Seit nunmehr fast zwei Monaten sind die Augen der westlichen Staaten gebannt auf die Ukraine gerichtet, zu Beginn auf die Krim und – neuerdings auch verstärkt – auf den Osten. Und das zurecht. Binnen kürzester Zeit hat Russland die Krim vollkommen von der Außenwelt abgeschottet und anschließend annektiert. Die Unruhen und Ausschreitungen in der Ostukraine der letzten Wochen lassen darauf schließen, dass diese Krise nicht zur Zufriedenheit aller Betroffenen gelöst werden kann.
Die Entwicklungen der letzten Wochen zeigten, wie kohärent und koordiniert sich eine selbst(zu)sichere russische Außenpolitik in der Welt präsentiert. Vieles spricht dafür, dass die Besetzung der Halbinsel Krim im Süden der Ukraine keine Nacht- und Nebelaktion, sondern das Ergebnis einer minutiösen, generalstabsmäßigen Planung war. Russland spielte, so das Bild, auf dem ganzen Klavier der Interventionsmöglichkeiten und instrumentalisierte dabei geschickt Diplomatie und Politik, Militär, Medien und Propaganda, Wirtschaft und Recht.
Nun scheint ein Szenario, in dem die Ostukraine längerfristig destabilisiert wird, oder längerfristig ebenfalls in die Russische Föderation einverleibt werden könnte, durchaus möglich.
Ein neues russisches Bewusstsein
Überraschend ist das alles eigentlich nicht, wenn man einen Blick auf die aktuell gültige russische Sicherheitsstrategie wirft, die seit 2010 den sicherheitspolitischen Rahmen bis 2020 vorgibt. Man kann ihr entnehmen, dass sich Russland als “Staat mit Weltgeltung” versteht. Dieses Selbstverständnis ist ernst zu nehmen. Würde man das bei einer Bewertung der Interessen und Ziele (der Weiterentwicklung der Demokratie, der Steigerung der Effizienz der Wirtschaft, der territorialen Integrität und Souveränität der Russischen Föderation, strategische Stabilität, das Nutzen der Vorteile einer multipolaren Welt) nicht tun, würde man nicht begreifen, dass damit vor allem aktive Mitgestaltung gemeint ist.
Mit dem Verstand ist Russland nicht zu begreifen. Es ist nicht mit einer Elle zu messen. Es hat etwas ganz Eigenes. An Russland kann man nur glauben. (Tjucev; Fidor I: rossija I zapad)
Vor dem Hintergrund, dass Putin bei einer Rede 2005 vor beiden Häusern der Duma den Zerfall der UdSSR als “die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts” bezeichnete, kann man die russische Sicherheitsstrategie am besten mit dem Wort “Wiedererstarken” zusammenfassen, oder kurzum: Wir sind wieder da. Der Blick auf die militärische Dimension der Russischen Föderation der letzten Jahre spiegelt genau das wieder: die Schaffung einer multipolaren Welt bedeutet in Anbetracht von USA, NATO und Raketenabwehr sowie dem Tatendrang der EU im Osten Europas, dass die eigene Position gegenüber den USA und der EU gestärkt werden soll und die Schaffung eines eigenen Machtzentrum anzustreben ist. Die Modernisierung und die Aufrüstung der Streitkräfte in den letzten Jahren passen in dieses Bild und dienen als Mittel zur Machtprojektion. Die wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb der Shanghai Cooperation Organisation und als BRICS Staat im Rahmen einer Vereinigung von aufstrebenden Volkswirtschaften der letzten Dekade könnten im Nachhinein als Wegbereiter für einen außenpolitisch härteren Kurs gewertet werden. Denn genau in diesem Bereich hat Russland seit der Kosovo-Intervention 1999 einiges dazugelernt. Man lässt sich nicht mehr auf der Nase herumtanzen und für die Umsetzung von Interessen anderer Akteure instrumentalisieren. Diese prominente russische Botschaft nach der Libyen-Intervention 2011 war seit dem Liebäugeln mit einer möglichen Intervention in Syrien schon zum O-Ton avanciert.
Hello Russia, Good Morning Europe
Wenn man sich vor Augen führt, was in den letzten Jahren im Osten passiert ist und die europäischen Reaktionen auf die Ukraine-Krise Revue passieren lässt, stellt sich die Frage, was Europa die letzten Jahre unternommen hat, um sich auf solche Szenarien vorzubereiten.
An dieser Stelle muss man jedoch vorweg nehmen, dass die Welt nicht mehr dieselbe ist, wie sie es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war. Das mag trivial klingen, ist aber wesentlich, wenn man einen Blick auf die Art der Konfrontation wirft, die hier vorliegt. Konfliktlinien à la Kommunismus versus Kapitalismus muss man über Bord werfen. Hier geht es um einen Machtkonflikt in einem seit 1990 weiter zusammengerückten, vernetzten System aus Wirtschaftsbeziehungen und politischen Kanälen, in dem sich sowohl Russland (nicht zu verwechseln mit der UdSSR) als auch Europa in den letzten 20+ Jahren verändert hat. Um den Bogen zu spannen heißt das – polemisch verkürzt – dass Europa heute versucht mit einer Stimme zu sprechen, während Russland seine Gesellschaft einem demokratischen Facelifting unterzogen hat.
Hier aber haben beide Enden einen Haken: Russland ist weniger demokratisch geworden als es vorgibt, vor allem wenn es um den Schutz seiner privilegierten Interessen geht (der Schutz von russischen Minderheiten im nahen Ausland ist sogar als Ziel der Sicherheitsstrategie von 2010 formuliert). Europa für seinen Teil scheint noch eher ein mehrstimmiger Chor zu sein, als mit einer Stimme nach außen zu sprechen. Abgesehen davon, dass man weniger geeint ist als man vorgibt, misst man gerade wenn es um außenpolitische Belange geht immer wieder gerne mit zweierlei Maß, wo man einen eiskalten Realismus vorlebt.
Um das Problem der internen Abstimmungsschwäche zu umschiffen, wendet sich die EU seit jeher ihrer Grundstärke zu, nämlich der Wirtschaft. Sei es in Afrika, im Nahen Osten, in Nordafrika oder aber auch in Osteuropa: Markterschließungen haben höchste Priorität. In genau diese Kerbe schlug auch das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU, über das die letzten Jahre mit der ukrainischen Regierung verhandelt wurde und dessen Abbruch zum Ausbruch der schwersten Proteste im Land seit 2004 führte. Aus einer gewissen politischen Unfähigkeit Europas heraus, war die Antwort auf die russische Wiedererstarkung der letzen Jahre sich als Demokratiebringer in der Ukraine zu inszenieren. Die europäische Antwort auf die Krise in der Ukraine war das herrschende Chaos mit Wörtern, Gesprächen und Sanktionen zu füttern, weil man sprichwörtlich keinen Plan hatte, was zu tun sei. Ironischerweise stand die Reaktion der überforderten EU am anderen Ende des Spektrums der zielstrebigen russischen Aktion.