Die Hintergründe in Hamburgs Gefahrengebiet

Die Ursache der jüngsten Auseinandersetzungen liegt in ungelösten sozialen Konflikten. Diese werden auch nach Aufhebung des #Gefahrengebiets nicht im Sand verlaufen.

Eine Retrospektive:

Am 21.12.2013 eskalierte eine Demonstration, die mehrere Beweggründe hatte: Erhalt des autonomen Kulturzentrums Rote Flora, eine sozialverträgliche Lösung für die Bewohner_innen der „Esso-Häuser“ und Solidarität mit der Flüchtlingsgruppe „Lampedusa in Hamburg“.

Nach einem von der Polizei gemeldeten Angriff auf eine Wache in der Davidstraße wurde ein zeitlich unbegrenztes „Gefahrengebiet“ ausgerufen. Ein Großaufgebot führte allabendlich zahlreiche Personenkontrollen durch und erteilte Platzverbote. Mittlerweile bestehen starke Zweifel über die Darstellung des Angriffs seitens der Exekutive. Das Gefahrengebiet blieb allerdings bis zum 13.01.2014 bestehen. Dies erzürnte zahlreiche betroffene Anohner_innen. Bereits im Sommer und Herbst existierten Probleme, die zu dieser Wut beitrugen – im Dezember brach sie dann offen aus. Eine Lösung kann mit der gegenwärtigen Law-and-Order Politik allerdings nicht gefunden werden.

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Soziale Konflikte in der wohlhabenden Hansestadt

Beim Konflikt zwischen den Bewohner_innen der maroden „Esso-Häuser“  und der Stadt geht es neben den konkreten Wohnungen auch um das Problem einer immer weiter auseinander gehenden Schere zwischen Arm und Reich. Befürchtet wird eine weitergehende soziale Entmischung in den innenstadtnahen Quartieren der wohlhabenden Hansestadt.

Der immer wieder unsichere Status des Kulturzentrums Rote Flora ist in diesem Sinne auch ein Symbol von Gentrifzierung. Diese Befürchtung hegen viele Demonstrant_innen – eine Verdrängung alteingesessener Anwohner_innen ist vorprogrammiert. Doch auch das Handeln der Polizei selbst war in diesem Jahr oft der Grund für Unmut: Bereits im Sommer machte die Vertreibung von Jugendlichen im Stadtteil Altona Schlagzeilen. Nach wiederholten Kontrollen und Platzverweisen für Jugendliche war die Auseinandersetzung eskaliert, als sich auch Anwohner_innen und Eltern in eine Auseinandersetzung mit der Polizei einmischten. Zukünftig werden mehr Jugendliche auf den Straßen stehen: angekündigte Sparmaßnahmen sehen Streichungen in der Jugendbetreuung vor.

Zu diesen Vorfällen von Polizeigewalt in Hamburg trat die harte Linie der alleinregierenden SPD gegen eine Gruppe von Flüchtlingen aus Lampedusa. Deren Forderungen nach einer kollektiven politischen Lösung und der Gewährung des dauerhaften Aufenthaltes für alle 300 Flüchtlinge wurden vom Innensenator Neumann ohne Diskussion abgelehnt. Unmittelbar nach der neuerlichen dramatischen Katastrophe im Oktober 2013 vor der italienischen Insel Lampedusa begann die Polizei zusätzlich gezielt mit Kontrollen von Männern mit dunkler Hautfarbe im öffentlichen Raum der Stadt. Da Hamburg eine sehr diverse und multikulturelle Stadt ist, bedeutete dieses Racial Profiling eine offene rassistische Diskriminierung. Gleichzeitig genoss die Gruppe von Flüchtlingen immer breitere Unterstützung im Hamburger Bürgertum. Zehntausende Menschen demonstrierten im Herbst, um ihre Solidarität „Lampedusa in Hamburg“ zu bekunden.

Im letzten Jahr stand es um die Zukunft der Roten Flora nicht schlecht. Allerdings war der Status des seit 20 Jahren besetzten autonomen Kulturzentrums in der Vergangenheit immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen.  Die Parteien zeigten zuletzt allerdings fraktionsübergreifend an einer politischen Lösung interessiert, die einen Erhalt der Flora möglich machen würde. Doch der Eigentümer Klausmartin Kretschmer machte erneut Druck und wollte die Flora wieder einmal räumen lassen. Im Oktober wurden Pläne Kretschmers bekannt, das Gebäude abreißen und einen sechsstöckigen Neubau mit Tiefgarage und Konzertraum für 2500 Personen erbauen zu wollen. Sofort kündigten Aktivist_innen aus der Roten Flora Widerstand an. Das autonome Kulturzentrum fungierte gerade aufgrund seiner überregionalen Bekanntheit und seiner langen Geschichte als eine Art Symbol des Widerstandes gegen Gentrifizierung. Zur Demonstration am 21. Dezember waren nach Angaben der Kampagne „Flora bleibt!“ bis zu 10.000 Menschen angereist.

Die Nachwirkungen und der Streit um die Deutung der Ereignisse

In der medialen Aufarbeitung der Ereignisse vom 21. Dezember dominierte die Polizeiführung mit ihren Pressemitteilungen zunächst sehr stark. Doch bereits am selben Abend wurde in sozialen Netzwerken wie Twitter und Youtube ein Video verbreitet, welches den Darstellungen der Polizei deutlich widersprach. Das Ausmaß der Ereignisse des 21.12. wurde erst zögerlich bekannt. Nicht zuletzt, da den 120 verletzten Polizeibeamt_innen auch über 500 verletzte Demonstrant_innen gegenüberstanden. Es stellt sich die dringliche Frage, ob dieser Ablauf nicht vermeidbar gewesen wäre.

Am 28.12.2013 meldete dann die Polizei in einer Pressemitteilung, dass es einen Angriff auf die Polizeiwache in der Davidstraße an der Reeperbahn gegeben hätte, bei der unter anderem ein Beamter lebensgefährlich verletzt worden sei. Die Nachricht vom Angriff auf die Davidswache löste eine Welle der Solidarisierung von Bürger_innen mit der Hamburger Polizei aus. Beide deutschen Polizeigewerkschaften führten am 1. Januar eine Mahnwache vor dem Hamburger Rathaus durch und forderten u.a. die flächendeckende Einführung von Tasern als ergänzende Ausstattung für Polizeibeamte. Seitens der Polizeigewerkschaft war außerdem von der Notwendigkeit eines “situationsbedingten Schusswaffengebrauchs” die Rede. Am 04. Januar folgte schließlich die Einrichtung des Gefahrengebiets.

#Gefahrengebiet Hamburg

Auf diesem neuen Höhepunkt der Ereignisse fielen dann am Sonntag den 5. Januar drei unterschiedliche Ereignisse zusammen.

1.) Die Durchsetzung des polizeilichen Gefahrengebietes führte zur massiven und pauschalen Diskriminierung großer Teile der Anwohner_innen im Innenstadtbereich, die bei banalen Alltagstätigkeiten wie dem abendlichen Einkauf plötzlich von gepanzerten Polizisten kontrolliert wurden.

2.) In einer ebenfalls am Wochenende veröffentlichten Pressemitteilung des Arbeitskreises Kritischer Polizisten wurde heftige Kritik aus den Kreisen der Polizei selbst an der Einsatzdurchführung am 21.12.2013 geäußert.

3.) unter Berufung auf Aussagen von Augenzeugen erhob der Anwalt Andreas Beuth den Vorwurf, dass es den Angriff auf die Polizeiwache in der Davidsstraße in der behaupteten Form gar nicht gegeben habe und dass die Falschmeldung der Polizei politisch motiviert gewesen sei.

In der Wochenzeitung „Die Zeit“ sagte die innenpolitische Sprecherin der Hamburger Linken, Christiane Schneider: “Unserer Ansicht nach ist diese Maßnahme vor allem deshalb rechtsstaatlich problematisch, weil allein die Polizei über ihre Einrichtung und Dauer entscheidet und dabei von niemandem wirklich kontrolliert wird.” Das Gefahrengebiet ist eine Hamburger Besonderheit des 2005 vom Senat geänderten Polizeigesetzes. Demnach dürfen Beamte in vorher definierten Gebieten Personen ohne konkreten Verdacht “kurzfristig anhalten, befragen, ihre Identität feststellen und mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen”.

Ungewisser Ausgang

Wie sich der Konflikt auch nach der Aufhebung des Gefahrengebiets langfristig entwickeln wird, ist nicht absehbar. Eines steht jedoch fest: Die Sozialwissenschaftlerin Melanie Groß schrieb in der Frankfurter Rundschau: “Was derzeit in Hamburg geschieht und nun mit dem Durchsetzen polizeilicher Sonderrechte in einem eigens definierten „Gefahrengebiet“ noch verstärkt wird, stellt demokratische Grundprinzipien in Frage. Die aktuellen Ereignisse in Hamburg hinterlassen den Eindruck, dass mit gezielten Medienstrategien durch die Polizei und ihre Gewerkschaften eine Stimmung erzeugt werden soll, die eine Aufrüstung der Polizei und ihrer Befugnisse einleitet.“

Politisch gesehen kann die SPD-Regierung Hamburgs nur verlieren. Die schwelenden Konflikte berühren genuin sozialdemokratische Themen, die Bürgermeister Olaf Scholz mit Leichtigkeit hätte besetzen können.

Johannes Diesing ist Politikwissenschaftler an der Uni Rostock mit den Forschungsschwerpunkten Occupy-Bewegung, Postdemokratie, Postmarxismus und radikale Demokratie. [email protected]

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