Progressive zivilgesellschaftliche Organisationen haben es im „neuen Tunesien“ genauso schwer wie im alten. Drei Jahre nach der tunesischen „Revolution“ fällt die Bilanz unterschiedlich aus. Erfolgreich oder gescheitert? Diese Frage lässt sich kaum einheitlich beantworten und hängt stark vom Blickwinkel der Betrachtung ab. Viele mögen im kleinen Maghreb-Staat das Musterland schlechthin für den sogenannten Arabischen Frühling sehen, besonders seit Inkrafttreten der tunesischen Verfassung. Aber genauswenig, wie sich die arabische Welt von Syrien bis Marokko über einen Kamm scheren lässt, kann man ein einheitliches Bild zur Lage der tunesischen Zivilgesellschaft zeichnen: vor allem linke Organisationen wie die tunesische Frauenbewegung und Organisationen wie UNFT (Union Nationale de la Femme Tunisienne) kämpfen gegen ihren Untergang.
Der Grund ist so schnell gefunden wie einfach zu erklären: kritische Stimmen sind für den Staat keinen Groschen wert. (Das trifft im Übrigen nicht nur für Tunesien zu.)
„Wir stehen vor einer schwierigen Situation“, erklärt Radhia Jerbi, Präsidentin der UNFT, während einer internationalen Konferenz zur Lage der tunesischen Zivilgesellschaft in Wien. Das Renner Institut organisierte im April, gemeinsam mit dem ÖGB und der SPÖ Wien dieses Zusammentreffen von Frauenorganisationen und GewerkschafterInnen beider Länder. Unter der Delegation waren neben dem tunesischen Gewerkschaftsvorsitzenden Hussein Abassi (UGTT) auch Vertreterinnen von Frauenorganisationen. Die Einblicke über den gegenwärtigen Zustand säkularer tunesischer NGOs sind äußerst ernüchternd.
„Das ist nicht die tunesische Frau“ – verkehrter Narrativ im Westen
Bereits in den 1920er Jahren, also gut 30 Jahre vor der Unabhängigkeit Tunesiens, waren Vorläufer der heutigen Frauenbewegung aktiv. Dies wurde von der Revolution unter Bourguiba im Jahr 1956 überstrahlt – seine Errungenschaften für die tunesische Frau sind dennoch unbestritten, aber: hierzulande spricht man vom Rückfall in archaische Zeiten, wenn es um den Aufstieg islamistischer Kräfte geht. In Wirklichkeit waren diese aber im Tunesien des 20. Jahrhunderts nie überrepräsentiert. Der Trend Richtung Konservatismus stellt eine neue Zäsur dar, tatkräftig unterstützt von ausländischen Financiers. Die emanzipierte tunesische Frau hingegen hat durchaus Tradition, die selbst unter dem Regime Ben Alis fortbestand. Die prekäre Lage der UNFT fördert die Gefahr mit dieser Tradition zu brechen, sofern diese Entwicklungen weiterhin ignoriert werden.
Zentrale Anlaufstelle in Sachen Armutsbekämpfung
Die Berichte über die tunesische Zivilgesellschaft sind verstummt, obwohl die VertreterInnen der UNFT viel zu erzählen hätten. Die älteste Frauenorganisation hat eine lange, bewegte Geschichte und zählt mit 180.000 Mitgliederinnen, 500 Mitarbeiterinnen und über 180 Einrichtungen zu einer tragenden Säule zivilgesellschaftlicher Wohlfahrt. Sie ist zentrale Anlaufstelle in Sachen Armutsbekämpfung und Frauenberatung. Im gesamten Land unterhält sie Kinderkrippen sowie Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen.
Während der Herrschaft Ben Alis wurde die UNFT vom Staat gefördert. Vor drei Jahren kam es zum Umsturz. Es brach ein Konkurrenzkampf um die Einnahme des beeindruckenden strukturellen Apparats aus, den nunmehr säkulare bzw. linke Vertreterinnen für sich entscheiden konnten. Dieser Etappensieg gelang zugunsten eines emanzipierten tunesischen Frauenbildes, missfiel aber der konservativen Ennahda-Regierung. Diese wollte „ihre eigenen Leute“ oder zumindest „anständigere“ Personen in den Reihen der UNFT vertreten haben. Als dies nicht gelang, schob man der UNFT den finanziellen Riegel vor: Subventionen wurden gekürzt – die nunmehrige NGO und vormalige Sozialpartnerin versinkt in Geldnot.
Während westliche „Stimmen aus dem Off“ der tunesischen Verfassung Vorbildcharakter attestieren, vergaß sich daran zu entsinnen, wie diese zustande gekommen war: Zivilgesellschaftliches Engagement und die Bekenntnis zu einem säkularen Staat haben eine jahrzehntealte Tradition in der tunesischen Bevölkerung. Auch das Eintreten tunesischer Frauen für deren (weiter bestehende) Gleichstellung verliert sich in der Diskussion. Dabei waren es gerade die Frauenorganisationen, die sich 2012 lauthals gegen einen Verfassungsentwurf durchsetzten, der Frauen komplementär zum Mann darzustellen trachtete. Dies hätte die einzementierte Ungleichheit bedeutet und wurde in letzter Minute abgewehrt. In der jetzigen Verfassung ist die völlige Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger eine wichtige Errungenschaft.
Alles Paletti
Frauen haben also das verbriefte Recht, Männern verfassungsgemäß gleichgestellt zu sein. Alles Paletti, würde man meinen. Allerdings kann man die gesellschaftliche Position der tunesischen Frau auch auf subtilere Art und Weise umkrempeln. Die Subventionskürzungen, die Ennahda der UNFT verordnete, bleiben auch in der derzeitigen Technokratenregierung in Kraft. Die konservativen Kräfte haben innerhalb ihrer Amtszeit den administrativen Appartus unterwandert, das Spardogma ist auch in Tunesien “en vogue”. Kritischen NGOs und besonders Frauenorganisationen ist man nach wie vor nicht wohlgesonnen. Es scheint, als würde man das Pferd von hinten aufzäumen: Die Regierung spart ein – akkordiert vom neoliberalen Applaus des IWF. Dadurch läuft man Gefahr das Terrain der Wohlfahrt konservativen bis islamistischen Akteuren zu überlassen, die ein ganz spezifisches – gelinde ausgedrückt: „komplementäres“ – Frauenbild propagieren.
Was tun? – Soziale Frage ungelöst
All dies passiert vor einer sich zuspitzenden sozialen und wirtschaftlichen Lage. Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit steigen, alleinig der informelle Sektor boomt. Der weitere sozioökonomische Abstieg ist mitunter der Ennahda-Regierung geschuldet, die deren Führer Rachid Ghanouchi gerne mit der deutschen CDU vergleicht. Neben den Konservativen liefert auch kaum eine andere Partei konstruktive Antworten auf die Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme. Lediglich die linke Front Populaire verfügt annähernd über ein ausgearbeitetes Wirtschaftsprogramm.
Für Frauen, die ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung darstellen sowie die Hälfte der Studierenden im tertiären Bildungsbereich, sind diese Entwicklungen besonders von Bedeutung, angesichts des zunehmenden gesellschaftlichen Drucks seitens islamistischer und islamisch-konservativer Kräfte.
Konsenspolitische Chimären – die Internationale Gemeinschaft jubelt
Das Ergebnis bedingungsloser, konsensorientierter Politik kann eben zum Trugschluss führen, dass mit einer verfassungsmäßigen Gleichstellung das Problem der sozialen Ungleichheit vom Tisch sei. Diese Erfahrungen macht man in Österreich seit der Republikgründung. Auch hierzulande liefert man beispielsweise auf das Problem „Gender Gap“ eher bescheidene Lösungen.
Im Falle Tunesiens könnte das Selbstverständnis der Frau von islamistischen Weltbildern durch die Hintertür überlaufen werden. Etwa, wenn der Ennahda nahestehende Gruppen Büroräume der UNFT besetzen und die Gründung von Koranschulen in denselben Räumlichkeiten einfordern, während die Exekutive dabei zusieht.
Diese Entwicklungen tragen der IWF, Weltbank sowie westliche Industrienationen mit. Während IWF-Chefin Christine Lagarde anderswo die Einbeziehung der sozialen Frage in die Überlegungen des Währungsfonds zum Thema macht, winkt man mit dem Sparstift Richtung Tunis. Damit unterstützt man diese Entwicklungen zumindest indirekt und gibt sich auf einem Auge blind.
Tunesien hingegen stöhnt unter dem internationalen Schuldendienst: Als Antwort auf die strukturellen Probleme fordert der Währungsfonds den weiteren Sparzwang. Subventionskürzungen betreffen indirekt auch die staatliche Wohlfahrt und zwar innerhalb und außerhalb der CGC (Caisse générale des compensations), die vor allem Lebensmittel und Energie fördert. Dass man dadurch Gefahr läuft, das Terrain der zivilen Wohlfahrt gut ausfinanzierten islamistischen und islamisch-konservativen Organisationen zu überlassen, interessiert niemanden. Fast alle sind zufrieden: „Mission accomplished“. Und wenn sich das Frauenbild in Tunesien schleichend wandelt, werden neokonservative Kreise wieder den „Kampf der Kulturen“ heraufbeschwören.
Damit alledem nicht so ist, müssen sich sämtliche säkularen Akteure auf der internationalen Ebene für einen Gegentrend einsetzen. Mit Solidaritätsbekundungen ist der erste Schritt zwar getan, eine tatsächliche Unterstützung erfordert aber mehr als nur rhetorisches Commitment.