Von der nationalen in die europäische Krise
Zu feiern gab es nichts. Schnell war der Aufmarsch der nationalen und EU-europäischen Eliten in der Nacht zum 1. Juli 2013 vergessen. Diese hatten sich pflichtbewusst im Zentrum der kroatischen Hauptstadt versammelt, um rund um das Reiterstandbild des Ban Jelačić Kroatiens angeblich endgültige „Ankunft in Europa“ zu verkünden. Deutschlands Kanzlerin war nicht dabei. Das Denkmal des kroatischen Fürsten, das nach der Unabhängigkeitserklärung vom Juni 1991 hastig aus dem Depot geholt und hier auf den Sockel gehoben worden war, symbolisiert übrigens so ziemlich das exakte Gegenteil von dem, was EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso in seiner Festrede als „europäische Einigung“ lobpreiste. Jelačić war jener Armeeführer der kroatischen Reaktion, der 1848 mit großer Brutalität die bürgerliche Revolution niederkartätschte, die vom lokalen Adel als ungarische wahrgenommen wurde. Das kommunistische Jugoslawien hatte das Reiterstandbild demontiert. Im nationalen Taumel des Jahres 1991 erinnerte man sich des Fürsten als historischen Helden, positionierte sein Denkmal jedoch leicht gedreht in Richtung Südosten. Sein Schwert zielt seit damals nicht gegen Budapest, sondern gegen Belgrad: Sinnbild europäischer Kulturgeschichte in Reinkultur.
Mit Kroatien trat die zweite Republik aus dem ehemaligen Jugoslawien als 28. Mitglied der Brüsseler Union bei. Was in Mainstream-Medien durchwegs als integrativer Akt beschrieben wird, ist freilich kein solcher. Soviel Desintegration ist selten. Aus dem früher föderativ strukturierten Jugoslawien mit seinen sechs Republiken und einer einheitlichen Währung ist ein territorialer Flickenteppich geworden. Je nach Lesart bestehen heute bis zu acht staatliche Einheiten; zwei davon (Slowenien, Kroatien) sind nun Mitglieder der EU, drei können eine gewisse Eigenstaatlichkeit für sich behaupten (Serbien, Montenegro, Makedonien), während der Rest territorial umstritten und politisch in Kolonialmanier verwaltet wird (Bosnien-Herzegowina mit seinen zwei Entitäten einer bosnisch-kroatischen Föderation und der Republika Srpska, Kosovo). Auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens sind im Jahr 2013 fünf Währungen als Zahlungsmittel im Umlauf: der Euro in Slowenien, dem Kosovo und Montenegro, der Dinar in Serbien, die Kuna in Kroatien, die „Konvertible Mark“ in Bosnien und der Denar in Makedonien. Integration sieht anders aus.
Ökonomisch befindet sich Kroatien mit seinen 4,4 Mio. EinwohnerInnen in einer lang anhaltenden und tiefen Krise. 2013 zählt man bereits das 5. Jahr der Rezession, das heißt das Bruttoinlandsprodukt sinkt jährlich zwischen 7% und 1%. Ent-Industrialisierung prägt seit den Kriegsjahren 1991/92 die Wirtschaft des Landes. Von den direkten Kriegsschäden über das Auseinanderreißen von früher gemeinsamen jugoslawischen Unternehmungen im Zuge der staatlichen Zersplitterung bis zur von der EU betriebenen Abwicklung der letzten verbliebenen Großbetriebe, den Werften an der Adria, zieht sich ein roter Faden struktureller Zerstörung. Die 2008 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise tat ihr Übriges: Seit damals sank die Industrieproduktion nochmals um 20%, wie aus der Datenbank des „Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche“ (WIIW) hervorgeht. Die Staatsverschuldung explodiert, zwischen 2008 und 2012 von 22% des BIP auf über 50%; die Arbeitslosigkeit steigt; sie hält aktuell bei 17,5%, für Jugendliche bei rekordverdächtigen 51%. Sinkende Investitionen und Exporte reflektieren den ökonomischen Ist-Zustand.
Der EU-Beitritt Kroatiens, der dem Land bzw. den wenigen im globalen Kontext konkurrenzfähigen Unternehmen einen größeren Markt eröffnen soll, bringt gleichzeitig eingespielte wirtschaftliche Kreisläufe zum Erliegen. So markiert der 1. Juli 2013 für Zagreb nicht nur den Beitritt zur Europäischen Union, sondern auch das Ende der kroatischen CEFTA-Mitgliedschaft. Über dieses mitteleuropäische Freihandelsabkommen wickelten regional tätige Unternehmen 20% der kroatischen Exporte ab. Diese gingen vornehmlich nach Bosnien, Serbien und in den Kosovo. Weil die EU neben sich allerdings Präferenzabkommen mit Drittstaaten nicht duldet, zwang sie Zagreb zum Ausstieg aus der CEFTA und anderen bilateralen Abkommen. Eine Modellrechnung des WIIW ergibt, dass dadurch etwa 200 Mio. Euro Verluste zu erwarten sind, während die Marktöffnung der EU 100 Mio. Euro mehr an Exporten bringt. Die schwächelnde Industrie wird dieses Minus nur schwer kompensieren können.
Wie Kroatiens Zukunft gestaltet werden muss, darüber hat unlängst der Chef der Nationalbank, Boris Vujčić, anlässlich eines Seminars im Wiener Bundeskanzleramt Auskunft gegeben. Staatliche Ausgaben senken, Auslandsinvestitionen anlocken, lautete sein Credo. Dazu lobte er die Anstrengungen der kroatischen Regierung, langfristige Arbeitskollektivverträge abzuschaffen sowie überhaupt die Arbeitskraft für Unternehmer billiger und flexibler zu machen sowie den Gesundheitssektor abzuspecken. Insbesondere das neue Investitionsgesetz, so Vujčić, sei vorbildhaft, weil es lokale Verwaltungen aus dem Genehmigungsverfahren hinausdränge, ökonomische Entscheidungen damit zentralisiere und neue Investoren mit einer 10-jährigen Befreiung von Körperschaftssteuern und anderen Erleichterungen anlocke. Neoliberalismus pur entlang der Adria.
Dementsprechend gedrückt ist die Stimmung im Volk. Für 70% der Bevölkerung kommt der Beitritt zur Europäischen Union in einem ungünstigen Moment, meint Višnja Samaržija vom Institut für Europäische Integration an der Universität Zagreb. „Sie fürchten einen verstärkten Brain-Drain, Konkurrenzdruck, höhere Preise, die Verdrängung lokaler Lebensmittel vom heimischen Markt und bangen um die nationale Identität des Landes“, fasst die frühere Staatssekretärin die Sorgen der Menschen zusammen. Der bekannte Zagreber Intellektuelle Žarko Puhovski formuliert seine Skepsis auf dem bereits angesprochenen Seminar im Wiener Bundeskanzleramt pointiert. Dass es keine Euphorie gäbe, so der Professor für Philosophie, sei als positiv zu bewerten, dann erspare man sich demnächst wenigstens die Enttäuschung, dass er aber keinerlei Freude im Land orten könne und überall Depression vorherrsche, sei ein schlechtes Zeichen. Der Zeitpunkt des kroatischen EU-Beitritts sehe danach aus, so Puhovski weiter, dass man gerade noch zum Brüsseler Begräbnis zurecht kommen wolle.
Von Hannes Hofbauer ist zuletzt (gemeinsam mit David Noack) erschienen: „Slowakei. Der mühsame Weg nach Westen“ Wien, Promedia Verlag 2012