Teil I der aktuellen Artikelserie zum Syrienkonflikt auf www.sicherheitspolitik-blog.de
Srebrenica, Ruanda, Syrien – der Giftgaseinsatz vom 21. August 2013 wird in die Geschichtsbücher eingehen. Und, sollte es nicht doch noch zu einer überraschenden Einigung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kommen: Es wird ein Eintrag der Schande für die internationale Gemeinschaft sein – egal welche Entscheidungen in den nächsten Tagen fallen. Wird nicht reagiert, zeigt sich, dass allen Konventionen zum Trotz ein derart grausames Verbrechen ungestraft bleiben kann. Kommt es aber zu einem nicht-mandatierten begrenzten Militärschlag, ist die (nicht neue) Lehre, dass im UN-System Legitimität und Legalität oft auseinanderfallen. Dass in dieser Woche die Diskussion um die Notwendigkeit eines Angriffs aufkommt zeigt auch: Nicht der Schutz von Zivilisten steht im Zentrum der Überlegungen. Und: Es ist das kontinuierliche Töten, welches die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft vor die größten Herausforderungen stellt.
Für Beobachtungen um das entstandene Entscheidungsdilemma des Westens über eine militärische Reaktion auf den Giftgaseinsatz soll hier zwischen den Ebenen des internationalen Systems, des Syrien-Konfliktes und deren Wechselwirkung aufgeschlüsselt werden. Aus der Perspektive des internationalen Systems betrachtet ist die Situation so alt wie vertrackt. Dies ist in dem gewollten Geburtsfehler der Vereinten Nationen begründet, die Sanktionierung von Zwangsmitteln allein dem Sicherheitsrat zu überlassen und somit von den politischen Interessen seiner permanenten Mitglieder abhängig zu machen. Das Dilemma zwischen Legalität und Legitimität, ob man Recht bricht um einen Rechtsbruch zu ahnden, ist nicht neu und wird es trotz der Fortschritte im (humanitären) Völkerrecht auf unabsehbare Zeit weiter geben. Schließlich fehlt die Instanz, welche über die Einhaltung der Regeln wacht und deren Verletzung ahndet. Als politisches Gremium nimmt der Sicherheitsrat die Rolle des Richters und Henkers nur ein, wenn dem keine anders gelagerten Interessen entgegenstehen. Ob der Westen militärisch reagiert, ist ein nicht selbst verschuldetes Entscheidungsdilemma, welches höchstens durch ein Einlenken Russlands umgangen werden könnte. Würde man sich auf eine Verurteilung des Gaseinsatzes und eine Form von nicht-militärischen Konsequenzen verständigen, wäre dies für Russland und den Westen ein gesichtswahrender Ausweg. Angesichts des derzeit schlechten Verhältnisses und der Aussagen der letzten Tage scheint die Hoffnung eher gering. Dann steht man aus Sicht des Westens vor der Wahl, dass eines von zwei internationalen Regelwerken Schaden nimmt: Entweder das humanitäre Völkerrecht, wenn ein derartiges „zivilisatorisches Verbrechen“ ungesühnt bleibt. Oder das UN-System, dessen Charta die Ausübung von Gewalt ohne Mandat des Sicherheitsrates untersagt.
Dies bestimmt auch die Debatten um eine angemessene Reaktion in London oder Washington, und nicht etwa der Schutz der Zivilbevölkerung oder gar eine Lösung des Konfliktes. Die Güter um die es geht, das sei an dieser Stelle nochmals wiederholt, liegen auf der Ebene des internationalen Systems: Die Glaubwürdigkeit des humanitären Völkerrecht und die Glaubwürdigkeit der gezogenen „roten Linie“.
Wenn man die Perspektive der internationalen Beziehungen verlässt, ist das Bild nicht klarer. Neben den systemischen Folgen einer Entscheidung für oder gegen einen Militärschlag sollten vor allem die unmittelbaren und längerfristigen Folgen für den Konflikt selbst und die unter ihm leidenden Menschen als Entscheidungsgrundlage dienen. Positive Effekte wären die Unterbindung weiterer Giftgaseinsätze und die Schwächung solcher militärischer Fähigkeiten, die derzeit gegen die eigene Bevölkerung zum Einsatz kommen, sowie ein höherer Druck in Richtung einer politischen Lösung. Dem steht jedoch das Risiko weiterer Vergeltungsaktionen gegenüber, zumal ein begrenzter Militärschlag, wie er derzeit wohl in Frage käme, nicht für einen effektiven Schutz der Zivilbevölkerung geeignet ist. Dass deren Schutz aber gerade nicht im Zentrum der westlichen Überlegungen steht, ist hierbei der zentrale Punkt. Aus dieser Beobachtung ergeben sich schlussendlich Erkenntnisse aus dem Fall Syrien für die Logik des internationalen Systems.
Denn allem berechtigten Entsetzen über den Einsatz von Giftgas zum Trotz: Angesichts von über 100.000 Toten in dem seit zweieinhalb Jahren andauernden Konflikt zeigt sich, dass ein derart entgrenzter Gewalteinsatz gegen Zivilisten alleine noch nicht genügend Handlungsdruck erzeugt. Um ein Eingreifen unausweichlich erscheinen zu lassen bedarf es eines möglichst eindeutigen und unvorhergesehenen Akts der Inhumanität to shock the conscience of mankind. Ein Giftgasangriff hat diese Qualität, die zivilen Opfer im syrischen Bürgerkrieg hatten es bisher nicht. Denn, um es auf eine Formel zu bringen: Wahrgenommener Handlungsdruck = Leid/Zeit. Jede noch so hohe Opferzahl kann ertragen werden, steigt sie nur langsam genug. Das erzeugt zwar ein Ohnmachtsgefühl – ohne dass sich jedoch ein richtiger Zeitpunkt eines Eingriffs anbietet, kann es dabei bleiben. Das Beispiel mit dem Frosch, den man durch langsam steigernde Temperatur kochen kann, ohne dass er aus dem Wasser springt, kann ebenfalls bemüht werden. Es kann spekuliert werden, ob sich dahinter vielleicht gar das Kalkühl für einen möglichweise langsam gesteigerten Einsatz von Giftgas durch Assad verbirgt.
Für die Schlüsse, die sich für das internationale System insgesamt und insbesondere die Schutzverantwortung ergeben, ist es jedoch unerheblich, ob eine langsame Zunahme von Gewaltakten intendiert ist oder sich aus dem Konfliktverlauf ergibt. Vielmehr muss ins Bewusstsein rücken, dass das Fehlen eines klaren Zeitpunkts, zu welchem eine Entscheidung getroffen werden muss, eine Intervention höchst unwahrscheinlich werden lässt. Man kann aufgrund der Entwicklungen der vergangenen beiden Jahrzehnte davon ausgehen, dass die Weltgemeinschaft ein zweites Ruanda nicht mehr zulassen wird, also ein Morden, welches sich in sehr schneller Zeit und in einem Land ereignet, in welchem keine starken Interessen dazwischenstehen und in dem die Erfolgsaussichten einer militärischen Intervention realistisch erscheinen würden. Hierfür ist die „Responsibility to Protect“ ausreichend akzeptiert, wie zuletzt auch die Libyen-Intervention trotz aller Debatten um die Zulässigkeit des Regime-Wechsels und der sehr weiten Dehnung des Mandates gezeigt hat. Als Gaddafi von Rache an der eingekreisten Bevölkerung von Bengasi sprach, schuf er genau diesen Entscheidungsmoment unter Zeitdruck. Und weder die bis dahin interventionsunwilligen USA noch die bei Eingriffen unter dem Namen der Schutzverantwortung generell skeptischen Vetomächte Russland und China konnten sich diesem Druck entziehen. In Darfur war es hingegen, neben den chinesischen Interessen, vor allem auch die Gleichmäßigkeit und Langsamkeit des Mordens, welche einen solchen akuten Handlungszwang für die Weltgemeinschaft nicht entstehen ließ.
Aus dieser Problematik ebenen sich wichtige Schlüsse für die Weiterentwicklung der Schutzverantwortung. Zwar waren diese bereits von der ICISS bedacht worden, müssen aber jetzt wieder erst Eingang in die Debatten um das Konzept in den Vereinten Nationen und in das Bewusstsein der Staaten finden. Unumstritten ist zwar, dass Prävention das Kernstück der „Responsibility to Protect“ ist. Gerade in den Debatten in den Vereinten Nationen ist das der am häufigsten betonte Aspekt. Der Übergang von Prävention zu Reaktion muss jedoch ernster genommen und klarer formuliert werden. Bereits beim ersten Eintreten von Akten, welche in den Bereich der Schutzverantwortung fallen, muss aller Uneindeutigkeit solcher Situationen zum Trotz das Thema auf der politischen Tagesordnung stehen und entsprechende Reaktionsmaßnahmen ergriffen werden. Zum zweiten, und das ist eine äußerst unangenehme Einsicht: Der Einsatz von militärischen Mitteln muss zwar äußerstes, aber nicht letztes Mittel in einem zeitlichen Sinn sein. Das Problem der Uneindeutigkeit der Situationen und das Problem, dass sich nie kontrafaktisch überprüfen lässt, ob die getroffene Entscheidung die richtige war, wird für die Schutzverantwortung und vor allem in ihrer sensibelsten Komponente, der militärischen Intervention, immer bestehen. Es bedarf eines Bewusstseins dieser Problematik und eines ehrlichen Diskurses in der deutschen Öffentlichkeit genauso wie in den Vereinten Nationen. Immer zu warten, bis die Massengräber so tief sind, das darin alle Zweifel über die Notwendigkeit eines Eingreifens verschwinden, widerspricht dem eigentlichen Ziel, derartige Verbrechen gar nicht erst zuzulassen.
Ein Punkt sollte im Fall des Syrienkrieges und unserer „Verantwortung zum Schutz“ hingegen gänzlich unumstritten sein: Wenn keine politische Lösung eines Konfliktes und kein aktiver Schutz der Zivilbevölkerung machbar scheint, müssen zumindest Flüchtlinge bei uns Schutz finden. Dafür braucht es auch ein Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Krieg und Asyl in der Asyldebatte.