In der Krim-Frage geht es nicht um Menschenrechte, sondern um Interessen
Angesichts der aktuellen Krise fühlen sich viele Menschen in Ost und West an den Kalten Krieg erinnert. In Kommentaren warnen westliche Entscheidungsträger wie Massenmedien fast gebetsmühlenartig vor der Renaissance desselben und werden nicht müde, der Öffentlichkeit ebenso gebetsmühlenartig in Erinnerung zu rufen, wer die Verantwortung dafür trage: selbstverständlich Russland. Selbstverständlich? Ja, denn in der westlichen Logik der Überlegenheit gegenüber dem Osten bleibt für Selbstreflexion, so scheint es, kaum Platz. Dass die alten Mechanismen der Schuldzuweisung aber fast so reibungslos verlaufen wie vor 1991, lässt die Vermutung zu, dass in vielen Köpfen der Kalte Krieg gar nie aufgehört hat.
Westliche Kalte Krieger
Es klingt irgendwie vertraut: da die bösen Russen, hier die guten Amerikaner. Schon zur Zeit der großen Systemkonfrontation beklagte man im Westen vielerorts eine „zaghafte“ Haltung der USA, stilisierte die UdSSR zur übermächtigen Bedrohung und bekrittelte, der Kommunismus wolle die Welt unter seinen Einfluss bringen, während man denselben Versuch auf westlicher Seite als legitime, ja notwendige „Verteidigung der freien Welt“ rechtfertigte. Dabei vergaß man, dass der Ost-Block zu keinem Zeitpunkt militärisch, politisch oder ideologisch stärker als der West-Block war, eher umgekehrt. Je länger die Auseinandersetzung andauerte, desto deutlicher traten zudem die gesellschaftlichen und politischen Risse im Osten zutage: 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in Tschechien, 1981 in Polen. Und je mehr „Verbündete“ den Aufstand probten, desto geringer wurde der geopolitische Einfluss Moskaus – die kurzfristigen militärischen Erfolge blieben häufig Pyrrhus-Siege. Nachdem Michail Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika schließlich zum Fall der Berliner Mauer 1989 und 1991 zur Selbstauflösung des Warschauer Pakts geführt hatte, schien der Westen den Kampf gewonnen zu haben und die unipolare Welt mit Kapitalismus, Marktwirtschaft und Demokratie Wirklichkeit zu werden.
Die westlichen Kalten Krieger handelten umgehend und erweiterten ihr Bündnis in mehreren Schritten um Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und den baltischen Staaten sowie Albanien und Kroatien. Damit hatte die NATO ihren Einfluss auf Gebiete ausgedehnt, die noch wenige Jahre zuvor unter der Hegemonie Moskaus gestanden hatten. Zugleich beseitigte sie mit Jugoslawien den letzten formal sozialistischen Staat Europas und wandelte sich durch den als humanitäre Intervention verbrämten Angriffskrieg 1999 erfolgreich vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis. Immerhin waren im Westen zu Beginn der 1990er Stimmen laut geworden, welche die Existenz der NATO nach dem Wegfall des klassischen Bedrohungsszenarios durch das Ende des Warschauer Pakts in Frage stellten.
Unvernünftig? – Moskaus handfeste Interessen
Der Stilisierung Wladimir Putins zur Hauptgefahr für den Weltfrieden zum Trotz war es der Westen, der nach 1991 durch seine Kriege zur Hauptbedrohung der globalen Sicherheit wurde (1999 Kosovo, 2001 Afghanistan, 2003 Irak, 2011 Libyen). Dass Russland in all diesen Konflikten eine deeskalierende Position vertrat, war und ist jedoch nicht einer idealistischen Friedenspolitik geschuldet, sondern dem Umstand, dass die durch die NATO erzwungenen Regimewechsel für den Kreml stets neuen Einflussverlust mit sich brachten. Zugleich reagierte Moskau auch fallweise mit militärischer Gewalt, nämlich immer dann, wenn es seine „vitalen Sicherheitsinteressen“ gefährdet sah (Tschetschenien 1994-1996 und 1999-2009, Kaukasus-Konflikt 2008, Krim 2014). So kritisch die Wahl der Mittel zu sehen ist, so wenig überraschend ist die Reaktion Russlands angesichts dessen, dass sowohl Georgien als auch die Ukraine in die NATO und damit zum geostrategischen und militärischen Gegner überlaufen wollen.
Der Kalte Krieg lebt aber nicht nur in Form der russisch-amerikanisch/europäischen Widersprüche real weiter, sondern auch in unseren Köpfen. Typisch dafür ist die Verständnislosigkeit gegenüber Russlands Interessen, während wir die westlichen für vertretbar bis erstrebenswert halten. Die Unfähigkeit zum Perspektivenwechsel verunmöglicht es aber, auf der Sachebene nach einem Interessenausgleich zu suchen, der legitime Vorstellungen aller Konfliktparteien berücksichtigt.
Der Westen hat Russland hinsichtlich der Ukraine wiederholt provoziert, zum Beispiel durch diplomatischen Affront, indem führende Politiker die Proteste auf dem Maidan durch ihren Besuch unterstützten, wie der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Catherine Ashton oder die US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland. Auch wenn es innerhalb der westlichen Regierenden durchaus Meinungsverschiedenheiten gab – man erinnere sich an Nulands am Telefon geäußerte und dann öffentlich gewordene Aussage „Fuck the EU“ – so wirkte die Präsenz wichtiger westlicher Politexponenten in Kiew auf diplomatischer Ebene sowohl als eine Brüskierung der gewählten Regierung Janukowytsch als auch als Angriff gegenüber Russland.
Deshalb kommt dessen abzulehnendes Vorgehen auf der Krim letztlich aber weder irrational noch überraschend. Für Moskau geht es um viel, jedenfalls um vitalere Interessen als für den Westen, wie Stefan Meister, Russland-Experte des Think-Tanks European Council on Foreign Relations (ECFR), am 10. März erklärte: Für Moskau steht mehr auf dem Spiel als die auf der Krim stationierte Schwarzmeerflotte. Denn die Ukraine ist nicht Polen oder einer der baltischen Staaten: Zum einen hat das Land neben einem nicht unbeträchtlichen russischen Bevölkerungsanteil (rund 7,7 Millionen Menschen) auch zahlreiche historische und kulturelle Verbindungen zu Moskau. Daneben verfolgt Russland, das der größte Handelspartner der Ukraine ist, zahlreiche wirtschaftliche Interessen. Von besonderer Bedeutung ist Kiew für Putins Prestigeprojekt, die Eurasische Union. Dass Wiktor Janukowytsch im November 2013 die nahezu ausgehandelten Assoziierungsverträge mit der EU noch platzen ließ, hatte aber nicht nur mit dem Schwenk Richtung Freihandelszone im Osten zu tun, sondern lag auch an den selbst von Janukowytschs politischem Gegner Wiktor Juschtschenko und vom ehemaligen EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen kritisierten fehlenden Perspektiven für das Land. Das wichtigste Argument dürfte aber das geostrategische sein: Bei einer Westintegration der Ukraine rückt die NATO bis auf 300 km an Moskau heran. Was ein solches Vorgehen umgekehrt in Washington ausgelöst hat, konnte 1962 in der sogenannten Kuba-Krise beobachtet werden. Dass die NATO nicht bereit ist, von ihrem als Raketenabwehrschild getarnten Angriffspotential gegenüber Russland abzulassen, zeigt, dass die Bedenken Moskaus nicht unbegründet sind.
Was ist mit den Menschenrechten?
Es ist eine Tatsache, dass die westlichen Demokratien innenpolitisch ihren Bürgern im Moment noch mehr Garantien bieten als Russland oder andere nichtwestliche Staaten. Allerdings wird hier die Frage der Menschenrechte von den NATO-Mächten als Vorwand verwendet, um von den eigentlichen Interessen abzulenken: Russland soll dem westlichen Modell unterworfen werden, es soll sich marktwirtschaftlich vollständig öffnen und seine Wirtschaft, insbesondere aber seine reichen Bodenschätze, den westlichen Konzernen zugänglich machen. Eine der Strategien hierzu ist der Versuch der USA und ihrer Partner, überall dort einen Regimewechsel zu forcieren, wo Verbündete Russlands an der Macht sind. Diese Vorgehensweise erweist sich, wie in Syrien, in Iran und zuletzt in der Ukraine sichtbar geworden, als massiv konflikt- und krisenverschärfend. Dahinter stehen die egozentrische Sichtweise und der Glaube westlicher Eliten, im Einklang mit höheren Werten das Recht darauf zu haben, überall auf der Welt politische Veränderungen durch monetäre Unterstützung (überspitzt formuliert, durch gekaufte Wahlen) bis hin zu Putschversuchen und Umstürzen herbeizuführen, wenn die neuen Regierungseliten nur westlich ausgerichtet sind. Dass dabei tatsächliche autoritäre Herrscher wie Slobodan Miloševic im Jahr 2000 oder Wiktor Janukowytsch 2014 gestürzt werden, erleichtert die Rechtfertigung der meist undemokratischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines völkerrechtlich souveränen Staates.
Dass Janukowytsch Teil einer korrupten Elite war, ist unbestritten. Zugleich war er aber der demokratisch legitimierte Herrscher der letzten Präsidentschaftswahl, welche die OSZE als „eindrucksvolle Darstellung demokratischer Wahlen“ bezeichnete.
Der republikanische US-Senator und ehemalige Präsidentschaftskandidat John McCain hatte schon im Sommer 2011 angesichts des Sturzes von Gaddafis angekündigt, dass nun jeder Diktator in Gefahr sei und die Reihe auch noch an Russland und China käme. Subtext: USA und NATO wollen durch ihre Unterstützung pro-westlicher Kräfte auch dort einen Systemwandel herbeiführen, um die beiden Großmächte in Abhängigkeit und unter westliche Kontrolle zu bringen.
Der republikanische US-Senator und ehemalige Präsidentschaftskandidat John McCain hatte schon im Sommer 2011 angesichts des Sturzes von Gaddafis angekündigt, dass nun jeder Diktator in Gefahr sei und die Reihe auch noch an Russland und China käme. Subtext: USA und NATO wollen durch ihre Unterstützung pro-westlicher Kräfte auch dort einen Systemwandel herbeiführen, um die beiden Großmächte in Abhängigkeit und unter westliche Kontrolle zu bringen.
Was McCain verschwieg: Genau dies wurde und wird durch die USA bis heute gemacht, z. B. durch die CIA, während des offiziellen Kalten Krieges, (vgl. Tim Weiner, CIA. Die ganze Geschichte, Frankfurt a.M, 2009, S. 77-83) oder durch finanzielle Unterstützung und Schulung von „Revolutionsprofis“ in Osteuropa (aber auch anderswo in der Welt, u. a. im arabischen Raum). In diesem Kontext verfolgen US-amerikanische Wirtschaftseliten zusammen mit ihren europäischen Pendants das Ziel der Westernisierung Russlands und dessen uneingeschränkte Einbindung in das neoliberale Wirtschaftsmodell. Wladimir Putin wiederum steht mit seiner autoritären, teilweise an Merkmale aus sowjetischer Zeit erinnernden Politik für ein Gegenmodell. In einem freien Wettbewerb der Werte sollte sich dabei das westliche Konzept von Marktwirtschaft und Demokratie gewaltlos gegenüber dem vom Kreml vertretenen Konzept durchsetzen – möchte man meinen. Dass westliche Geostrategen zum Erreichen ihrer Ziele mit viel Geld, Personal und Logistik (oder, wie im Fall Irak, sogar mit Militärmacht) nachhelfen müssen, ihre als Werte camouflierte Interessen zu exportieren, stellt allerdings die Attraktivität dieser Werte in Frage . Die Tatsache, dass der Westen, wie es scheint, kein alternatives Modell duldet – nicht einmal ein abgeschwächt kapitalistisches mit staatlichen Eingriffen in den Markt wie in Russland oder China – entzieht Begriffen wie Freiheit und Demokratie ihre Glaubwürdigkeit.
Friedens- vs. Interessenpolitik
Schlussendlich haben aber auch die neuen ukrainischen Eliten besagte Glaubwürdigkeit beschädigt. Selbst nicht durch Neuwahlen legitimiert, brachen sie mit ihrer Machtübernahme sogleich den ersten Vertrag: Die mit den Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Polens ausgehandelte Vereinbarung zwischen den alten und neuen Machthabern vom 21. Februar 2014 sah die Bildung einer „Übergangsregierung der nationalen Einheit“ vor. Diese hätte neben Witali Klitschkos Ukrainische Demokratische Allianz (Udar) vor allem auch Vertreter der mehrheitlich russischsprachigen Regionen umfassen müssen. Doch stattdessen wurden mehrere Ministerposten an Politiker aus dem Umfeld der Vaterlandspartei und der rechtsradikalen Swoboda (Freiheit) vergeben. Erschwerend kommt hinzu, dass die ebenfalls vertraglich vereinbarte Entwaffnung der neofaschistischen, antirussischen Milizen unterblieb.
Aber auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht manövrierte die neue Regierung die Bürger ihres Landes mehr als nur vom Regen in die Traufe: Seit die Oligarchin Julia Tymoschenko, unter deren Regierungszeit sich Korruption und Misswirtschaft noch verschlimmert hatten, zurück auf der politischen Bühne ist, werden superreichen ukrainischen Unternehmern Gouverneursposten angeboten – erneut ohne demokratische Legitimierung. Zugleich sollte auch daran erinnert werden, dass bereits die erste pro-westliche Regierung nach der „orangen Revolution“ 2004 unter Tymoschenko und Wiktor Juschtschenko die Spaltung der ukrainischen Gesellschaft forciert hat. So verlieh letzterer den Nazikollaborateuren Roman Schuchewitsch und Stepan Bandera posthum den Titel Held der Ukraine. Gleichzeitig wurde der Einfluss des Russischen sukzessive zurückgedrängt. Während beispielsweise in Kiew 2004 noch an rund 200 Schulen auf Russisch unterrichtet wurde, waren es vier Jahre später nur noch sechs, russische Theaterproduktionen wurden nicht mehr mit Geld unterstützt, Beipackzettel von Medikamenten nur noch auf Ukrainisch verfasst.
Eine idealistische, pro-westliche Haltung hinsichtlich der Ukraine wirkt angesichts solcher Beispiele geradezu naiv. Die von NATO, USA und EU gern verwendete moralische, sich auf Werte statt Interessen berufende Argumentation geht aber auch deshalb an der Realität vorbei, weil sie damit behauptet, Demokratien seien durch die innenpolitische Überlegenheit ihres Regierungs- und Gesellschaftssystems auch außenpolitisch friedlicher und weniger von Partikularinteressen geleitet als Nicht-Demokratien. Dabei kann, worauf der Friedensforscher Dieter S. Lutz hingewiesen hat, der demokratische Rechtsstaat im Kriegsfall der Eigengesetzlichkeit der Gewalt ebenso wenig widerstehen wie das Scheitern präventiver Diplomatie verhindern. Er verhält sich in Kriegszeiten außenpolitisch kaum anders als Diktaturen. All dies lässt aber nicht den Umkehrschluss zu, dass die russische Position deshalb die zutreffendere sei, oder nicht ebenso kritisch hinterfragt werden sollte.
Denn die entscheidende Frage wird letzten Endes sein, ob und wie sich der Konflikt um die Ukraine friedlich lösen lässt, damit die Menschen nicht zwischen den westlichen und den russischen Interessen aufgerieben werden. Gefordert sind hierbei alle Beteiligten: Der Westen und Kiew dürfen nicht nur die eigenen Interessen im Auge haben, sondern müssen auch jene Russlands als legitim anerkennen. Dabei zeigt ein Beispiel aus der Frühzeit des Kalten Krieges, wie es funktionieren könnte: durch die Transformation der Ukraine nach dem Beispiel Österreichs in einen neutralen Staat. Dies würde bedeuten, dass sich auf allen Seiten die Verfechter der Kooperation gegen die Kalten Krieger zugunsten einer pragmatischen Friedensvernunft durchsetzen. Erst wenn dies geschieht, wäre der Kalte Krieg wirklich zu Ende.