Ukraine – Der Präsident ist weg, das System bleibt!

Selten kommt es vor, dass ein Präsident seinen Amtssitz verlässt, weil er um seine Sicherheit fürchten muss. Dieser Umstand zeigt die Tragweite der Lage in der Ukraine. Vergangenen Samstag meldete sich dann ein vom Parlament abgesetzter und offensichtlich angeschlagener Viktor Janukowitsch per Fernsehinterview zu Wort und bestritt zaghaft die Rechtmäßigkeit seines Absetzvorganges: So sieht ein Mann aus, dem die Macht gerade entglitten ist. Das Eingreifen des Parlaments zeigt, wer in der Ukraine an den Hebeln sitzt: Einflussreiche Oligarchen und deren Geld, die nun auch bei der Bildung der neuen Übergangsregierung die größte Rolle spielen werden.

Politik ist in der Ukraine Geldsache. Ein Großteil der Abgeordneten der Rada, des ukrainischen Parlaments, sind Dollar-Millionäre. Allesamt Leute, die ihren Reichtum in den chaotischen und regellosen 1990er Jahren angehäuft haben. Viktor Janukowitsch und Julia Timoschenko sind zwei von ihnen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die eine vom anderen die Macht in der Ukraine übernimmt. Wichtige Positionen, wie Parlamentspräsident und Innenminister, sind bereits mit ihren Vertrauensleuten besetzt. Auch wenn sie sich erst einmal zur vollständigen Genesung zurückgezogen hat, um das Präsidentenamt, nach aktueller Verfassung das wichtigere Amt, wird sie kämpfen. Nachdem Präsident Janukowitsch das Land offensichtlich nicht mehr kontrollieren konnte, mussten auch einige einflussreichen Oligarchen nach einer neuen Strategie zur Sicherung ihres Einflusses suchen. Die Freilassung Timoschenkos war der erste Schritt zur Wiederherstellung einer Ordnung. Schön, dass dieser Schritt vom Parlament durchgeführt wurde und nicht vom Militär, das in dieser Krise erstaunlich neutral geblieben ist. Scheinbar traut das Groß der Oligarchen im Parlament Julia Timoschenko zu, den „Majdan“, die Protestanten aller Couleurs am Unabhängigkeitsplatz, allen voran den nationalistischen Bewegungen, im Zaum zu halten.

Die Zukunft der Ukraine wird zu einem großen Teil davon abhängen, welche Rolle die einzelnen Splittergruppen der Oppositionsbewegung einnehmen werden. Vor allem die rechtsextremen nationalistischen Bewegungen um die Partei Swoboda unter Oleh Tyahnibok werden schwer zu befriedigen und in einen friedlichen Prozess einzubinden sein. Sie bildeten in der vergangenen Woche die bewaffnete Speerspitze der Protestbewegung. Zu hoffen ist, dass sich auch die liberaleren Kräfte um den in den europäischen Medien sehr präsenten, aber in der Ukraine durchaus unpopulären Vitali Klitschko in die Regierungsbildung einbringen können. Zusammengeschweißt hat die Opposition während der 3-montaigen Proteste nur folgendes: Die Wut auf Regierung und Präsidenten und die angestrebte anti-russische Grundausrichtung, doch nun werden die Parteien und ihre Anhänger wieder für ihre eigenen Ziele kämpfen. Dass seitens vieler Oligarchen nun ein ernsthafter europäischer Kurs gefahren wird, darf getrost bezweifelt werden, denn Reformen und Rechtstaatlichkeit stehen dem Geschäftemachen im Weg. Die zukünftige Entwicklung wird zeigen, ob sich durch die blutigen Proteste ein wirklicher Politikwandel vollzieht.

„Revolution“ ohne Erfolg

Für die Ukraine ist weder ein Umsturz durch Proteste, noch die Forderungen der Demonstranten nach Freiheit, Demokratie und einem von Russland unabhängigen Land neu. Nachdem anzunehmen ist, dass Julia Timoschenko wieder ein wichtiges Staatsamt bekleiden wird, sind auch die Hauptakteure die alten geblieben. Bereits vor knapp 10 Jahren spielten sich zwar gewaltfreie aber ähnliche Szenen auf dem Unabhängigkeitsplatz der Hauptstadt ab. Damals führten tagelange friedliche Proteste gegen Wahlfälschung zu einer Neuauflage der Präsidentschaftswahlen, in denen sich der von den Demonstranten unterstütze Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko, an dessen Seite damals schon Julia Timoschenko kämpfte, gegen Janukowitsch durchsetzte.

Für die Demonstranten war es ein Erfolg, von dem heute nicht viel übrig geblieben ist: Politische Krisen und Skandale erschütterten die Ukraine in der darauffolgenden Legislaturperiode Juschtschenkos. Als bei den Präsidentschaftswahlen 2010 wieder Viktor Janukowitsch als Sieger hervorging und seine Partei der Regionen auch im Parlament die Mehrheit erreichte, wurden die Daumenschrauben der Autokratie wieder angezogen. Die politische Gegnerin Julia Timoschenko wurde in einem politisch motivierten Prozess zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, weswegen sie heute unter ihren Anhängern als Märtyrerin gilt. Juschtschenkos Partei spielte nach seiner Wahlniederlage kaum mehr eine Rolle.

Demokratischer ist das Land in den 10 Jahren nach der „Orangenen Revolution“ bestimmt nicht geworden und auch die wirtschaftliche Situation hat sich seitdem eher zugespitzt als gebessert. Dazu kommt eine innere Spaltung und die immer noch andauernde Suche nach einer akzeptierten gemeinsamen Identität. Ob gerade Julia Timoschenko, die von vielen auch nur als Teil des verhassten etablierten Systems gesehen wird, einen Wandel vollziehen kann, ist fraglich. Neue, liberale Kräfte werden es auch nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen schwer haben, sich gegen das Establishment durchzusetzen.

Spannend ist außerdem, wie die internationale Gemeinschaft auf den Machtwechsel reagiert. Die Ukraine liegt wirtschaftliche und finanziell am Boden, Übergangspräsident Turtschinow ließ bereits verlauten, dass die Ukraine kurz vor der Pleite steht. Moskau hat zwar einen Kredit von 15 Milliarden Dollar gewährt, die Zahlung der ersten Tranche aber unter Bezugnahme auf die instabile Lage gestoppt. Klar ist, dass dieses Geld nur im Gegenzug für einen pro-russischen Kurs der neuen Führung fließen wird. Die EU, die sich in den vergangenen drei Monaten auf die Seite der Demonstranten gestellt hat, streckt wie immer die Hand aus, ohne bisher etwas Konkretes angeboten zu haben. Sie braucht für eine Unterstützung der Ukraine die Hilfe von IWF und den USA. Die Zukunft der Ukraine wird auch stark vom Kräftemessen des internationalen Umfeldes bestimmt.

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