Während am Montag den 4. November 2013 acht Geschworene und drei Richter bis kurz vor Mitternacht über den Ausgang des sogenannten Objekt 21 Prozesses aus der oberösterreichischen Neonaziszene beraten, sinniert Norbert Hofer, seines Zeichens Vizeparteiobmann der FPÖ und frischgebackener 3. Nationalratspräsident in einem Kurierinterview über § 3g des NS-Verbotsgesetztes. Nach diesem Paragraph, der sich laut Hofer “ein bisschen mit der Meinungsfreiheit spießt”
wird auch bestraft, wer in einem Druckwerk, im Rundfunk oder in einem anderen Medium oder wer sonst öffentlich auf eine Weise, daß es vielen Menschen zugänglich wird, den nationalsozialistischen Völkermord oder andere nationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost, gutheißt oder zu rechtfertigen sucht.
In einer Demokratie ist es nicht nur legitim, sondern auch grundsätzlich notwendig Gesetze zu diskutieren, immer wieder zu prüfen, die bestimmte (politische) Äußerungen unter strafrechtliche Verfolgung stellen um sowohl Meinungs- als auch Wissenschaftsfreiheit zu garantieren. Die Gutheißung und Rechtfertigung des Holocausts – die systematische Vernichtung von 6 Millionen Menschen – ist aber nicht “etwas sehr Dummes”, wie sich Hofer ausdrückt, sondern zutiefst menschenverachtend, gewaltverherrlichend und totalitär und steht einer freien Gesellschaft diametral gegenüber. Die Verleugnung und Verharmlosung der nazionalsozialistischen Verbrechen ist keine Meinung sondern schlicht eine unwahre Tatsachenbehauptung, deren Schutz kein demokratisches Grundrecht sein kann.
Rechtspopulistische Positionen mögen Teil eines zulässigen politischen Spektrums sein, jedoch sollte es nicht möglich sein unter dem Deckmantel des Liberalismus den dringend notwendigen, rigorosen Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit aufzuweichen. Dass sich die Mitglieder einer politischen Partei, die immer wieder durch Verbindungen mit der rechtsextremen Szene auffällt, ohne jegliche Konsequenzen seit 2006 bei der Angelobung des neu gewählten Nationalrats eine Kornblume – Symbol der antisemitischen und großdeutschen Schönererbewegung – ins Knopfloch stecken, verdeutlicht das nach wie vor mangelhafte Bewusstsein Österreichs für seine maßgebliche Beteiligung an der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft.
Fehlende Vergangenheitsbewältigung, Schuldabwehr und kollektives Vergessen
Die fehlende Vergangenheitsbewältigung nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der „Opfermythos“, dem die Moskauer Deklaration Vorschub leistete, führten dazu, dass der Absatz, der von einer Verantwortung Österreich für die Teilnahme am Krieg sprach, einen Tag vor der Unterzeichnung am 15. Mai 1955 aus dem Staatsvertrag gestrichen wurde. Bereits drei Jahre nach dem Krieg wurde für die als „minderbelastet“ eingestuften registrierten Mitglieder der NSDAP in Österreich ein Amnestie-Gesetz verabschiedet, da sie mitsamt ihren Familien rund ein Viertel der Bevölkerung und somit eine immense Wählergruppe darstellten. Von Trauerarbeit und Konfrontation mit dem Geschehenen kann nicht die Rede sein, vielmehr entwickelten die Österreicher und ihre Politik seit jeher Abwehrmechanismen um eine Auseinandersetzung zu umgehen. In den ersten Jahren drängten der notwendige Wiederaufbau, Armut und Hunger die Bedeutung der Entnazifizierung vorerst in den Hintergrund, und Schuldabwehr und kollektives Vergessen traten an ihre Stelle.
Erinnerungslücken und Leerstellen. Der Herr Karl
Diese Themen sind es, die Helmut Qualtinger und Carl Merz in ihrem Fernseh- und Bühnenstück Der Herr Karl Wieder-Erinnern wollten um den Zuseher zu einer Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und seinem Umgang damit zu zwingen. Hätte der Rezipient von Herr Karl genauso wenig Ahnung von Geschichte wie sie der Protagonist offensichtlich an den Tag legt, würde sich ihm die Bedeutung des Stückes wohl weitgehend entziehen. In einem knapp einstündigen Dialog begeht der Magazineur Karl einen Streifzug der etwas anderen Art durch die Historie Österreichs, beginnend mit den 20er Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchie bis hin zum Staatsvertrag von 1955. Historische Ereignisse und Namen politischer Persönlichkeiten werden wie Schlagwörter in den Raum geworfen und bilden ein Gerüst, in das der aufmerksame Zuseher das feine Gewebe der Geschichte einhängen kann. Sie dienen als Bilder um die Erinnerung des Vergangenen wieder zu beschwören und aufleben zu lassen. Durch Karls augenscheinlich verzerrte oder oft einfach nur unvollständige Darstellung der Vergangenheit wird der Zuseher dabei gezwungen, die so geschaffenen Leerstellen mit historischen Tatsachen (sofern diese als objektiv wahr betrachtet werden können) aufzufüllen. Der Lagerverwalter selbst offenbart in seiner Erzählung bald nicht nur das Nicht-Wissen um die politischen Geschehnisse, sondern viel mehr auch das rein auf den persönlichen Vorteil ausgerichtete Interesse des Opportunisten:
Man hat nie gewußt, welche Partei die stärkere ist. Man hat sich nie entscheiden können, wo man sich hinwendet, wo man eintritt …
Karl erweist sich nicht nur als gewissenloser Profiteur, der seine „Gesinnung“ jederzeit an den Meistbietenden verkauft, sondern schreibt auch noch all seinen Mitmenschen die gleiche, von ihm durchaus nicht als negativ empfundene Eigenschaft zu. Er schwächt seine politische Unmündigkeit ab indem er auf das Verhalten seiner Mitmenschen verweist, und erklärt sich, das NSDAP Mitglied erster Stunde, mit verharmlosenden Floskeln zum Leidtragender der Umstände seiner Zeit.
Alles, was man darüber spricht heute, is ja falsch … es war eine herrliche, schöne … ich möchte diese Erinnerung nicht missen … Dabei hab ich ja gar nichts davon g’habt … Andere, mein Lieber, de ham si g’sund g’stessen … Existenzen wurden damals aufgebaut … G’schäfte arisiert, Häuser … Kinos! I hab nur an Juden g’führt. I war ein Opfer. Andere san reich worden. I war Idealist.
Die österreichische Dimension des Unheils
Vierzig Prozent der Belegschaft und drei Viertel der Kommandanten der Vernichtungslager im Dritten Reich stammten aus Österreich. Maßgeblich an der Deportation der Juden aus ganz Europa beteiligt, stellte Österreich allein Achtzig Prozent der „Eichmann-Männer“ für die „Endlösung der Judenfrage“. Außerdem machten Österreicher vierzehn Prozent aller SS-Mitglieder aus, wobei der österreichische Anteil an der Reichsbevölkerung nur acht Prozent betrug. Österreich kann mit der nachweislich direkten Verantwortung für drei Millionen ermordete Juden bei weitem nicht die Opferrolle für sich beanspruchen, wie es die Politik nach dem Krieg für sich herausgenommen hat. Der Prozess der Verdrängung setzt, wie ebenfalls beim Herrn Karl sehr deutlich demonstriert, bereits kurz nach der Niederlage und dem Einmarsch der Alliierten ein. Als Befreier werden Amerikaner, Engländer, Franzosen und selbst Russen Willkommen geheißen, gegen die man gerade eben noch im Namen des deutschen Volks und seines „Führers“ erbitterten Widerstand geleistet hat. Der große Denker Erwin Ringel, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Suizidforschung attestiert der österreichischen Seele, in seiner Neuen Rede über Österreich 1984 eine Vorliebe für die Verdrängung und wird für seine eindringliche Aufforderung zur Aufarbeitung des Geschehenen – beinahe 40 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges – immer noch erbittert als Nestbeschmutzer beschimpft.
Was haben wir gemacht in diesen sieben Jahren, die heute plötzlich im Geschichtsunterricht gar nicht mehr existieren, weil sie uns peinlich sind? Ja sicher, politisch gesehen sind wir das erste Opfer Hitlers gewesen, so wie es die Moskauer Deklaration lehrt. Aber wie war es denn menschlich? Haben wir uns da wirklich als Opfer gefühlt? […] Der Herr Vizekanzler Steger hat vor kurzem gesagt, Mauthausen sei eigentlich gar kein so schlimmes Konzentrationslager gewesen, eine Art Österreichische, d.h. bescheidenere Dimension des Unheils, gemessen an Auschwitz. Ich muß leider entgegnen, daß man bei den entscheidenden Männern des nationalsozialistischen Reiches, vom „Führer“ angefangen bis hin zu Schreckensnamen wie Eichmann, Kaltenbrunner, Seyß-Inquart usw., in einer erschütternden Weise immer wieder auf Österreich stößt. Wir haben uns also keineswegs in einer kleinen Dimension beteiligt, sondern mitunter sogar in einer wesentlich größeren Dimension als die im sogenannten „Altreich“. – Das muß endlich einmal ehrlich ausgesprochen werden. Auch damit aber noch nicht genug: Die Österreicher haben vielfach in Hitlers Heer nicht nur gezwungen gedient, sondern mit einer Leidenschaft – und ich zögere gar nicht, das auszusprechen -, mit einer Tapferkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen wären. Wir haben damit einen Beitrag dazu geleistet, daß dieses Regime sich über weite Teile Europas ausbreiten, seinen Untergang um Jahre hinausschieben und in all diesen Ländern und in dieser ganzen Zeit ungezählte unschuldige Opfer vernichten konnte. Das war mit unser Werk, daran haben wir außer Zweifel teilgehabt.
Erst im Jahr 1991 begannen namhafte Politiker die Mitschuld Österreichs am Zweiten Weltkrieg und all seine schrecklichen Folgen laut auszusprechen. Vorerst nur die Schuld einiger weniger eingestehend und am Opferstatus der Republik nach wie vor festhaltend, gestand Bundeskanzler Franz Vranitzky erst 1993 bei einer Rede an der Hebräischen Universität in Jerusalem eine moralische Verantwortung Österreichs ein und bekannte sich zu den Taten der Vergangenheit.
Die Verdrängung der Verdrängung
Als am 15. November 1961 die Erstausstrahlung des Der Herr Karl erfolgte, löste der schwitzende und verschlagen grinsende Magazinarbeiter heftige Reaktionen bei Publikum und Kritik aus. Die Identikfikation mit dem sich unfreiwillig selbstenttarnenden Schmarotzer standhaft verweigernd, distanzierte sich das vor dem Kopf gestoßene Publikum und setzt als sofortige Verdrängungsmaßnahme den Mitautor und Darsteller mit der Figur des Herrn Karl gleich. Der Auftritt als ungustiöser Dickling, der offensichtlich mit einiger Selbstzufriedenheit sein Dasein als opportunistischer Mitläufer bestreitet und auf Kosten anderer einer hedonistischen Lebensweise frönt, haftet dem Image Helmut Qualtingers noch weit über seinen Tod hinaus an. Zusätzlich zu der bewussten Fehlrezeption erfolgte auch die Einstufung des Herrn Karl als übertriebenes Kunstprodukt und überzogenes, übellauniges Zerrbild dem man zwar, durchaus eine Daseinsberechtigung als literarische Figur zubilligte, dabei aber jeden gesellschaftskritischen Aspekt verleugnete. Dieses Fernseh- und Bühnenstück war eine wahre Meisterleistung an Provokation und wurde doch von einem zur kritischen Auseinandersetzung unfähigen Publikum in seiner verleugnenden Rezeptionshaltung zur zwar komischen aber nicht ernst zu nehmenden Satire degradiert. Ironischerweise fällt hiermit gerade ein Werk der Verdrängung zum Opfer, die es in ihrer gesamten Bandbreite aufzeigt und verurteilt.
Der Objekt 21 Prozess endet mit sieben – nicht rechtskräftigen – Schuldsprüchen nach § 3g des NS-Verbotsgesetz und verurteilt die Angeklagten zu Haftstrafen zwischen 18 Monaten bedingt und sechs Jahren, die mit einer generalpräventiven Wirkung nach außen hin begründet werden; ein gutes Zeichen. Warum die Staatsanwaltschaft über zwei Jahre brauchte um überhaupt Anklage zu erheben und was mit den circa 200 anderen gewaltbereiten Rechtsextremisten ist, die Teil der Gruppierung Objekt 21 waren? – Zwei gute Fragen!
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Verwendete Literatur
- Albrich, Thomas: Holocaust und Schuldabwehr. in: Österreich im 20. Jahrhundert: ein Studienbuch in zwei Bänden. Herg. Steininger, Rolf und Gehler, Michael. Wien Köln Weimar, Böhlau Verlag GesmbH und Co KG, 1997.
- Klaffenböck, Arnold: Helmut Qualtinger, Textanalytische Untersuchungen zum schriftstellerischen Werk von 1945 bis 1970. Wien, Edition Praesens, Verlag für Literatur- und Sprachwissenschaft, 2003.
- Krangler, Sabine: Helmut Qualtinger oder die Demaskierung einer Volksseele: eine Abhandlung des Werks Herr Karl zum politischen und gesellschaftlichen Zeitgeschehen und dessen Medienecho. Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie, eingereicht an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien, 2006.
- Merz, Karl und Qualtinger, Helmut: Der Herr Karl. in: Landvermessung Band 21: Stücke. Herg.: Nenning, Günther. St. Pölten – Salzburg, Residenz Verlag im Niederösterreichischen Pressehaus Druck und Verlagsgesellschaft mbH, 2005.
- Ringel, Erwin: Die österreichische Seele: 10 Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion. in: Dokumente zu Alltag, Politik und Zeitgeschichte 5, Herg.: Franz Richard Reiter. Wien – Graz, Hermann Böhlaus Nachf. GesmbH, 1984.