Während die Kampagne auf der Krim im März 2013 wie auf Schienen von Etappenziel zu Etappenziel rollte, die ersten Selbstverteidigungskräfte strategische Punkte besetzten und Hubschrauber den Luftraum der ukrainischen Halbinsel durchschnitten, strahlten tröpfchenweise die internationalen Reaktionen über die diversen medialen und diplomatischen Kanäle.
Während der US-amerikanische Außenminister John Kerry mit seiner Verurteilung des “unglaublichen Aktes von Aggression” sehr deutliche Worte fand – gleichzeitig mit dem Verweis auf die Illegitimität von Invasionen zur Durchsetzung realpolitischer Interessen internationale Häme auf sich zog – befand sich Europa in einer denkbar schwierigeren Lage.
Ein kurzer Rückblick auf Reaktionen der ersten Stunde aus europäischen Ländern: Carl Bildt, der twitternde schwedische Außenminister, sprach als einer der ersten Vertreter sehr klare Worte und bezichtigte Russlands des Verstoßes gegen internationales Recht. Er fand für die Ereignisse auf der Krim Begriffe wie “Invasion”, “russische Intervention” und “Akt der Aggression”. Die erste Wortmeldung der Hohen Repräsentantin Catherine Ashton erfolgte kurz danach am 1.3.. In einer Presseaussendung, die neben der Verurteilung der Vorgänge und den Aufrufen zu Deeskalation und Dialog die Ankündigung eines dringlichen Treffens des Rates der Außenminister am kommenden Montag beinhaltete. Man legte also eine Pause übers Wochenende ein. Scheinbar sollten zwei Tage genutzt werden, um in den jeweiligen Mitgliedsländern Abstimmungen durchzuführen. Auch in den Tagen danach war es schwierig, von der Europäischen Union kohärente Wortspenden zu erhalten. Es erweckte den Anschein, als würde die Krisendiskussion anderen globalen und regionalen Spielern überlassen, deren Krisenbeobachtungs- und -bewertungsfähigkeit besser ausgeprägt sind, als jene der Europäischen Union. Allen voran sind hier die NATO und die USA anzusprechen. Vergeblich wartete man auf klare Reaktionen aus Brüssel, Berlin oder Paris. Zu einem hohen Grad dürfte das französische Zögern auf die laufenden Rüstungskooperationen zwischen Frankreich und Russland zurückzuführen sein: Die Auslieferung zweier Hubschrauberträger der Mistral-Klasse, die demnächst aus einer französischen Werft auslaufen und Russland übergeben werden sollen, sind beschlossene Sache. Besondere Brisanz erhält dieser Deal durch den Haupteinsatzzweck der Schiffe: sie dienen zur raschen Übersetzung von Truppen in andere Länder, eine Nähe zum Krim-Szenario ist hier ironischerweise sogar gegeben.
Wie in der jüngsten Vergangenheit tat sich Europa auch bei dieser Gelegeneit schwer, eine Meinung zu formulieren und gemeinsame Standpunkte zu finden. Zwangsläufig stellt sich die Frage nach Gründen für das Zaudern.
Angst vor einer Wiederholung der Geschichte vs. warme Stuben
In den Reaktionen der EU-Mitgliedsstaaten zeigt sich ein deutliches Gefälle zwischen West- und Osteuropa. Polnische Medien bemühten den Vergleich mit dem Jahr 1939 und beschworen das Drohszenario einer nochmaligen Teilung Polens, auch ließen die Vergleiche Putins mit Hitler durch polnische Demonstraten nicht lange auf sich warten. Die Wunden der Geschichte darben noch ihrer Heilung und lassen vor allem die jungen osteuropäischen Mitglieder und vormalige Staaten des Warschauer Paktes im Besonderen ihre Augen in Richtung Krim wenden. In diesen Staaten schielt man eher über den Atlantik, als die Zukunft in die schützenden Hände der Europäischen Union zu legen. Die Stationierung zusätzlicher Luftraumüberwachungskapazitäten in Estland durch die Vereinigten Staaten war eine klare Antwort auf die gestiegenen Sicherheitsbedürfnisse dieser Staaten. Vor allem dem Baltikum war in den letzen Jahren das russische Wiedererstarken vor Augen geführt worden. War es 2004 nur ein Flugzeug der russischen Luftwaffe, welches den Luftraum eines baltischen Staates anflog, zählte man 2014 bereits 40 solcher Vorfälle.
Die Diskussion über die Stationierung des Raketenabwehrschildes dürfte bald wieder ihren Aufwind erleben. Es ist auch mit Spannung zu erwarten, wie die NATO nach Beendigung der ISAF Operation in Afghanistan nach möglichen neuen Betätigungsfeldern sucht.
Außenpolitische Interessen sind immer noch in erster Linie nationalstaatliche Interessen. Eine gemeinsame europäische Linie zu finden, bedeutet in diesem verwirrenden Geflecht nicht, eine starke Stimme zu erheben, sondern vielmehr den kleinsten gemeinsamen Nenner zu ergründen und die vielen verschiedenen Interessen zu akkordieren. Catherine Ashtons Position kommt in einer derartigen Krise einer Tour de Force zwischen London, Paris, Berlin und Rom gleich.
Sicherheitsgurt und privilegierte Partnerschaft
Europa hat sich, formuliert von Javier Solana, 2003 einer gemeinsamen Sicherheitsstrategie verschrieben. Diese sieht als wesentliche Absicherung europäischer Interessen und Bedürfnissen eine kohärente Annäherungspolitik an die Nachbarstaaten vor. Die Mittelmeerregion, das nördliche Afrika, der Balkan sowie die angrenzenden osteuropäischen Staaten werden als privilegierte Interessenssphäre der Europäischen Union genannt, dienen diese Länder doch auch als Sicherungs- und direkte Einflusszone. Das angestrebte Assoziationsabkommen mit der Ukraine ist aus dieser Sicherheitsstrategie abzuleiten. Dieses Abkommen steht in direkter Konkurrenz zu Russlands Initiative zur Gründung einer eurasischen Wirtschaftszone, die an Russland angrenzende Staaten verbinden und unterschiedliche Politikbereiche koordinieren möchte.
Dieser zunehmende Interessenkonflikt einerseits und die andauernde Abhängigkeit von russischen Ressourcen andererseits zwingt nicht zuletzt die Europäische Union zum Umdenken im Umgang mit Russland. Russland seinerseits setzte sich bis 2020 zum Ziel, geopolitische Anliegen vermehrt durch Energiepolitik umzusetzen. Energie soll dezidiert als Druckmittel eingesetzt werden. Genau das können wir derzeit in der Ukraine erkennen. Auch will man ein Gas-Monopol aufbauen. Betrachtet man aktuelle Meldungen über die Pläne von Gazprom wird einem noch einmal mehr vor Augen geführt, was es heißt, wenn progressive Strategien in die Realität umgesetzt werden.
Konzepte auf Erkundungstour in der Realpolitik
Der mit dem Ratsbeschluss vom 26.7.2010 eingerichtete Europäische Auswärtige Dienst zur Vertretung der Interessen der Europäischen Union soll die europäischen außenpolitischen Anstrengungen bündeln und mit Catherine Ashton an der Spitze eine europäische Top-Diplomatin die Vertretungsfunktion übernehmen. Europa, dass sich – auch aufgrund von historischen Erfahrungen – dem “Comprehensive Approach”, also der ganzheitlichen Betrachtung außen- und sicherheitspolitischer Themen, verschrieben hat, ist zumindest konzeptuell gerüstet, die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen zu meistern. Dieser konzeptuellen Innovation steht der hohe Koordinierungsaufwand und das Fehlen eindeutiger Entscheidungskompetenzen gegenüber. Überschlagen sich Entwicklungen, wie nun in der Ukraine, offenbaren sich die außenpolitischen Schwächen der Europäischen Union drastisch schnell.
Die Krise um die Krim und in der restlichen Ukraine hat das europäische Krisenmanagement scheinbar unvorbereitet erwischt und passiv und überfordert erscheinen lassen. Aber: jede Krise birgt Entwicklungspotenzial in sich. Für Europa und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stellt sich angesichts der momentanen Ereignisse die Frage, wie und in welcher Form man sich Gehör verschaffen will. Möchte man in Zukunft nicht wie der Hase vor der sprichwörtlichen Schlange in Angststarre verharren und ehrfurchtsvoll nach Washington, Moskau und Peking schielen, gilt es, das gemeinsame Europa zu stärken und mit mehr Masse und Kraft auf dem internationalen Parkett aufzutreten. Die historische Entwicklung der Europäischen Union, die unterschiedlichen nationalen Interessen und der nur bedingte Stellenwert europäischer diplomatischer Institutionen sind die großen Herausforderungen auf dem Weg hin zu einer gemeinsamen Stimme Europas. Voraussetzungen dafür sind die Einigung der großen Mitgliedsländer auf eine Stärkung der europäischen Institutionen zur Bewältigung von Situationen wie sie die gegenwärtige Krimkrise darstellt. Und da ist Europa noch ein langer, steiniger Weg beschert.
Die Krise als Chance
Fragt man sich “mirror, mirror on the wall: Who is the most powerful player of them all?”, sollte man bei der Beantwortung derzeit nicht allzu viel Geld auf die Europäische Union setzen. Ein wiedererstarktes Russland kann nämlich langfristige Auswirkungen auf die Entwicklung und die weitere Konsolidierung der Europäischen Union haben. Schon jetzt bemerkt man in der politischen Programmatik einen “full stop” – der Wandel derselben wird demnach nicht lange auf sich warten lassen.
Schon lange weiß man in der Europäischen Union um die schlechte Ausgangslage in punkto Energiepolitik. In der gegenwärtigen Krise bekommt man den Eindruck, die Europäische Union fürchtet Russland vor allem wegen einer drohenden Einstellung der Gaslieferungen nach Europa. Die Europäische Union deckt knapp 30 Prozent des Gasbedarfs aus Russland. Nachdem der Status von Projekten, die zur Autarkie führen sollten – mit Nabucco als prominentestem Beispiel – größtenteils zwischen gescheitert und nicht abgeschlossen pendeln, könnten man nun ernsthaft über alternative Energiequellen nachdenken. Erst kürzlich begannen sich Investoren aus der “Green Economy” zurückzuziehen, weil diese nicht den gewünschten Erfolg gebracht hätte. Genau hier könnte Europa einhaken anstatt panisch gen China zu schielen.
Will man die Krise als Chance nützen, sollte Europa aus dem Dornröschenschlaf erwachen und dabei nicht auf den schönen Prinzen warten, der aus der Lethargie küssend weckt. Eine eigenständige, selbstbewusste, proaktive Außenpolitik ist notwendig, um als globaler Player anerkannt zu werden. Dabei kann auch ein Blick in den Spiegel helfen und Außenperspektiven zur Schärfung des eigenen Profils dienen. Einen guten Hinweis darauf, wie stark die Sichtweisen über die derzeitige Konfrontation divergieren, verdeutlichen Artikel, welche die aktuelle Situation in starken Kontrast setzen und damit Narrative und Sichtweisen aufeinanderprallen lassen.
Russland mahnte in den letzten Jahren immer wieder Europas selbst zugeschriebene Rolle als Hüter der Freiheit und Menschenrechte ein, die diplomatischen Konfrontationen rund um die NATO-Einsätze im Kosovo, Afghanistan und Libyen verdeutlichen dies. Nun kann Europa auch beweisen, wie es mit diesem vorgehaltenen Spiegel umgeht. Wichtig wäre es sich nicht von der verzerrten Realität eines Blicks in den Spiegel täuschen zu lassen. Vielleicht denkt man ja über die dort erspähte Fratze nach, bevor man wie die böse Königin in rotglühenden Eisenpantoffeln solange tanzt, bis man tot zusammenbricht.