Krieg mit Hitler

Wie die Erinnerung an den Holocaust als Rechtfertigung für den NATO-Angriff auf Serbien missbraucht wurde.

Vom 24. März 1999 an bombardierte die NATO 78 Tage lang Jugoslawien, bis es im Juni die Stationierung westlicher Soldaten in seiner Krisenprovinz Kosovo akzeptierte. Doch wieso griff das westliche Verteidigungsbündnis aus USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland u.a. an, ohne zuvor selbst attackiert worden zu sein?

Als Legitimation für den Krieg wurden vor allem Menschenrechte herangezogen. Man begründete ihn damit, den Albanern im Kosovo gegen die Unterdrückung durch Serbien zu helfen. Weil aber keine Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat vorlag, argumentierte man damit, einen drohenden Völkermord zu verhindern. Von einem ‚neuen Auschwitz’ (Joschka Fischer) konnte allerdings keine Rede sein. UNO-Generalsekretär Kofi Annan etwa stellte fest, dass Serben und Albaner gleichermaßen die Verantwortung für den jahrelangen politischen Konflikt, der ab 1998 zum Bürgerkrieg eskaliert war, trügen. Er rief zu einer politischen Lösung auf. Dies wurde aber vom westlichen Militärbündnis ignoriert und stattdessen die Schuld dem ‚neuen Hitler’ Slobodan Milošević zugeschrieben. Die Luftangriffe verhinderten indes nicht, dass Hunderttausende flohen oder vertrieben wurden.

Dennoch beschloss die NATO im April 1999 anlässlich ihres 50. Geburtstags, zukünftig weltweit zugunsten von unterdrückten Völkern einzugreifen. Was die einen als Schritt zur globalen Friedenssicherung begrüßten, kritisierten andere als Verwandlung eines Verteidigungs- in ein Angriffsbündnis und somit als Schritt Richtung neuer Angriffskriege.

Der Holocaust als Begründung für einen Angriffskrieg

Bürgerkrieg statt Holocaust im Kosovo

Historisch ist die Unterscheidung zwischen Massakern in Krisen- und Kriegsgebieten einerseits und dem deutschen Völkermord andererseits relativ leicht zu ziehen. Warum also konnten sich Gegner der NATO-Eskalationspolitik 1999 nicht argumentativ durchsetzen? Die Erklärung liegt darin, dass die Befürworter militärischen Eingreifens sehr früh einen taktischen Sieg davontrugen: es gelang ihnen nämlich, die Kosovo-Frage von der Ebene der Fakten auf jene der Ideologie zu ziehen, und die allermeisten Kriegsgegner folgten ihnen dorthin, ohne sich der argumentativen Falle, in die sie geraten waren, bewusst zu werden. Auf der Ebene der Fakten gab es nämlich zahlreiche bedeutende Unterschiede zwischen dem NS-Genozid und Serbiens Kosovo-Politik. So töteten die albanischen Terroristen oder, je nach Blickwinkel, Freiheitskämpfer der UÇK Serben und staatsloyale Albaner (bis 1998 ermordete die UÇK mehr Albaner als Serben), um ihr Ziel, die Loslösung des Kosovo von Belgrad, mit Gewalt zu erreichen. Darauf reagierten die serbisch/jugoslawischen Antiterroreinheiten mit übertriebener Härte und eskalierten so ihrerseits wiederum den Bürgerkrieg. Während ab Mitte Oktober 1998 unter OSZE-Vermittlung die serbische Gewalt massiv zurückging, steigerte die UÇK ihren Terror mit dem erklärten Ziel, die serbischen Einheiten zu Reaktionen zu provozieren und somit der NATO einen Vorwand zu liefern, in den Konflikt einzugreifen. Das umstrittene Massaker von Reçak Mitte Januar 1999 lieferte dann schließlich den Anlass, die Konfliktparteien nach Rambouillet und Paris einzuladen, wo Serbien mit einem zuvor nicht verhandelten Vertragszusatz konfrontiert wurde, der de facto die militärische Besetzung Jugoslawiens bedeutet hätte. Das Land verweigerte daraufhin selbst für Interventionsbefürworter wenig überraschend seine Unterschrift. Da die Geschichte um das Zusatzprotokoll jedoch erst an die Öffentlichkeit gelangte, nachdem die NATO schon drei Wochen lang bombardierte, konnte Serbien als der alleinige Schuldige dargestellt werden.

Verantwortlich für die Eskalation sei allein Slobodan Milošević. In diesem Punkt wurde die NATO maßgeblich vom Gros der westlichen Massenmedien unterstützt, die nicht müde wurden, den jugoslawischen Präsidenten mit Hitler zu vergleichen.

Eingreifen oder Zuschauen?

Da der Kosovo-Diskurs jedoch nicht auf der Ebene der Fakten ablief (dort hätte man nämlich niemals einem Krieg im Namen der Menschenrechte zustimmen können, weil die Unterschiede zwischen Kosovo und Auschwitz frappant waren), sondern auf jener der Ideologie, wurde die Diskussion nur mehr darum geführt, ob und wie ein NS-ähnliches Verbrechen militärisch gestoppt werden konnte. Dass es sich im Kosovo um die Einmischung in einen Bürgerkrieg auf Seiten einer bewaffneten Gruppe handelte und nicht um den Schutz von Zivilisten vor Massenmördern, wurde ausgeblendet. Zwar waren unter den Interventionsgegnern auch Pragmatiker, die den Krieg auf der Ebene der Fakten kritisierten und darauf hinwiesen, dass im Kosovo die Basis für eine Intervention wie gegen NS-Deutschland nicht existierte. Zu dieser zahlenmäßig eher geringen Gruppe gehörten zahlreiche Friedensforscher, die sich jedoch trotz großen Engagements nur wenig Gehör verschaffen konnten. In den westlichen Massenmedien insgesamt und insbesondere in den deutschsprachigen wurde die Debatte fast ausschließlich auf ideologischer Ebene geführt. Dabei gelang es dem NATO-Lobbying, die Kosovo-Frage auf die Ebene der Menschenrechte und die Dualität ‚Eingreifen oder Zuschauen’ zu reduzieren.

Kriegsgegner in Argumentationsnot

Durch die ideologische Argumentation begaben sich Pazifisten, Sozialisten und Linksliberale in eine Falle. Sie mussten sich der moralischen Überlegenheit jener, die sich auf die Shoa beriefen, beugen. Dies deshalb, weil in einer ‚faktenresistenten’ und ideologisch argumentierenden Gesellschaft immer derjenige Recht hat, der sich argumentativ zuerst auf ‚Auschwitz’ beruft. Durch monatelange mediale Reduktion des Kosovo-Konflikts überzeugt, dass Serbien sein Territorium von den Kosovo-Albanern ‚säubern’ wollte, und angereichert durch Berichte über angebliche und tatsächliche Massaker verloren auch zahlreiche NATO-Kritiker den Blick für die Fakten. Nur wenige forderten wie der pazifistische Politologe Theodor Ebert die Rückkehr zur Analyse. Das Hauptproblem der Kriegsgegner war, dass sie ohne Faktenbezug nur noch ihre edle Gesinnung ins Feld führen konnten. Wenn aber die Alternative Verhinderung eines Völkermords heißt, sind pazifistische Motive (Krieg ist immer abzulehnen), sozialistische (der imperialistische Krieg ist abzulehnen) oder linksliberale (Krieg ohne UN-Mandat ist abzulehnen) Positionen argumentativ unterlegen.

Ohne Fakten, auf der Ebene der Ideologie, hatten die Interventionsgegner dem stichhaltigsten Argument der Befürworter, dass man nämlich mit dieser Gesinnung nie Krieg gegen Hitler-Deutschland hätte führen können, nichts mehr entgegenzusetzen. Das Scheitern einer Politik des Entgegenkommens als Argument für militärische Eskalation oder gar Präventivkrieg zu verwenden, ist nicht neu und war u.a. schon im Falkland-Krieg 1982 und vor dem Angriff auf den Irak 1991 von Bellizisten als abschreckendes Beispiel verwendet worden. 2003 mit der Invasion des Iraks sowie 2011 mit der Einmischung in den libyschen Bürgerkrieg sollte es erneut zur Anwendung kommen. In den ersten Monaten 2012 kursierte dieses Argument zudem massiv in Bezug auf einen möglichen US-amerikanisch-israelischen Angriffskrieg gegen den Iran. Die Menschenrechtsthematik wird dabei auch auf den u.a. von westlichen Geheimdiensten mitentfachten Bürgerkrieg in Syrien übertragen, wobei sich bürgerliche Qualitätsmedien wie die ZEIT wie schon im Fall Kosovo zur Speerspitze des Bellizismus machen. Dass jede militärische Eskalation eines Bürgerkriegs die Anzahl der Toten massiv erhöht (im Fall Kosovo hat sie sich durch das NATO-Eingreifen mehr als verzehnfacht), wird dabei unterschlagen.

Die Appeasement-Politik als Symbol für das Versagen gegen Faschismus und Diktatur

Beliebt ist bei Kriegsbefürwortern die Gleichsetzung von Widerstand gegen ‚Humanitäre Interventionen’ mit der ‚Appeasement-Politik’ der 1930er Jahre. So war es auch 1998/99: Nachdem Serbien das neue ‚Dritte Reich’ sein sollte, lag die Übertragung der heute negativ bewerteten britischen Politik der Zurückhaltung gegenüber den Nationalsozialisten auf NATO-Kritiker nahe. Als ‚Vater’ der Appeasement-Politik gegenüber Deutschland gilt der britische Premierminister Ramsay MacDonald, der schon auf der Konferenz von Lausanne 1932 Frankreich zu Nachgiebigkeit gegenüber deutschen Revisionsforderungen in Bezug auf den Versailler Vertrag gedrängt hatte. In der Hoffnung, einen europäischen Krieg durch Zugeständnisse, Beschwichtigung und Entgegenkommen zu verhindern, stimmten MacDonalds Nachfolger Neville Chamberlain und eine Gruppe britischer Politiker, die Cliveden-Clique, 1938 im sogenannten Münchner Abkommen der Annexion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich zu. Da der weitere Verlauf der Geschichte die auf einem vertraglich vereinbarten Sicherheitssystem auf der Grundlage des Völkerbundes oder anderer internationaler Abkommen basierende Appeasement-Politik desavouierte, konnten sich Befürworter einer bewaffneten Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten 1999 argumentativ darauf beziehen.

Chamberlain und die Appeaser hatten sich damals gegen Kritiker wie Winston Churchill oder Anthony Eden deshalb durchgesetzt, weil ideologisch argumentiert statt empirisch betrachtet worden war. Und auf der ideologischen Ebene waren sich Hitlers und Churchills Positionen sehr ähnlich: Beide forderten eine Humanitäre Intervention, der ‚Führer’ zum Schutz der Deutschen vor Tschechen und Polen, Churchill zum Schutz der Polen und Tschechen vor den Deutschen. Vielleicht gerade weil die Idee des Nicht-Einmischens in den 1930er Jahren durch die späteren Ereignisse desavouiert worden war, wurde in den 1990er Jahren das Anti-Appeasement zum Trumpf im weltanschaulichen Wettstreit. Dabei sprachen die Fakten in den 1930er Jahren für und 60 Jahre später gegen eine militärische Intervention. Erneut setzte sich die ideologische vor der empirischen Sichtweise durch. Erschwerend kam 1999 hinzu, dass in postmoderner Herangehensweise hauptsächlich Text- und Ideologiekritik geübt wurde, womit die Empörung über den Gebrauch von Shoa-Analogien eine Frage des Geschmacks und nicht der Tatsachen blieb.

Warum die NATO den Kosovo-Krieg führte

Der Schutz der Albaner war Nebensache. Ziele des Militärpakts waren: 1. zu zeigen, dass er nach dem Ende des Kalten Krieges noch eine Aufgabe hatte, 2. sich vom Defensiv- zum Interventionsbündnis zu wandeln und 3. der Profit einzelner Mitglieder. Deutschland z.B., das erstmals seit 1945 Krieg führte, gewann außenpolitischen Handlungsspielraum. Den größten Erfolg verbuchten die USA. Ihnen gelang es, ein Exempel zu statuieren: die Lösung der NATO aus dem Veto-Bereich des UN-Sicherheitsrates. Für den ‚Weltfrieden’ sollte zukünftig nicht mehr ausschließlich die UNO zuständig sein. So wurde der Kosovo-Krieg zum Türöffner für weltweites militärisches Eingreifen der westlichen Staatengemeinschaft, die ihre ökonomischen, strategischen und geopolitischen Interessen nun unter dem Mantel humanitärer Hilfe wahrnimmt. Im Kern geht es der NATO nicht um die Durchsetzung und Wahrung der Menschenrechte, sondern um neokolonialistische und neoimperialistische Machtpolitik. Nicht Menschenleben, sondern Märkte, nicht humanitäre Hilfe, sondern Truppenstationierung und Ressourcenkampf sind der Motor der neuen Kriege. Kosovo stand dabei am Anfang. Die argumentativ erfolgreiche Bezugnahme zum Holocaust ebnete damit den Weg zu weiteren Kriegen (Afghanistan 2001, Irak 2003, Libyen 2011).

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