Chinas neuer Machthaber: Xi Jinping und der chinesische Traum

Chinas neue Weltmachtrolle ist unbestritten, sie steht aber auf einem wackeligen Fundament: Die soziale Kluft wird größer, die Korruption hat historische Dimensionen angenommen und chauvinistische und militärische Abenteuer in der Außenpolitik könnten die Stabilität des Landes sehr rasch unterminieren. Größere politische Reformen im Sinne stärkerer Bürgerrechte und mehr Demokratie sind auch unter dem neuen KP-Vorsitzenden kaum zu erwarten.

Die Parallelität zweier Ereignisse im November letzten Jahres hätte nicht deutlicher den Unterschied der politischen Ordnungen illustrieren können: In den beiden wichtigsten Staaten der Erde – da gehört China mittlerweile dazu – wurde die oberste politische Führung neu bestellt. Die Präsidentenwahl in den USA am 6. November des Vorjahrs mag zwar auch nicht perfekte Demokratie gewesen sein, aber immerhin hatten die Menschen eine echte Wahl zwischen Barack Obama und Mitt Romney, eine breite Öffentlichkeit konnte Persönlichkeiten und politische ldeen debattieren.

In der Volksrepublik China hingegen fand die Auswahl eines neuen KP-Vorsitzenden und designierten Staatschefs hinter fest verschlossenen Türen statt. Wie bei einer Papstwahl stieg am 15. November 2012 quasi weißer Rauch auf, und die neue siebenköpfige Führungsmannschaft mit Xi Jinping an der Spitze trat vor den Vorhang. Dass Xi Parteivorsitzender würde, hatte man zwar schon vorher gewusst, doch wie es genau zu der Entscheidung gekommen war, warum diese und keine anderen Politiker nun im innersten Führungsgremium, dem »Ständigen Ausschuss des Politbüros«, saßen, warum am Schluss dann doch keine ausgewiesenen »Reformer« auf der Liste standen, sondern ausschließlich mehr oder weniger konservative Technokraten, all das bleibt Spekulation – schon jede öffentliche Debatte im Vorfeld wurde durch den Zensurapparat abgewürgt, die chinesische Staatsführung war geradezu manisch bemüht, nur ja nichts preiszugeben, was auf politische Nuancen oder gar Meinungsdifferenzen hinweisen könnte.

Weltmacht China

Unbestritten steht eine große Mehrheit der chinesischen Bevölkerung heute materiell enorm besser da als vor dreißig oder fünfzig Jahren, und mit jährlichen Wachstumsraten zwischen sieben und zehn Prozent über die letzten dreißig Jahre ist China nicht nur zu einem bestimmenden Faktor der Weltwirtschaft geworden, sondern längst auch politisch und militärisch zu einem globalen Akteur. Die Frage ist also nicht mehr, OB China zu einer neuen Weltmacht aufsteigen wird, die in immer mehr Bereichen mit den USA, mit Europa und Japan gleichzieht, die Frage ist vielmehr, WANN das passiert, und vor allem, WIE das zustande kommt, von welchen Rahmenbedingungen im Inneren und Äußeren dies begleitet sein wird, und wie die neue globale Macht damit umgehen wird.

Für ein endgültiges Urteil ist es wohl noch zu früh, doch klar ist, dass China das Weltgeschehen und seine Regeln zunehmend mitbestimmen wird, und dass dies auch Auswirkungen für uns haben wird. Der »Westen« muss wohl politische und ökonomische Macht abgeben, vielleicht auch spürbare Wohlstandeinbußen zugunsten Chinas und anderer aufstrebenden Länder hinnehmen. Eine Win-win-Situation wird es bestenfalls in Teilbereichen geben, vor allem dann, wenn es gelingt, diese Neuordnung des Weltsystems ohne allzu große Konflikte (oder gar Kriege) zu managen.

Doch es geht nicht nur um Wirtschaft und Wohlstand. Hinter dem ökonomischen Aufstieg Chinas zeichnet sich auch ein Wettstreit der politischen Systeme ab, zwischen unserem westlichen, das – bei allen Unzulänglichkeiten – von individuellen Freiheiten und pluralistischer Demokratie geprägt ist, und dem »chinesischen Modell« einer zwar wirtschaftlich erfolgreichen, aber autoritär regierten Gesellschaft mit vielen Einschränkungen persönlicher Freiheiten.

Das System China

In der UNO und in anderen internationalen Organisationen, aber auch in seiner internationalen Medienpräsenz hat China begonnen, seine Weltsicht und sein »Modell« zu propagieren und einzubringen, durchaus in Konkurrenz zum Modell des Westens. Das mag uns auf den ersten Blick noch gar nicht evident erscheinen, doch ein Beispiel: China beteiligt sich längst an der internationalen Debatte über »Menschenrechte« und »Demokratie«, indem es diese Begriffe mit eigenen Definitionen befüllt. Wenn man sich heute in einer Pekinger Buchhandlung umsieht, findet man ganze Regale mit Literatur zu diesen Themen. Und man findet darin immer wieder die gleichen Einschränkungen und Argumente, die die offizielle chinesische Sicht zu Bürgerrechten prägen: »Kollektive Rechte«, das Gemein- und Staatswohl sowie »Stabilität« der Gesellschaft stünden über individuellen Freiheiten[1. Sonya Sceats, Shaun Breslin: China and the International Human Rights System, The Royal Institute of International Affairs, London, October 2012, S.9, http://www.chathamhouse.org/sites/default/files/public/Research/International%20Law/r1012_sceatsbreslin.pdf (05.03.2013).], diese dürften nicht dazu benutzt werden, um die »Verfassung« und die »Grundprinzipien« in Frage zu stellen (also die Führungsrolle der Kommunistischen Partei, den »Sozialismus« usw.).

Ganz direkt gesagt: UN-Dokumente wie die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« oder auch die bei beiden Menschenrechts-Chartas über bürgerliche und politische Rechte sowie wirtschaftliche und soziale Rechte könnten heute wohl kaum mehr in dieser Form verabschiedet werden. Die Volksrepublik China hat zwar beide unterzeichnet, aber nur die über die wirtschaftlichen und sozialen Rechte auch im »Volkskongress« ratifiziert, und – so wie auch bei einem guten Dutzend weiterer Grundrechtsvereinbarungen im Rahmen der Vereinten Nationen – immer wieder Vorbehalte zu einzelnen Abschnitten angemeldet, also Ankündigungen, dass China diese Punkte nicht umsetzen werde.

Vor allem stemmt sich China – mit Hinweis auf das Prinzip der Nichteinmischung und der Wahrung der staatlichen Souveränität – gegen internationale Kontroll- und Überwachungsgremien, gegen internationale Gerichtsbarkeit (z.B. bei der Anti-Folter-Konvention) [2. Katie Lee: China and the International Covenant on Civil and Political Rights: Prospects and Challenges, in: Chinese Journal of International Law, 2007, 6(2): 445-474, http://intl-chinesejil.oxfordjournals.org/content/6/2/445.full (02.03.2013).], gegen die Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger, individuell Klagen gegen das Verhalten des eigenen Staates einzubringen, aber auch direkt gegen bestimmte Rechte, zum Beispiel gegen das Recht auf die Bildung von unabhängigen Gewerkschaften.

Im UN-Menschenrechtsrat in Genf, wo China sechs Jahre lang (bis 2012) Mitglied war, brachte es immer wieder aktiv seine Sichtweise ein bzw. verhinderte gegenläufige Erklärungen und Vorgangsweisen, oft zusammen mit Staaten wie Kuba, Algerien, Iran, Russland oder Sudan, wenn es etwa darum ging, die Verurteilung von groben Menschenrechtsverstößen in Burma oder Simbabwe zu unterbinden oder kritische NGO-Berichte unter Verschluss zu halten.[3. Sceats/Breslin, S. 41/42.]

Bei der 18. regulären Session des Menschenrechtsrates im September 2011 trat China als Sprecherin von 32 Staaten auf, um eine gemeinsame Erklärung zur Frage öffentlicher Proteste im Zuge der arabischen Revolution vorzubringen. Darin wurde die Pflicht der Regierungen betont, »Maßnahmen zu ergreifen, um die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Ordnung und soziale Stabilität« aufrecht zu erhalten. Internationale Zusammenarbeit im Bereich Menschenrechte müsse »in vollem Respekt der Souveränität, territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit« erfolgen. Weiter warnte die Erklärung vor den Gefahren eines »Missbrauchs sozialer Medien«.[4. Sceats/Breslin, S. 29.]

Insgesamt bleibt Chinas Position in Menschenrechtsfragen generell skeptisch gegenüber den Ideen von Demokratie und individuellen Bürgerrechten: Diese seien ein Produkt der europäischen Aufklärung und auf die Bedingungen westlicher Gesellschaften zugeschnitten. China wird es allerdings auch leicht gemacht, von seinen eigenen Defiziten abzulenken, wenn die Einschränkung von Bürgerrechten, etwa im »Kampf gegen den Terrorismus«, auch in den USA und in der EU – Stichworte Vorratsdatenspeicherung, Guantanamo oder verschärfte Kontrollen von Internetinhalten – immer leichtfertiger hingenommen wird.

So wie die anderen Großmächte?

Jahrzehnte hindurch hat China international eher zurückhaltend agiert, heute bekennt es sich recht selbstbewusst zu seiner neuen Weltmachtstellung, und in zahlreichen Büchern und Medienbeiträgen wird dieser Aufstieg thematisiert und debattiert. 2006 strahlte das Zentrale Fernsehen (CCTV) eine zwölfteilige historische Serie mit dem Titel »Der Aufstieg der großen Mächte« aus, auch um die eigene Bevölkerung auf die neue Großmachtrolle einzustimmen, wie sich aus der begleitenden Webseite ablesen lässt: »Das heutige China ist auf dem Weg zu einem glorreichen Aufstieg. Gestützt auf die Weite des Landes, seine mächtige Bevölkerung und lange Geschichte wird China einen Meilenstein in der Entwicklung der Menschheit setzen. […] Die letzten 160 Jahre hat China darum gerungen, nun wird die Welt erneut seine Stimme hören. Die enormen Veränderungen seit der Gründung des neuen China […] erlauben uns nun, noch selbstbewusster und gelassen in die Welt zu treten und den Weg einer Großmacht zu beschreiten.«[5. cctv.com, 14.11.2006, http://finance.cctv.com/special/C16860/20061114/103406.shtml (03.03.2013).]

Zum ersten Mal hat der Vizerektor der Parteiakademie der KP Chinas, Zheng Bijian, im Jahr 2005 in einem Beitrag für die US-amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs den Begriff des »friedlichen Aufstiegs« geprägt, ganz offensichtlich mit der Absicht, westliche Ängste zu beschwichtigen.[6. Zheng Bijian: China‘s »Peaceful Rise« to Great-Power Status. In: Foreign Affairs, Sept/Oct 2005.] Chinas Aufstieg zu einer Großmacht werde kommen, schreibt Zheng, aber er werde sich »friedlich« und über den Weg der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung vollziehen: »In den kommenden zwei Jahrzehnten wird die chinesische Nation damit beschäftigt sein, ein bequemeres und besseres Leben für seine Bevölkerung zu gestalten.« Im Jahr 2050 werde China »ein modernes, durchschnittlich entwickeltes Land« sein, aber es handle sich um eine »neue Form des Aufstiegs«, die sich von dem anderer Großmächte unterscheide. So soll Chinas Industrialisierung nicht zu einem Krieg um Ressourcen führen und auch möglichst wenig Umweltverschmutzung verursachen. Altes Großmachtverhalten wie jenes im Kalten Krieg oder das von Deutschland und Japan Anfang des 20. Jahrhunderts wolle China bewusst hinter sich lassen: »China strebt nicht nach Hegemonie und will nicht die Welt beherrschen. Es befürwortet hingegen eine neue politische und wirtschaftliche Ordnung in der Welt, die durch schrittweise Reformen und eine Demokratisierung der internationalen Beziehungen erreicht werden kann […] Auch Chinas Entwicklung hängt davon ab, dass auf der Welt Frieden herrscht – und dieser Friede wird umgekehrt durch eine Entwicklung Chinas gestützt.«

Masterplan im Hintergrund

Nun sind solche Beteuerungen und Beschwichtigungen (wie man sie auch regelmäßig von chinesischen Diplomaten im Ausland zu hören bekommt) nicht immer durch Taten und Fakten gestützt, gelegentlich hat man den Eindruck, dass China seinen Großmachtstatus oft auch so interpretiert, sich nun ebenfalls all jene umstrittenen Verhaltensweisen herausnehmen zu dürfen, die die alten Mächte, allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und die Sowjetunion, praktiziert haben und praktizieren: Territoriale Ansprüche mit militärischer Gewalt und Drohungen durchzusetzen (wie es Peking im Südchinesischen Meer oder gegenüber Japan praktiziert), diplomatische Erpressung (etwa um Staaten von Beziehungen zu Taiwan abzuhalten), ökonomische Kolonisierung im Wettstreit um Rohstoffe und Ressourcen (etwa durch den Aufkauf von landwirtschaftlichen Flächen in Afrika), oder auch die ungestrafte Missachtung internationaler Spielregeln (etwa bei der Produktpiraterie, der Wirtschaftsspionage oder dem großflächigen Hacken von Computern ausländischer Institutionen durch militärische Spezialeinheiten).

Als im Februar 2013 die US- Sicherheitsfirma Mandiant einen umfassenden Bericht über eine Hackereinheit der chinesischen Volksbefreiungsarmee veröffentlichte,[7. Mandiant: Exposing one of China’s Cyber Espionage Units, http://intelreport.mandiant.com/Mandiant_APT1_Report.pdf (03.03.2013).] meldeten sich plötzlich zahlreiche Firmen und Einrichtungen, die in den letzten Monaten Opfer von sehr wahrscheinlich aus China kommenden Cyberattacken geworden waren, allen voran Medien wie die New York Times oder Bloomberg, die 2012 aufwendig recherchierte Berichte über den Reichtum und die wirtschaftlichen Aktivitäten der Familien des chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao und des neuen Parteichef Xi Jinping publiziert hatten.[8. China Digital Times, 01.02.2013, http://chinadigitaltimes.net/2013/02/new-york-times-hacking-highlights-other-cases/ (03.03.2013).]

Gehen wir ruhig davon aus, dass China einen komplexen (und nicht gerne öffentlich exponierten) Masterplan verfolgt, wie es seinen ökonomischen, politischen und vor allem auch militärischen Aufstieg gezielt bewerkstelligen möchte: Die Sicherung von Ressourcen, die Entwicklung technologischer Kapazitäten (China ist längst nicht nur mehr ein Billiglohnland!), außenpolitische Absicherung, um nicht in diplomatische Isolation zu geraten, die unaufhaltsame Aufrüstung und schrittweise Ausweitung des militärischen Aktionsradius, etwa der chinesischen Marine, die mittlerweile auch im Pazifik und im Indischen Ozean patrouilliert und 2011 (bei der Libyen-Krise) erstmals übern den Suez-Kanal ins Mittelmeer einfuhr. China sucht gezielt überall auf der Welt durch Verträge und Firmenkäufe Rohstoff-Zugänge und Hightech-Patente zu erwerben, vor allem für Automobil-, Computer- und Flugzeugtechnologie und militärische Anwendungen.

Dieser auf Zeit und auf stilles Agieren im Hintergrund spielende Ansatz ist auch heute noch sehr gut durch einen Spruch des Reformpolitikers Deng Xiaoping illustriert, der Anfang der 1990er-Jahre die berühmte Maxime für Chinas Handeln auf der Weltbühne ausgab: »Ruhig alles beobachten, die eigene Position absichern, in aller Ruhe agieren, sich nicht ins Licht stellen, vielmehr im Dunkeln bleiben, den eigenen Vorteil sichern, sich nicht in den Vordergrund drängen, Fortschritte erzielen«.[9. zitiert nach Sceats/Breslin, S. 17.]

Wofür steht Xi Jinping?

Auf dem 18. KP-Parteitag im November zelebrierte China nun schon zum dritten Mal das Ritual der geordneten Hofübergabe: Nach Jiang Zemin in den 1990ern und Hu Jintao ab 2002 kommt jetzt die fünfte chinesische Führungsgeneration (wenn man Mao und Deng mitzählt) an die Macht. Es war ein mutiger Schritt, ein Bruch mit autokratischen Traditionen, als Deng Xiaoping 1982 die regelmäßige Rotation (alle zehn Jahre, nach jeweils zwei Amtszeiten) und Verjüngung an der Parteispitze anordnete, um die Dominanz verdienter Altrevolutionäre in den Führungsgremien zu brechen. Tatsächlich haben sich Chinas Kommunisten seither penibel an die Regel gehalten, einen unumschränkten Alleinherrscher wie Mao, sollte es nicht nochmals geben.

Doch der eindrucksvolle Rückzug der Spitzenpolitiker in einem sonst wenig demokratischen System verdeckt ein anderes Problem: In einer sich selbst erneuernden Partei rücken immer farblosere Kompromisskandidaten ins Zentrum, Visionäre und Reformer haben hingegen wenig Chance. Schon der jetzt abgetretene Hu Jintao erschien noch blasser als sein Vorgänger Jiang Zemin, und von Xi Jinping, der die nächsten Jahre die Weltmacht China führen soll, kannte man zunächst kaum politische Ansagen, sondern nur wenig verbindliche Gemeinplätze.

Im Ausland konnte man bestenfalls das wenige, was man über Xis Biografie wusste, interpretieren, etwa dass sein Vater Xi Zhongxun ein Wegbegleiter Maos, aber in den 1960er-Jahren auch Opfer der »Kulturrevolution« gewesen ist. Aber wer ist Xi Jinping wirklich und wofür steht er? Ein Reformer? Oder doch wieder ein farbloser Technokrat oder gar ein Konservativer, der mit Mao und Lenin große politische Veränderungen abblocken will? Immerhin zeigte sich bald, dass Xi doch einiges redegewandter als sein Vorgänger ist und es auch versteht, auf Menschen zuzugehen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion

Eines scheint in der Zwischenzeit klar: Ein »chinesischer Gorbatschow«, der eine Zeitenwende einleitet und an den großen Tabus rührt, wird Xi Jinping wohl nicht. Der letzte Generalsekretär der KPdSU ist für ihn offenbar ein großes Negativ-Exempel, der Zerfall der Sowjetunion sein Albtraum. Während einer Inspektionstour durch Südchina im Dezember 2012 nimmt Xi in einer parteiinternen Grundsatzrede direkt Bezug: »Warum hat sich die Sowjetunion aufgelöst? Warum ist die KPdSU in sich zusammengebrochen? Ein wichtiger Grund dafür war, dass ihre Ideale und Werte ausgehöhlt worden waren. Am Ende brauchte ein neuer Machthaber nur eine neue Fahne zu hissen. Dies ist auch eine wichtige Lektion für uns. Wer die ganze Geschichte der Sowjetunion und der KPdSU, wer Lenin und Stalin und auch sonst alles auf den Abfallhaufen der Geschichte wirft, endet im historischen Nihilismus, bringt unser Denken nachhaltig durcheinander und gefährdet die Parteiorganisation auf allen Ebenen.«[10. zitiert nach der Webseite der Deutschen Welle (chin.), http://goo.gl/p9h38 (04.03.2013).]

Und Xi Jinping spricht sich auch dafür aus, dass die Streitkräfte gegebenenfalls als starker Arm der Kommunistischen Partei auftreten: »Das ist eine der Lehren aus dem Zerfall der Sowjetunion. Dort wurde das Militär entpolitisiert, von der Partei getrennt, zur Angelegenheit des Staates, die Partei wurde quasi entwaffnet. Einige Leute versuchten die Sowjetunion zu retten, indem sie Gorbatschow festsetzten, aber innerhalb weniger Tage wendete sich das Blatt, weil die KP kein Instrument zur Machtausübung mehr hatte. […] Gorbatchow verkündete schließlich in einer fast freudigen Erklärung die Auflösung der sowjetischen KP. Eine mächtige Partei verschwand einfach von der Bildfläche, und niemand war mehr da, um dagegen Widerstand zu leisten.«

Das klingt nicht wirklich nach Plänen zu einer Reform des kommunistischen Ein-Parteien-Systems in China. Das Wort »politische Reformen« nahm Xi Jinping übrigens bei dieser Rede auch gar nicht in den Mund, er grenzte sich vielmehr ab: »Manche Leute definieren Reform im Sinne der westlichen Werte und des politischen Systems des Westens. […] Dies ist eine Missdeutung, eine Verdrehung des Begriffs. Natürlich halten wir an Reformen fest, aber unsere Reform ist eine, die den Weg des Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten beschreitet, wir wollen weder Blockade und Stillstand noch die Sackgasse eines Richtungswechsels.«

Die roten Prinzlinge

Jeder, der in China zuletzt mit Leuten aus der Wirtschaft, den Medien oder dem Kulturbereich gesprochen hat, auch solchen aus den staatlichen und parteinahen Institutionen, wer auch Gelegenheit hatte, Debatten im Internet oder in diversen Zeitschriften zu verfolgen, der weiß, dass dieses China heute zutiefst gespalten ist.

Auf der einen Seite steht eine neue gebildete und aufgeklärte Mittelschicht, die die Unvermeidbarkeit politischer Reformen spürt, und eine wachsende Zivilgesellschaft, die sich immer öfter auflehnt gegen Behördenwillkür, Umweltzerstörung, Zensur, Korruption, die Unverschämtheit der großer staatlichen und privaten Konzerne. Seit bald 35 Jahren, den Jahren unmittelbar nach Maos Tod, mahnen auch engagierte Funktionäre auch aus der chinesischen KP »politische Reformen« ein, um die ökonomischen Veränderungen zu ergänzen. Sie meinen damit vor allem eine Medienfreiheit, die den Namen verdient, Machtkontrolle und echte demokratische Mitwirkung an der Basis.

Auf der anderen Seite findet sich die herrschende politische Elite, die sich selbst legitimiert und erneuert, die sich nicht nur die politische Macht angeeignet hat, sondern zunehmend auch den wirtschaftlichen Reichtum des Landes. Viele von ihnen sind »roten Prinzlinge«, wie die Chinesen sagen, die Kinder und Enkelkinder, Neffen und Schwiegersöhne der Altrevolutionäre aus der Mao-Zeit, die nun selbst Führungspositionen in Staat, Partei und Militär einnehmen. Vier der sieben ständigen Politbüro-Mitglieder zählen dazu, und viele weitere auf den oberen und mittleren Führungsebenen.

Auch auf den exklusiven geheimnisumwitterten Parteiakademien werden überwiegend Nachkommen von Funktionären aus der Mao-Zeit zu angepassten politischen Kadern herangebildet. Dort sind die marxistischen Klassiker weiterhin Pflichtlektüre, und man lernt, warum das heutige Wirtschaftssystem in China nicht »kapitalistisch« ist, sondern eine »sozialistische Marktwirtschaft«.[11. vgl. Martine Bulard: The secretive world of the Communist Party, In: Le Monde diplomatique (English edition), September 2012.]

Die Inzucht der Eliten ist auch der Nährboden für die Korruption und Kleptokratie. Meist sind es nicht die Politiker (oder Armeeführer) selbst, die sich die Hände schmutzig machen, sondern Familien und Freunde. Sie profitieren von den Privatisierungen und der Gründung neuer Unternehmen, in vertrauten Seilschaften schanzt man sich staatliche Aufträge und Steuerprivilegien zu, umgeht Umweltauflagen und Aufsichtsbehörden und transferiert Millionen auf ausländische Konten.

Die New York Times hat im Oktober aufgedeckt, dass Verwandte des damaligen Premierministers Wen Jiabao Besitztümer und Firmenanteile im Wert von rund zwei Milliarden Euro angehäuft hatten, auch durch die Nutzung von Regierungskontakten.[12. David Barboza: Billions in Hidden Riches for Family of Chinese Leader; NYT, 26.10.2012, http://www.nytimes.com/2012/10/26/business/global/family-of-wen-jiabao-holds-a-hidden-fortune-in-china.html?_r=0 (04.03.2013).] Und auch die Familie der Schwester des neuen KP-Chefs Xi Jinping soll laut dem Finanzdienst Bloomberg im Juni 2012 einen Besitz von mindestens 370 Millionen US-Dollar angehäuft hat, darunter Anteile an Hi-Tech-Firmen und Luxusimmobilien in Hongkong.[13. Xi Jinping Millionaire Relations Reveal Fortunes of Elite, Bloomberg News, 22.06.2012, http://www.bloomberg.com/news/2012-06-29/xi-jinping-millionaire-relations-reveal-fortunes-of-elite.html (04.03.2013).] Der sorgfältig recherchierte Bericht wurde auf chinesischen Internetseiten sofort gesperrt, Hinweise auf chinesischen Webseiten wurden unverzüglich gelöscht. Was es zu bedeuten hat, wenn Xi Jinping in seinen ersten politischen Erklärungen ausdrücklich auch den »Kampf gegen die Korruption« auf seine Fahnen geschrieben hat, bleibt abzuwarten. Chinesische Bürgerinnen und Bürger haben in den letzten Monaten in Internet-Postings und auf der Straße (z.B. am 24. Februar in Peking und in Lanzhou) für die Offenlegung der Besitzverhältnisse von Politikern demonstriert.[14. China Media Project, University of Hong Kong, 27.02.2013, http://cmp.hku.hk/2013/02/27/31584/ (04.03.2013).]

Obsession der Informationskontrolle

Auch solche (ungestraften) Proteste zeigen, dass China heute viel freier und sogar um einiges transparenter und demokratischer als zur Mao-Zeit und auch noch danach. Man experimentiert mit direkten Wahlen und konkurrierenden Kandidaten auf Dorf- und Bezirksebene. Doch alles, was auf eine Beschneidung der Allmacht der Partei hinauslaufen könnte, wird seit Jahrzehnten blockiert. Für kritische Meinungen landet man nicht mehr gleich im Gefängnis, aber die Parteiführung ist geradezu paranoid, was offene Debatten oder Informationen aus dem Ausland anbelangt: Junge Internet-User kritisieren heute ohne große Angst Korruptionsfälle und berichten über die zahlreichen lokalen Protestbewegungen, doch ihre Blogs werden von den Zensoren immer wieder rasch gelöscht.[15. Regelmäßig dokumentiert durch das China Media Project der University of Hong Kong (abrufbar unter http://cmp.hku.hk).]

Die nationalen und lokalen Propaganda-Ämter versenden täglich Anweisungen an alle Medien im Land, was wie berichtet werden muss, worüber nicht geschrieben werden darf, welche Themen die Journalisten nicht eigenständig recherchieren dürfen, wie Fotos zu platzieren sind, und wie die offizielle Politik ins rechte Licht gerückt werden muss.[16. Zahlreiche Beispiel solcher Anweisungen auf der Webseite der von US-Universitäten betriebenen Digital Times (abrufbar unter http://chinadigitaltimes.net/china/censorship).] Hunderttausende hauptamtliche und freiberufliche Internet-Überwacher beobachten Tag und Nacht Diskussionsforen und Blogs, um unliebsame Inhalte rasch zu entfernen. Die Führung hat Milliarden in Suchprogramme und technische Sperren investiert, die nach bestimmten Schlüsselbegriffen fahnden. Viele ausländische (vor allem chinesischsprachige) Webseiten werden blockiert, gleichzeitig befüllen die Behörden chinesische Internetseiten mit »offiziellen« Inhalten und propagandistischen Sichtweisen, Suchmaschinen sind so programmiert, dass überwiegend von der Partei Bereitgestelltes erscheint. Und für die Internetforen werden Schreiberlinge beschäftigt, die – als anonyme Mitdiskutierer getarnt – kritischen Meinungsäußerungen im offiziellen Sinn zurechtrücken. Von den chinesischen Netizens werden sie »50-Cent-Partei« (»wu mao dang«) genannt, weil sie pro Posting angeblich einen halben Yuan bezahlt bekommen.[17. vgl. http://chinadigitaltimes.net/space/Fifty_cents (04.03.2013).]

Drängender Reformstau

Während sich also in politischen Grundsatzfragen wie der Führungsrolle der KP oder bei der Meinungs- und Medienfreiheit auch unter Xi Jinping kaum etwas zu bewegen scheint, ließen Reformankündigungen bei einigen anderen gesellschaftlich wichtigen

So hat die englischsprachige »China Daily« angekündigt, dass die berüchtigte »Umerziehung durch Arbeit« (»laojiao«), ein System, in dem Dissidenten und »Asoziale« ohne Gerichtsverfahren durch die Polizei bis zu vier Jahren in ein Arbeitslager eingewiesen werden können, noch in diesem Jahr abgeschafft werden soll.[18. China Daily, Peking, 21.01.2013.] Damit wäre eine langjährige Forderung chinesischer und ausländischer Menschenrechts-Aktivisten erfüllt, auch wenn zuletzt nicht klar war, ob nicht für bestimmte Fälle eine andere Form außergerichtlicher Inhaftierung beibehalten werden könnte.

Die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission hat im Dezember eine Änderung im rigiden System der Wohnsitz-Registrierung (»ukou«) in Aussicht gestellt. Dieses System, das verhindern soll, dass die ländliche Bevölkerung unkontrolliert in die Städte abwandert, ist vor allem für die mehr als 200 Millionen Wanderarbeiter von Bedeutung, die als billige illegale Arbeitskräfte in Chinas Großstädten oft ausgebeutet und diskriminiert sind.[19. Aaron Back: China to Speed Up Reform of ›Hukou‹ System, in: The Wall Street Journal (Europe Edition), 18.12.2012.]

Die größte Baustelle bleibt auch für Xi Jinping die immer weiter auseinanderklaffende soziale Schere, Xi weiß, dass das Prädikat »sozialistisch« höchsten noch dann zu rechtfertigen ist, wenn es zumindest Erfolge in der Armutsbekämpfung gibt. Vor allem die ländliche Bevölkerung (die nur mehr 50 Prozent der Einwohner gegenüber noch 80 Prozent zu Maos Zeiten ausmacht) war zu Beginn der Wirtschaftsreformen vor 35 Jahren zunächst der wichtigste Nutznießer, um dann immer mehr vernachlässigt zu werden. Die soziale Infrastruktur (Grundschule, medizinische Versorgung) wurde lange vernachlässigt, die Agrarpreise sanken, und viele Bauern wurden durch Spekulanten (in der Regel unter Beteiligung staatlicher Funktionäre) aus ihren Häusern und von ihrem Boden vertrieben. Vor allem daran entzünden sich heute die meisten soziale Proteste.

»Nationale Wiedergeburt«

»Der chinesische Traum« – ein Schlagwort, das schon seit einigen Jahren im Sinne einer nationalen Entwicklung und eines Aufstiegs Chinas zur Weltmacht kursiert, hat auch Xi Jinping in den ersten Wochen seiner Amtszeit mehrfach verwendet und quasi zu seinem Motto gemacht: »Die grandiose Wiedergeburt der chinesischen Nation zu verwirklichen, ist der größte Traum der chinesischen Nation in der modernen Geschichte«, sagte er am 29. November nach dem Besuch einer Ausstellung in Peking. Die offizielle Nachrichtenagentur Xinhua lieferte – in Form von Zitaten aus dem Volk – gleich einige Interpretationen nach, was mit diesem Gegenstück zum „American Dream“ gemeint sei: »Wohlstand«, »Glück« und »sozialer Fortschritt«, »Entwicklung« und »kollektives Bemühen für ein stärkeres Land«, aber auch »weniger Korruption«.[20. Scholars interpret »Chinese dream« after Xi‹s speech, English.news.cn, 06.12.2012, http://news.xinhuanet.com/english/china/2012-12/06/c_132024274.htm (04.03.2013)]

Auch viele Internet-Poster in China haben diesen Begriff seither aufgenommen, zustimmend, aber auch kritisch, mit eigenen Wünschen und Inhalten füllend. Die Zeitung »Nanfang Zhoumo« (Southern Weekly) in Guangdong verfasste Anfang 2013 einen Neujahrsgruß unter dem Titel »Der chinesische Traum – der Traum der Verfassungsmäßigkeit« der dazu aufrief, die im Grundgesetz garantierten Bürgerrechte endlich ernst zu nehmen: »Nur wenn wir die verfassungsmäßigen Rechte ernst nehmen, die Macht in die Schranken weisen, Bürger ihre Kritik an den Mächtigen laut und ohne Angst äußern können, nur dann werden alle Menschen in ihren Herzen spüren, dass sie frei sind ihr eigenes Leben zu leben. Nur dann können wir eine wirklich freie und starke Nation bauen.« Doch wie es mit diesem chinesischen Traum steht, mussten die Redakteure erkennen, als Sie am nächsten Morgen ihre Zeitung aufschlugen: Das Propagandaamt in der Provinzhauptstadt Kanton hatte den Leitartikel ohne Wissen der Redaktion einfach umgeschrieben in eine Lobhudelei über die Errungenschaften der Kommunistischen Partei.[21. David Bandurski: A New Year’s greeting gets the axe in China, China Media Project, Hongkong, 03.01.2013, http://cmp.hku.hk/2013/01/03/30247/ (05.03.2013).]

This article was originally published in April 2013 in INTERNATIONAL – Zeitschrift für internationale Politik, Issue 1-2013.
Share on facebook
Share on twitter
Share on pinterest
Share on telegram
Share on whatsapp
Share on pocket

More from Shabka Journal

Veranstaltungsreihe Demokratie unter Druck

Die aktuellen Herausforderungen zwingen uns aber Begrifflichkeiten und Denkweisen auseinander zu dividieren, um daraufhin die wichtige Frage zu stellen: Was bedroht Demokratie? Was bedeutet liberal und was angemessen? Viele antidemokratische