Wie viele Künstler stecken hinter einem Kunstwerk? Die amerikanische Autorin Siri Hustvedt hat nicht nur verschiedene Herangehensweisen, diese Frage zu verstehen, sondern bietet auch eine Vielfalt an Lösungsansätzen. Am Anfang jedoch stellt sie Interessierte vor die Entscheidung, was nun zuerst gelesen soll: Ihr in den USA erschienener Roman „A Blazing World“? Oder die endlich ins Deutsche übersetzte Essaysammlung „Leben, Denken, Schauen“?
Anders als beispielsweise naturwissenschaftliche Theorien gehört die Kunsttheorie zu denjenigen, deren Gegenstand selbst nicht eindeutig definierbar ist. Die Frage danach, was Kunst eigentlich ist, ist seit jeher umstritten. Was einen Künstler ausmacht, also jemanden, der etwas Undefinierbares erschafft, scheint eindeutiger – ist aber sowieso nicht von vergleichbarem Interesse. Die amerikanische Romanautorin und Essayistin Siri Hustvedt führt in ihren beiden frisch veröffentlichten Werken diese Fragestellungen ad absurdum, indem sie sie beantwortet.
Eine Sammlung von Essays in deutschsprachigen Gefilden, ein Roman in der amerikanischen Heimat: Beinahe möchte man zwischen dieser Koinzidenz der Neuausgaben im März 2014 einen ausgefuchsten Schachzug vermuten, den Siri Hustvedt, übrigens Ehefrau des Autors Paul Auster, ausgeheckt hat. Der Zufall kann jedenfalls kaum erklären, dass beide Werke im jeweils anderen perfekte wie spannungsreiche Ergänzung finden.
Die Kunst im Frauenpelz
Die Protagonistin des unlängst in den USA erschienenen Romans „The Blazing World“, Harriet Burden, ist eine verkannte wie unbekannte Künstlerin. Indem sie sich hinter drei verschiedenen, männlichen Künstleridentitäten versteckt und unter ihrem Namen Kunst veröffentlicht, möchte sie die Kunstszene hinters Licht führen. Ihren verstorbenen Ehemann Felix, angesehener Kunsthändler, übrigens gleich mit, hat dieser doch durch sein Patriarchat ihren Erfolg zeitlebens zu verhindern gewusst.
Allerdings führt die öffentliche Enthüllung ihres Versteckspiels (durch ein weiteres Pseudonym, Richard Brickman, einem Kunstwissenschaftler) nicht zum erhofften Beifall. Ihr letzter Kooperationspartner, der narzisstische, vom Publikum geliebte Ausnahmekünstler Rune spricht Burden die Urheberschaft an den unter seinem Namen erschienenen Arbeiten schlichtweg ab und hat die Kulturszene auf seiner Seite. Letztere ist es also nicht, die, wie geplant, ihrer eigenen Misogynie zum Opfer fällt. Vielmehr windet sich Harriet Burden in der selbst gebauten Falle.
Die Zusammenarbeit mit Rune beruht, anders als bei seinen Vorgängern Anton Tish und Phineas Q. Eldridge, nicht auf künstlerischem Austausch im herkömmlichen Sinne. In einem Psyche wie Körper strapazierendem Spiel kämpfen „Harry“ und Rune mit und um ihre Identität – oder mehrere Identitäten.
In ihrer Essaysammlung „Leben, Denken, Schauen“, in der deutschen Übersetzung seit Anfang März erhältlich, beschäftigt sich Siri Hustvedt, neben vielen anderen Gegenständen, eingehend mit dem Thema des Kunstschaffens, der Wahrnehmung, der Bedeutung von künstlerischen Objekten, gleichermaßen für Künstler wie Betrachter. Sie bekennt sie sich zur Verwendung der Alltagssprache nicht aus dem Grund der eigenen Einfältigkeit, sondern um mehr als nur den „Happy Few“ die Nachvollziehbarkeit ihrer Schlussfolgerungen verständlich zu machen. Hustvedt bezeichnet sich selbst als „intellektuelle Vagabundin“: Weniger die Kunsttheorie als die Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaft sind ihr behilflich, um nicht nur die in den vielfältigen Texten gestellten Fragen, sondern auch „The Blazing World“ zu erhellen.
Wer ist der Künstler – und wenn ja wie viele?
In einem Text über die französische Künstlerin Annette Messager, deren Installationen übrigens denen Harriet Burdens sehr ähneln, zitiert Hustvedt den Entwicklungspsychologen D.W. Winnicott:
Beim Spielen und nur beim Spielen kann das Individuum, Kind oder Erwachsener, kreativ sein und seine ganze Persönlichkeit einsetzen, und nur im Kreativsein entdeckt das Individuum das Selbst.
Allerdings kann die Erfahrung des Selbst, wie etwa in der Freud’schen Psychoanalyse deutlich wird, auch schmerzhaft sein.
Wie in einer Art Podiumsdiskussion gruppieren sich um die Tagebucheinträge Harriet Burdens ein Echo an Stimmen aus Presse, Kunstszene und privatem Umfeld, die allesamt ihren Beitrag zum Rätsel um den Untergang der beiden Künstler leisten. Ein Untergang, der sich zwar unter dem Deckmantel des Feminismus versteckt, aber eigentlich ein anderes Thema hat.
Nicht nur die Frage, was Kunst eigentlich ist, sondern mehr noch, wo der Künstler in der Kunst ist, wie viele Künstler im Kunstwerk stecken, welches Du im Ich gespiegelt wird und umgekehrt – und wo eigentlich das Es bleibt, beim Kunstschaffen und Kunstschauen, das sind kunsttheoretische Rätsel, die mit Ergänzung durch Neurowissenschaft und Psychoanalyse beantwortet werden können.
Die Polyphonie, die Hustvedt im Roman einsetzt, gleicht dem Widerhall an Stimmen im Kopf der Protagonistin – und im Leser selbst. Was bewegt sich im Menschen, wenn er einem Kunstwerk gegenübertritt? Wer unterstützt den Hype: Betrachter oder Szene? Und warum werden die großen Frauen der Kunst, wie etwa Louise Bourgeois, erst dann gefeiert, wenn sie ihren sexuellen Zenit bereits überschritten haben?
Es muss wohl kaum erwähnt werden, dass Hustvedt in Essay wie Roman mehr als nur ein leichtes Augenzwinkern anwendet, um mit gesellschaftlichen Stereotypen innerhalb dieser Kulturindustrie fertig zu werden. Immerhin tritt sie auch selbst in Erscheinung, als eine in Richard Brickmans Stellungnahme erwähnte „obskure Autorin von Romanen und Essays“.
Es darf ja nicht vergessen werden, dass neben der Kunsttheorie auch die Literaturtheorie zu denjenigen Theorien gehört, deren Gegenstand nicht definierbar ist. Wie es mit dem Literaturschaffenden aussieht… Nun, Frau Hustvedt, wer oder was sind Sie eigentlich?