Die sowjetische Zivilisation… Ich beeile mich ihre Spuren festzuhalten. Ich frage nicht nach dem Sozialismus, ich frage nach Liebe, Eifersucht, Kindheit und Alter. Nach Musik, Tanz und Frisuren. Nach tausenden Einzelheiten des verschwundenen Lebens. Dies ist die einzige Möglichkeit, die Katastrophe in den Rahmen des Gewohnten zu zwingen und etwas darüber zu erzählen. Etwas zu verstehen. Ich staune immer wieder, wie interessant das normale menschliche Leben ist. Unendliche viele menschliche Wahrheiten. Historiker interessieren sich nur für Fakten, die Gefühle bleiben draußen. Sie werden von der Geschichtsschreibung nicht erfasst. Ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin, nicht mit denen eines Historikers. Ich bestaune den Menschen. (S.13)
In Swetlana Alexijewitsch aktuellem Buch “Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus” geht es vor allem um eins: Leben – um das Leben des Einzelne, tief verwurzelt in einem Land, das sich selbst aufgelöst hat. Schauplatz ist das postsowjetische Russland.
Die 1948 in der Ukraine geborene Weißrussin erzählt keine Geschichten, sie sammelt sie. Sie sucht und findet das Menschliche, die kleinen Dinge in den großen historischen Gefügen, die längst “Geschichte” sind. Die Wurst, die auf dem Küchentisch liegt. Die Gespräche die man hinter verschlossenen Vorhängen führt. Die Lieder über Stalin, die immer noch in den Köpfen herum schwirren.
Ein Beispiel: Moskau, 18. August 1991. Panzer in der Hauptstadt. Die darauffolgenden drei Tage werden als Augustputsch in die Analen eingehen und den endgültigen Zerfall der Sowjetunion einläuten. Alexijewitsch lässt ihre Interviewpartner sich an diesen Tag erinnern. Freude, Angst, Euphorie, Unverständnis. Auf den ersten Blick zeigt sich vorallem der Widerspruch. Kommunisten, Kapitalisten, Rote, Weiße, Idealsten und Realisten. Doch eine Erinnerung bleibt konstant. Sie alle schalten ihr Fernsehgerät ein. Im Staatsfernsehen wird Schwanensee ausgestrahlt. Lediglich ein Detail, doch alle Befragten erinnern sich daran.
Ihre Gespräche zeichnet sie mit einem Diktiergerät auf und gibt sie auf Papier wieder. Die Schriftstellerin selbst nimmt sich aus dem Text zurück, verschwindet hinter den Worten ihrer Gesprächspartner. Vor dem Leser breiten sich Monologe aus, ohne Fragen und Kommentare. Nur durch Ihre Gliederung und den Kapitelüberschriften tritt Alexijewitsch auf: “Vom Schönen an der Diktatur und von Schmetterlingen in Zement”, “Von Flüstern und Schreien… und von Begeisterung”, “Von Einsamkeit, die fast aussieht wie Glück” lauten einige von ihnen.
Sie ist keine objektive Chronistin, keine Außenstehende. Die Geschichte der Sowjetunion ist auch ihre Geschichte.
Eine Menschenforschung wie sie Alexijewitsch betreibt setzt das Subjektive in den Vordergrund und bedient sich den Werkzeugen der Oral History. Erst die Vielstimmigkeit des Subjektiven gerwährt dem Leser einen objektiven Blick, sofern es eben jenen gibt. Es geht nicht um Tatsachen und Wahrheiten, um gut oder böse. In so einfache Kategorien lassen sich die Erzählungen nicht einordnen. Wer ist Opfer, wer Täter, wer Held? Diesen Fragen muss sich der Leser stellen. Eindeutige Antworten bleiben wir uns schuldig, zu urteilen wagen wir nicht.
Ihre Art des Dokumentierens wird als Ein Roman in Stimmen beschrieben. Doch wo beginnt die Literatur und hört Geschichtschreibung auf? Wann springt der Funke von schlichter Dokumentation zu Prosa über? Nicht der Autor, nicht der Text, das Leben selbst biete diese Vorlagen, so Alexijewitsch:
Ich dachte nicht gleich daran, das Diktiergerät einzuschalten, um diesen Moment des Übergangs nicht zu verpassen, wo das Leben, das normale Leben zu Literatur wird – auf diesen Moment warte ich immer, (…) aber manchmal bin ich nicht wachsam genug, dabei kann ein Stück Literatur überall aufblitzen, an den überraschendsten Stellen. (S.438)
Am 13. Oktober 2013 wurde Swetlana Alexijewitsch, im Rahmen der Frankfurter Buchmesse, mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt. Ihre Bücher und Texte sind in ihrer Heimtat Weißrussland teils verboten, öffentliche Auftritte werden untersagt. Als Oppositionelle steht sie unter ständigen Beobachtung der Obrigkeit. Trotzdem hat sie sich entschieden, nach Aufenthalten in Paris, Stockholm und Berlin nach Minsk zurückzukehren.
Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus – übersetzt von Ganna-Maria Braungardt, erschienen am 26.08.2013 im Hanserverlag. 569S. (hier zum Buch)