zum Beispiel das „Peace Initiatives Program“, versuchen bewusst Clangrenzen zu überwinden und latente Konflikte, die die Allgemeinheit gefährden, zu bewältigen. Das Miteinbeziehen lokaler Autoritäten wie Stammesältester oder religiöser Führungspersönlichkeiten wird von den SomalierInnen im Ausland immer wieder als Mittel der Friedensstiftung benutzt und zeigt die hohe Sensibilität auf, mit der einige diasporische Organisationen sehr erfolgreich operieren (ebd.; Menkhaus 2006).
Großen Einfluss übt die Diaspora auch auf die somalische Politik selbst aus: immer wieder kommen HeimkehrerInnen in hohen politischen Ämtern unter, sei es der ehemalige Präsident der Übergangsregierung oder auch lokale Autoritäten wie z.B. der Bürgermeister von Mogadishu; Schätzungen zufolge bestehen ca. 40% des Übergangsparlaments aus Mitgliedern der somalischen Diaspora. Aber auch große Teile der islamistischen Fraktion bzw. der islamischen Gerichtshöfe lebten eine gewisse Zeit im Ausland, und Gruppierungen wie z.B. Al- Shabaab erhalten Zulauf sowohl von der arabischen Diaspora als auch von einzelnen Mitgliedern der westlichen Diaspora (ebd.). Aufgrund ihres politischen Engagements wird die Diaspora aber auch angefeindet und trifft auf rechtliche Einschränkungen die das Engagement hemmen. Menkhaus zeigt Vorwürfe auf, dass Rückkehrer aus der Diaspora keine echten Somalis seien, da sie den Bürgerkrieg nicht innerhalb der Staatsgrenzen durchlebt hätten, sich über Clangrenzen hinweg setzen wollen oder ihre Werte und Lebensweisen zu verwestlicht sind. Wiewohl die somalische Bevölkerung Lobbyarbeit in den jeweiligen Gastländern und die Ergebnisse internationaler Spendensammlungen der Diaspora auch begrüßt, so findet beispielsweise die Übergangsregierung, die zu großen Teilen aus RückkehrerInnen aus der westlichen Diaspora besteht, kaum Rückhalt in der Zivilbevölkerung, da ihr genau diese mangelnde Verhaftung mit dem Heimatland zum Vorwurf gemacht wird.
Somalias Diaspora mischt also aktiv in der politischen Landschaft des Landes mit, die Folgen dieses Engagements sind aber genauso wenig mit einer bipolaren Sichtweise erfassbar wie der Konflikt selbst: die meisten Arten des diasporischen Engagements lassen sich treffend mit der Metapher des „zweischneidigen Schwertes“ beschreiben, denn sie können einerseits einen wertvollen Beitrag zur Stabilisierung und Friedensförderung in der Region leisten, andererseits aber auch bestehende Konflikte anheizen oder gar (unbeabsichtigt) neue Konflikte erzeugen. Durch die immense Komplexität des Konfliktes und die zahlreichen Konfliktlinien ist es zugegebenermaßen sehr schwer, keinen Fehler zu machen, da sich die Diaspora innerhalb zahlreicher Grenzen bewegen muss. Diese reichen von clanbasierten Linien über das Stadt- Land- Gefälle und religiöse und politische Interessen bis hin zum Gegensatz von nomadischer und sesshafter Lebensweise, hinzu kommt noch das Identitätsproblem jeglicher Diasporas und die daraus resultierende mangelnde Legitimität im Ursprungsland. Bleibt zu hoffen, dass sich der Einfluss von außen verstärkt in eine konstruktive Richtung lenken lässt, und dass die somalische Bevölkerung zusammen mit ihrer Diaspora an einem Strang zieht um den grausamen Konflikt zu beenden.