Wer frühmorgens am Budapester Ostbahnhof aussteigt, sieht Berichte von einer reichen ungarischen Stadt – im Gegensatz zum Elend des Landes – widerlegt. Hier, rund um den Keleti pályaudvar, zieht nicht nur die winterliche Kälte durch die Seitengasse. Entlang der rund um mehrere Baustellen aufgestellten Werbeflächen ducken sich frierende Gestalten in windgeschützte Plätze. Im Durchgang neben dem Fleischerladen vis-à-vis herrschen auch 23 Jahre nach dem Systemwechsel kiosk-kapitalistische Verhältnisse, verkauft wird direkt aus der Großpackung heraus, ein Pappkarton dient als Unterlage. Und im einzigen Lokal weit und breit, das Sitzplätze anbietet und sich nicht auf »Kebab« oder »Coffee to go« spezialisiert hat, wird der billigste Wodka um 179 Forint (umgerechnet 60 Cent) angeboten. Den braucht man auch, um den lauwarmen Kaffee mit Hochprozentigem aufwärmen zu können.
Nach mehrjähriger Abwesenheit kommen dem Beobachter auch viele Menschen ausgezehrter, ihre Kleidung zerschlissener und ihr Wesen gedemütigter vor, als noch Mitte der 00er-Jahre. Darüber täuschen auch dem US-amerikanischen Konsummodell nachempfundene Einkaufstempel, wie beispielsweise der »Europark« bei Köbanya-Kipest nicht hinweg. Die wenigen asphaltierten Meter Fußweg vor dem strahlend beleuchteten Eingang enden noch vor der U-Bahn-Station »Hatar utca« im Morast. Branntweinstuben und chinesische Händler vor den Toren der gläsernen Shopping-Mall bilden einen eigenartigen Kontrast zum Interieur des Centers, in dem Geschäfte von allerlei Weltmarktprodukten Tür an Tür mit amerikanischen Fast-food-Ketten auf Kunden warten. Alkohol ist hier drinnen, in der Welt des künstlichen Lichts und der Security-bewachten Rolltreppen, verpönt.
Sozial deformiert und wirtschaftlich heruntergekommen hat Viktor Orban Ende Mai 2010 das Land von der Vorgängerregierung übernommen. Mittels Erdrutschsieg gelang es seinem Bürgerbund Fidesz in Allianz mit der Christlich-demokratischen Volkspartei 263 von 386 Parlamentssitzen zu erringen. Die Zweidrittelmehrheit erlaubt Fidesz seither ein Regieren ohne namhafte parlamentarische Opposition, eine – mit der Ausnahme Bayerns – Anomalie in der jüngeren politischen Geschichte europäischer Demokratien. Diese, von den ungarischen WählerInnen herbeigeführten Mehrheitsverhältnisse bzw. deren politische Nutzung, verleiten Kommentatoren vor allem liberaler Medien zum Adjektiv »autoritär«, wenn sie über Orban‘sche Politik schreiben. Scheinbar wohlmeinendere Stimmen suchen im Eigenschaftswort »ambivalent« Zuflucht, um die politische Logik der aktuellen Wirtschafts- und Sozialpolitik einzufangen. Der Kern des Phänomens wird damit freilich nur umgangen, nicht erklärt. Denn wie soll man es einschätzen, wird zu Recht gefragt, wenn eine liberal-konservative Kraft wie der Bürgerbund Fidesz im durch die Transformation stark geschwächten gesellschaftlichen Überlebenskampf an der EU-Peripherie nicht davor zurückschreckt, staatsinterventionistische Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben? Welche Kräfte, welche Ziele stecken dahinter?
Zur Ausgangslage
Die Wurzeln dieser Politik mit umgekehrten, linke und rechte Ideologie verdrehende Vorzeichen reichen weit in die kommunistische Epoche zurück. Seit den 1970er Jahren pendelte die »kommunistische« Wirtschaftspolitik zwischen Plan- und Marktphasen. Immer dann, wenn staatliche Plansolls nicht erfüllt wurden, stärkte die oberste Führung per Dekret marktwirtschaftliche Elemente, was sich makroökonomisch positiv und kulturell in der Bezeichnung »Gulasch-Kommunismus« niederschlug. Defizite der Planwirtschaft wurden – gleichsam planmäßig – durch private wirtschaftliche Aktivitäten kompensiert, die einen bescheidenen Wohlstand erlaubten. Sandor Richter[1. Gespräch mit Sandor Richter am 29. November 2012 in Wien.] vom Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) meint, dass sich die Funktionäre der kommunistischen Arbeiterpartei ebenso wie das Volk über die Jahre an diese rhythmische Pendelbewegung zwischen einmal mehr Markt und dann wieder mehr Staat gewöhnt hatten. Die relativ positiven Auswirkungen dieser Vermarktwirtschaftlichung, die freilich keinen Kapital-, Wohnungs- und Arbeitsmarkt im kapitalistischen Sinne kannten, ließen bei den politischen Eliten ein positives Gefühl gegenüber der Marktwirtschaft entstehen. Nach der Wende wuchs sich dieses vor allem bei den früheren, nun ex-kommunistischen Kadern und ihrer Nachfolgepartei MSZP zur Markteuphorie aus. Koalitionen mit der liberalen SZDSZ, die sich historisch aus einem Mix von städtischen oppositionellen Bürgerkreisen und vereinzelten Maoisten zusammensetzte, führten zu einer Offen-Markt-Politik, die (mit Ausnahme des Baltikums) ihresgleichen in Osteuropa suchte.
Auf der anderen Seite der politischen Skala hieß konservativ zu sein in kommunistischen Zeiten, Nation und Religion in den Vordergrund zu stellen. Wirtschaftlicher Liberalismus hatte keine von entsprechenden Eigentümern getriebene Basis. Es fehlte dafür schlicht und einfach eine einheimische Kapitalakkumulation.
Worüber sich Linke und Rechte einig sind: acht Jahre sozial-liberale Koalitionsregierung haben Ungarn sozial devastiert und wirtschaftlich an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geführt. Vier Millionen UngarInnen (von zehn Millionen) leben heute in Armut. »Viele davon wissen heute tatsächlich nicht, wie sie morgen etwas zu essen bekommen werden. Es ist schlechter als unter Horthy«, meint die bekannte Soziologin Annámaria Artner[2. Gespräch mit Annámaria Artner am 4. Dezember 2012 in Budapest.] vom Institut für Weltwirtschaft an der Budapester Akademie der Wissenschaften. Die Reallöhne befinden sich aktuell auf dem Niveau von 1980, die Pensionen mit durchschnittlich 200 Euro im Monat knapp darunter. Mit einer Mindestrente von 100 Euro lässt sich gerade die Gasrechnung einer mittelgroßen Wohnung bezahlen. Als letzten unsozialen Akt unmittelbar vor ihrem Abtreten hat dann noch die Krisenregierung Bajnai im Mai 2010 das 13. Monatsgehalt gestrichen. »Fidesz war mit einem nicht nur sozialen, sondern insgesamt wirtschaftlichen Notstand konfrontiert. Allein die Tatsache, dass der Haushaltsplan 2010 nur bis Juni (knapp nach den Wahlen) ausgearbeitet war, zeigt, wie unverantwortlich die Vorgängerregierung gearbeitet hat«, meint Akos Mesterházy[3. Gespräch mit Akos Mesterházy am 5. Dezember 2012 in Budapest.] von der Akademie der Wissenschaften. Und setzt hinzu: »Während das ungarische BIP/Kopf bei 60-65 Prozent des EU-Durchschnitts liegt, machen die Löhne magere 20 Prozent aus.«
Auch makroökonomisch trat Fidesz ein schweres Erbe an. 2010 betrug die Staatsverschuldung des Landes 84 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, seit 2006 wurden die Maastricht-Kriterien regelmäßig verfehlt. Dazu kommt ein Strukturproblem, das in die Zeit des Systemwechsels zurückreicht und jährlich tiefe Löcher ins Budget reißt. Von zehn Millionen Ungarn beziehen drei Millionen eine Pension, knapp 800.000 davon sind Früh- oder Invalidenrentner. Zsigmond Perényi[4. Gespräch mit Zsigmond Perenyi am 5. Dezember 2012 in Budapest.], Direktor der außenpolitischen Abteilung von Fidesz, erklärt dieses Phänomen mit einem seinerzeit eingegangenen gesellschaftlichen Kompromiss: »In Ungarn hatten wir 1989 keine Revolution. Viele Menschen, die im Zuge der Betriebsschließungen oder Rationalisierungen der Wende-Zeit keine Arbeit mehr fanden, wurden in Frühpension geschickt. Das betraf sogar 40-Jährige.« Damit begegnete man etwaiger sozialer Unzufriedenheit, die durch Arbeitsplatzverlust entstanden wäre. Die Kosten dieser Politik sind allerdings beträchtlich.
»Es gab grundsätzlich drei Möglichkeiten, wie wir aus der Misere herauskommen konnten«, deckt Perényi die Karten der Fidesz-Politik ein wenig auf: Sparen im Staats- und Gemeindewesen, was mit dem – eher symbolischen – Plan zur Reduktion der Abgeordneten von 386 auf 199 passieren soll. Des Weiteren: »Sparen bei der Bevölkerung, was angesichts der Lage eigentlich nicht mehr geht. Und die Einforderung von Solidarität auch gegenüber jenen Unternehmen, die seit 20 Jahren gutes Geld in Ungarn verdient haben. Die sollen teilweise zur Kasse gebeten werden.«
Die Nationalisierung der Pensionsfonds
Das Wahlprogramm, mit dem Fidesz den überwältigenden Sieg 2010 fixieren konnte, fußte auf vier großen Versprechen: die Schaffung von einer Million neuer Jobs binnen zehn Jahren, der Umbau des öffentlichen Dienstes, Steuererleichterungen für die Mittelklasse und der Kampf gegen die Korruption.[5. Vgl. Pester Lloyd vom 15. März 2010.]
Als erste und bedeutendste wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahme landeten Fidesz mit der Re-Verstaatlichung der Pensionsfonds einen veritablen Coup. Getrieben war dieses Vorhaben von der blanken Not der leeren Staatskassen. Diese waren nicht zuletzt wegen den privaten Versicherungsanbietern immer weiter ins Minus geraten. Denn seit die Sozialistische Partei (MSZP) mit ihrem liberalen Koalitionspartner im Jahr 1997 die Altersvorsorge dem Kapitalmarkt anheimgestellt hatte, musste der Staat jährlich hohe Beträge für die im alten System verbliebenen Pensionisten nachschießen. Die damals von den Markt-Euphorikern aufgestellte Rechnung war einfach: Mit der Öffnung der Pensionskassen für private Investoren flossen ab 1998 hohe Summen auf deren Konten, die in der Folge auf dem Wertpapiermarkt »angelegt«, also spekulativen Geschäften zugeführt wurden. Mit der gesetzlichen Verordnung zur Schaffung der privaten Pensionssäule verfügten die allgemeinen staatlichen Kassen ab 1. Januar 1998 nur mehr über weniger als zwei Drittel der Pensionsgelder. Von den pensionsrelevanten 20 Prozent der Löhne und Gehälter, die zuvor staatlich verwaltet wurden, verblieben nur 13 Prozent in den staatlichen Kassen, sieben Prozent gingen an private Fonds. Eine Wahlmöglichkeit existierte nicht.
Freilich fehlte nun dieses Geld für die Auszahlung der PensionistInnen, hatte doch zuvor das gesamte Rentenwesen auf dem solidarischen Generationenvertrag basiert. Die Jungen zahlten für die Alten. Wenn nun ein beträchtlicher Teil – unter IWF-Anleitung und nach dem chilenischen Vorbild der 1980er Jahre – im sogenannten Kapitaldeckungsverfahren aus dem solidarisch-kollektiv gedachten Kreislauf abgezogen und privat-individuell veranlagt wird, entsteht ein budgetäres Loch für die Auszahlung der alten, auf dem Generationenvertrag beruhenden Renten. Dieses hatte sich im Jahr 2010 in Ungarn auf umgerechnet elf Milliarden Euro vergrößert. Die staatlichen Pensionskassen waren leer.
In dieser Situation lag es nahe, sich das Geld dort zu holen, wohin es abgezogen worden war: bei den privaten Versicherungsinstituten. Das Programm dazu existierte bereits seit 2009, ausgearbeitet von Nichtregierungsorganisationen. Damals forderte eine Allianz aus NGOs rund um die ungarische Attac-Gruppe eine »90-Grad-Linkswende«, wie sie es nannte. »Wir riefen nach der Nationalisierung der Pensionsfonds, aber Fidesz hat es dann später gemacht«, weist Annámaria Artner, die als Ökonomin dieser linken Allianz angehört hatte, auf die Ironie der Entstehungsgeschichte hin.
Bereits Anfang 2011 griff also Viktor Orban nach den privaten Fondsgeldern. Jeder Ungar und jede Ungarin erhielt einen Brief, in dem ihm oder ihr angeboten wurde, innerhalb einer bestimmten Frist vollständig in die staatliche Pensionsversicherung zurück zu wechseln. Die Wahl fiel nicht schwer, waren doch zwischenzeitlich durch die Weltwirtschaftskrise die in Aktien angelegten Gelder vor aller Augen dahin geschmolzen. Von den 2,9 Millionen privat Versicherten blieben nur 100.000 dem Kapitaldeckungsverfahren treu, der Rest ging zurück zu Vater Staat. Dieser scheute sich nicht, etwa die Hälfte der nun wieder eintrudelnden Gelder zur Deckung des Budgetdefizits (und zum Rückkauf von Anteilen des Energieriesen MOL) zu verwenden, was ihm von seinen Gegnern als Missbrauch vorgeworfen wurde. Eine gewisse Logik hatte die Vorgangsweise allemal, waren doch in den Jahren zuvor jährlich hohe Millionenbeträge aus dem Budget aufgewendet worden, um die durch die Privatisierung entstandenen Löcher im Pensionssystem zu stopfen. Die formal eingehaltene Freiwilligkeit der Rückkehr ins staatliche Pensionsversicherungswesen erschwert den privaten Versicherern seither den Rechtsweg.
Verstaatlichungen und Re-Kommunalisierungen
»Dies ist eine kalte Enteignung«, empörte sich Frank Dicker, Vorstand des in vielen Ländern Osteuropas tätigen österreichischen Abfallunternehmens »Saubermacher«, als er im Herbst 2012 dem neuen Gesetz zur Rückverstaatlichung wichtiger Betriebe der Daseinsvorsorge folgend eine ungarische Tochterfirma, »Saubermacher Pannonia«, an die Stadt Nagykanizsa verkaufte. Mit der Rückverstaatlichung bzw. Re-Kommunalisierung wichtiger Einrichtungen hat Fidesz einen weiteren »linken« wirtschaftspolitischen Schritt getan und damit die von Sozialisten und Liberalen getätigten Privatisierungen wieder aufgehoben. Ab 1. Januar 2014, so heißt es im neuen Gesetzestext, dürfen kommunale Versorger für Wasser, Kanal und Abfallwirtschaft nur mehr zu höchstens 49,9 Prozent in privaten Händen verbleiben. »Auch strategische Dinge wie Energie- und Gasleitungen müssen unter staatliche Kontrolle«, setzt Fidesz-Mann Perényi nach.
Argumentiert wird dieser Schritt sowohl mit den enorm gestiegenen Preisen – so haben sich die Kanal-, Wasser- und Müllgebühren seit der Wende 1989 um sagenhafte 1.000 Prozent verteuert – als auch mit den mangelnden Investitionen mancher ausländischer Firmen.
Großen Städten wie Budapest und Pécs ist es mittlerweile gelungen, die Wasserversorgungseinrichtungen von meist französischen Unternehmungen zurückzukaufen. Das Gesetz, das die bevorstehende kommunale oder staatliche Mehrheitseigentümerschaft vorschreibt, hat ihnen dabei geholfen, den Preis niedrig zu halten.
Neben Re-Kommunalisierungen lässt sich die Fidesz-Regierung auch Rückverstaatlichungen einiges kosten. Strategisch bedeutsame Betriebe im Energiebereich werden Stück für Stück den privaten Eignern abgekauft, um über sie staatliche Kontrolle zu erlangen. So ist es z.B. mit dem Öl- und Gasriesen MOL passiert. Eine nach der Wende von der österreichischen ÖMV gekaufte 25 prozentige Beteiligung, die dieser die Sperrminorität gesichert hatte, war von den Wiener Investoren – »unfreundlicher Weise« – wie es in Börse-Kreisen hieß, an russische Konkurrenten verkauft worden. Dies deshalb, weil die ÖMV ihrerseits die ungarische MOL mit ihrem ausgedehnten Tankstellennetzwerk schlucken wollte, sich dabei aber in Budapest eine Abfuhr holte. Nun wurden 500 Milliarden Forint (umgerechnet 1,8 Milliarden Euro) aus dem nationalen Budget aufgebracht, um MOL wieder ungarisch zu machen. »Dieser Kauf war betriebswirtschaftlich vielleicht nicht rentabel«, kommentiert Zsigmond Perényi von Fidesz die Ausgabe, »aber strategisch wichtig.«
Sondersteuern für‘s Budget
Europaweites Aufsehen – und durchgehende Ablehnung in den führenden politischen und medialen Kreisen – hat Viktor Orban mit der Einführung von Sondersteuern für bestimmte Branchen erfahren. Die vier Auserwählten sind: der Bankensektor, die Energiewirtschaft, die Telekommunikation und der (von großen Ketten) dominierte Einzelhandel. Explizit nicht zusätzlich besteuert wird das produzierende Gewerbe und die Industrie.
Bei den Banken war (und ist) die Aufregung besonders groß. Denn die ursprünglich nur für ein Budgetjahr eingeführte Besteuerung ist auch über 2013 hinaus verlängert worden. Außerdem sind die Direktoren der großen Geldinstitute auf den Barrikaden und in den Lobbies der Europäischen Union protestierend und intervenierend tätig, weil Fidesz perfide genug war, 2012 nicht die – kurz zuvor eingebrochenen – Gewinne zu besteuern, sondern den Umsatz. Sandor Richter vom WIIW schätzt, dass diese Sondersteuer einer Belastung von elf-zwölf Prozent des Grundkapitals der großen Banken entspricht. Parallel dazu hat Orban – übrigens als erster in der EU – eine ab 2013 einzuhebende Finanztransaktionssteuer von 0,2 Prozent auf alle Geldbewegungen eingeführt, die ebenfalls Geld von den Kreditinstituten in den nationalen Haushalt spülen soll.
Vorgesehen sind des Weiteren Sondersteuern für Telekommunikationsunternehmen – auf Minutengesprächsbasis[6. Der Standard vom 23. April 2012.] abzurechnen – und für den Einzelhandel. Letzteres rechtfertigt Zsigmond Perényi vom internationalen Sekretariat der Fidesz-Partei mit jahrelangen Verlustabschreibungen und Gewinnverschiebungen der großen Handelskonzerne. Zum Beispiel die britische Lebensmittelkette Tesco: Diese hatte „zuletzt einen Jahresumsatz von zwei Milliarden Euro, Steuern wurden aber nur wenige Millionen bezahlt. Die Profite wurden nach England verschoben“. Solch steuerschonenden Maßnahmen begegnet die ungarische Regierung nun mit Sondersteuern.
Politisch-strategisch stecken mehrere mögliche Überlegungen hinter den Orbanschen Sondersteuern. Zum einen die Differenzierung von ortsgebundenem und weniger ortsgebundenem Kapital. Das wird auffällig, wenn man sich vor Augen hält, dass es hauptsächlich der Dienstleistungssektor ist, über den zusätzliche Steuern verhängt werden. Mobilfunk- und Festnetzbetreiber, Banken und Handelsketten haben eines gemeinsam: sie müssen vor Ort sein, um ihre Profite realisieren zu können. Das ist bei großen produzierenden Betrieben nicht so notwendig. Wenn z.B. in der Automobilbranche die Steuerschraube zu stark angezogen würde, könnten General Motors, Suzuki oder andere ihre Werke an für sie billigere Standorte weiter im Osten Europas oder nach Asien verlegen. Telefongesellschaften und Supermarktketten können nicht vor staatlichen Interventionen fliehen.
Mit der Frage der Standortgebundenheit korreliert in gewisser Weise die bereits angesprochene Differenz zwischen produzierendem und nicht-produzierendem Kapital. Um historisch rechts konnotiertes Vokabular zu verwenden: Schaffende Investoren werden von Fidesz hofiert, raffende zur Kasse gebeten. Das hat sich erst unlängst wieder beim staatlichen Jubel um die Errichtung einer Mercedes-Produktionsstätte in Kecksemét deutlich gezeigt, die Viktor Orban stolz die Brust hat schwellen lassen.
Eine von westlichen Medien immer wieder vorgeworfene Unterscheidung von ungarischem und ausländischem Kapital, nach der sich die neue Steuergesetzgebung richten würde, ist nur bedingt richtig. Denn erstens betreffen die Sondersteuern auch große ungarische Unternehmungen wie die Bank OTP oder den Energieriesen MOL, und zweitens entspricht dies eben der Wirtschaftsstruktur des Landes. In allen profitablen Sektoren haben sich seit 1989 mehrheitlich ausländische Gruppen festgesetzt. Der Mangel an ungarischem Kapital zusammen mit dem politischen Willen der meisten Regierungen, in ausländischen Direktinvestitionen ihr wirtschaftspolitisches Heil zu suchen, hat zu dieser Eigentümerstruktur geführt. Daraus zu schließen, Fidesz würde kein ausländisches Investment wollen, ist falsch.
Fidesz asozial: Die Einführung der Flat Tax
Die Umsetzung der im Wahlkampf versprochenen Steuersenkung zeigte das unsoziale, die Armen verachtende Gesicht der Orban‘schen Politik. Als einschneidenste Maßnahmen wurden die Abschaffung der Steuerprogression bei der Einkommenssteuer und die Festlegung einer Flat Tax in der Höhe von 16 Prozent beschlossen. Zuvor waren Steuersätze bis 32 Prozent für Gutverdiener üblich. Damit nicht genug, senkte Fidesz die Körperschaftssteuer für Unternehmen auf zehn Prozent. Gleichzeitig steigerte sich der höchste Mehrwertsteuersatz auf EU-Rekord: 27 Prozent.
Zsigmond Perényi vom internationalen Sekretariat bei Fidesz erklärt die Maßnahmen ideologisch: »Die Idee war, den Konsum mehr und die Einkommen weniger zu besteuern. Alle, die mehr als 220.000 Forint im Monat (umgerechnet 800 Euro) verdienen, gewinnen mit der 16 prozentigen Flat Tax.« Diejenigen, die drunter liegen, und das sind bei einem Durchschnittslohn von gerade einmal 140.000 Forint mehr als ein Drittel der UngarInnen, sind die VerliererInnen dieser Maßnahme, weil parallel zur Einführung der Flat Tax die Streichung der Ausgleichszulagen beschlossen wurde.
Kritik an der Flat Tax kommt nicht nur von sozialen Einrichtungen und linken Kräften. Auch die ehemalige Staatssekretärin in der konservativen Regierung Antall, Katalin Botos[7. Gespräch mit Katalin Botos am 4. Dezember 2012 in Budapest.], lässt kein gutes Haar an der flachen Steuer: »Die Flat Tax ist problematisch. Sie hilft den Armen nicht und belässt das Geld bei den Reichen«, meint sie im Gespräch.
Das Kalkül hinter der Abschaffung der progressiven Einkommenssteuer war indes nicht nur ein ideologisches zur Rettung des Mittelstandes, sondern auch materiell fundiert. Da ist einmal die Gleichzeitigkeit der Einführung der Sondersteuern für große Dienstleistungsbetriebe und der Steuersenkung auf höhere Einkommen bemerkenswert. Das könnte ein Signal an das mittlere und höhere Management in den Banken, Energiebetrieben und Handelsketten gewesen sein – nach dem Motto: wir besteuern zwar die Unternehmen höher, in denen ihr arbeitet, aber eure persönlichen Einkommen steigen mit der niedrigen 16 prozentigen Flat Tax gewaltig. Die Empörung über die Sondersteuern konnte jedenfalls im Management, nicht bei den Eigentümern, mit dieser Maßnahme klein gehalten werden.
Und dann war da noch ein makro-ökonomischer Effekt zu bemerken, der sich mehr oder weniger direkt aus der Senkung der Einkommenssteuer ergeben hat. Das nun überschüssige Geld der besser Bezahlten suchte nach Anlagemöglichkeiten. Fidesz bot die entsprechenden Staatsanleihen. Der Run auf die staatlichen Papiere war enorm. »Die Idee, erspartes Geld der Reichen zur Zeichnung von Staatsanleihen zu requirieren, ging voll auf«, meint dazu die Ökonomin Botos. Anleihen in Forint, die neun Prozent Zinsen versprachen und solche in Euro, die fünf Prozent garantierten, waren im Nu überzeichnet. Damit gelang es Fidesz auch, jenseits des ungeliebten IWF Kapital zur Refinanzierung des Staates aufzubringen. Neidlos müssen auch Gegner von Viktor Orban anerkennen, dass er Mitten in der Krise private Reserven – freilich auf Kosten der Armen – zur Finanzierung des Staates mobilisieren konnte.
Die Armut nimmt weiter zu
Statistisch zusammen gefasst, sieht die soziale Schieflage folgendermaßen aus: während das ungarische Preisniveau je nach Produktgruppe zwischen 80 Prozent und 110 Prozent des EU-Durchschnitts ausmacht, liegen die Löhne und Pensionen bei 22 Prozent, so der grüne Abgeordnete Gabor Scheiring im April 2012 auf einer Tagung in Wien.
Die Ökonomin Katalin Botos, früher in der Regierung József Antall tätig, hat errechnet, dass das Realeinkommen der ungarischen Bevölkerung im Jahr 2011 nicht einmal das Niveau von 1980 erreicht hat: »Die Wende hat unseren Lebensstandard nicht erhöht, die Kluft zwischen Arm und Reich ist allerdings enorm gestiegen. Damals haben wir uns das umgekehrt vorgestellt.«
Fidesz hat diesem strukturellen Problem nichts entgegenzusetzen. Im Gegenteil: ein frisch geschnürtes Sparpaket holt zu weiteren sozialen Attacken aus. Der nach einem Ministerpräsidenten vor dem Ersten Weltkrieg genannte Széll Kálmán-Plan vom Mai 2011 entspricht den Vorgaben des Weltwährungsfonds: das Pensionsantrittsalter wurde auf 65 erhöht, die Arbeitslosenunterstützung von neun auf drei Monate gekürzt, die Arbeitszeit flexibilisiert, weitere Einsparungen im Gesundheits- und Erziehungswesen durchgeführt und Stipendien reduziert. Sogar die Schließung von Universitäten steht im Programm.
Vor allem im Bereich der Arbeitsrechte zeigt der Fidesz-Plan den Beschäftigten die eiskalte Schulter. Wochenarbeitszeiten dürfen nach Unternehmensbedarf unter gewissen Bedingungen auf 60 Stunden ausgedehnt werden. Ein Unterschied zu den viel gescholtenen Sparmaßnahmen unter dem früheren liberalen Wirtschaftsminister Gordon Bajnai ist kaum zu erkennen.
Für Arbeitslose, gleich ob offiziell gemeldet oder seit längerem aus dem Arbeitsmarkt geworfen, legt Viktor Orban ein neues Programm auf: Mit sogenannten »öffentlichen Anstellungen« soll jenen eine Chance gegeben werden, die im privaten Sektor keine haben. Die auf den ersten Blick groß angelegte Maßnahme zur Arbeitsplatzbeschaffung entpuppt sich indes bei näherer Betrachtung als zynisches Kalkül. Schlappe 48.000 Forint (175 Euro) netto erhalten jene pro Monat, die sich zur »öffentlichen Anstellung« melden. Gearbeitet wird vornehmlich als Putzkolonnen in Gemeinden oder Schulen, auch kleine Dienstleistungen für private Unternehmen, die sich unqualifizierte Arbeitskräfte über diesen Weg vom Staat bezahlen lassen, werden auf dieser Basis entlohnt. Der Szell-Kálmán-Plan zeigt auf, wie sehr »das Fidesz-Regime zu allererst die Armen trifft. Ihr Traum von einer einheimischen Mittelklasse hingegen«, so die Ökonomin Annámaria Artner, »scheitert an der Schwäche des ungarischen Kapitals.«
Welche Eigenschaft?
Konservativ, liberal-konservativ, national, links oder rechts? Die Zuordnungen, die Fidesz für seine Wirtschafts- und Sozialpolitik einheimst, sind multipel und unterscheiden sich naturgemäß je nach der Einstellung des Betrachters. Von ihrer ursprünglichen Entstehung während der Wende-Zeit waren die »Jungdemokraten«, wie sie genannt wurden, eher liberal eingestellt, drifteten in der Folge mehr und mehr ins Konservative, um sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre national und patriotisch zu verorten. Im zugegeben vereinfacht dargestellten kulturellen Gesellschaftsmuster Ungarns, das die zwei gesellschaftlichen Pole »kosmopolitisch« und »ungartümeln« kennt, nimmt Fidesz heute die ungarisch-nationale und damit eine rechte Position ein. Sein Antikommunismus ist legendär, alles Kollektive wird von den Parteigängern verabscheut.
Fidesz steht für eine Auferstehung der durch allzu freche ausländische Übernahmen als erniedrigt empfundenen ungarischen Nation. Klassenkämpferisch ist Orbans Politik insofern, als dass der Mittelstand hofiert und als einziger Träger des wahren Ungartums gesehen wird. Insofern lehnt sich die Wirtschafts- und Sozialpolitik der ungarischen Regierung auch eher an ein ständisch-nationales Konzept an, wie es in den 1930er Jahren existiert hatte.
Links ist an der Politik von Fidesz die anti-liberale Praxis, die allerdings in vielen Fällen im Rhetorischen stecken bleibt. Dazu gehören die staatlichen Interventionen in die verschiedenen Dienstleistungssektoren ebenso wie die Verstaatlichung von Einrichtungen der Daseinsvorsorge. Eine solche Politik ist neu für Ungarn, das seit dem Durchschneiden des Eisernen Vorhanges im Sommer 1989 den Vorgaben internationaler Finanzorganisationen aus freien Stücken und mit meist tiefer Überzeugung gefolgt ist. Ein Loslösen aus dem Kanon der überall gepredigten Austerität ist freilich nicht möglich, zu stark aus- und zugerichtet ist Ungarns Ökonomie auf die periphere Rolle eines Billiglohnlandes innerhalb der Europäischen Union. Fidesz ist sich der sozialen Schieflage im Land bewusst, verweigert allerdings den Einsatz für die am meisten Ausgebeuteten und am schlechtesten Gestellten. Damit vermeint Orban genug Handlungsspielraum für die Rettung eines selbst imaginierten Bildes zu haben: einem ungarischen Mittelstand, dem allein er sich verpflichtet fühlt. Nach dem Motto: die Nation als Ganzes wird nicht zu retten sein, also versuchen wir es mit einem gesellschaftlichen Kern, den wir dann nationsgleich setzen. Insofern folgt Fidesz traditionellen national-liberalen Rezepten, die überall in Europa immer dann auftauchen, wenn sich die vollständige Offen-Markt-Politik als verheerend erwiesen hat.
»Fidesz macht eine gemischte Politik, mal links, mal rechts. Dass die Reichen nicht besteuert werden, ist diesem Modell eigen«, bringt die christlich-konservative Ökonomin Katalin Botos die Position von Fidesz auf den Punkt. Ihre linke Kollegin Annámaria Artner fasst die Kernfrage nach der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik mit folgenden Worten zusammen: »Wir erleben hier eine anti-liberale Politik, die allerdings nicht links ist.« Und aus der Selbstsicht eines überzeugten Fidesz-Anhängers beschreibt Zsigmond Perényi seine Partei elaboriert: »Sozialpolitisch sind wir eher links, bei den Staatsbürgerschaften national und in der Kultur- und Außenpolitik konservativ orientiert.«
This article was originally published in April 2013 in INTERNATIONAL – Zeitschrift für internationale Politik, Issue 1-2013.