Wie wir die Welt erklären – die Grenzen der Feldforschung und Grounded Theory

Wissen ist Macht und umgekehrt: Lässt sich die Kluft zwischen Forschenden und Beforschten aufbrechen?

Wissensproduktion im globalen Kontext formiert sich entlang normativer Erkenntniskategorien, alternative Deutungen bleiben bewusst ausgeblendet. Die Forschungsergebnisse werden dann als objektiv produziertes Wissen präsentiert – ein Machtverhältnis zwischen einer aufgeklärten ForscherIn und einem passiven beforschten Objekt wird geradezu herausgefordert.

Doch wer spricht wirklich, wenn westliche WissenschaftlerInnen zur Feldforschung aufbrechen, um die Welt für uns verständlicher zu gestalten?

Man taucht in unbekannte Situationen ein, führt Interviews, transkribiert und leitet ab. Der Output lässt sich dann meist sehen. Am Ende steht eine Publikation, die das wissenschaftliche Ansehen der FeldforscherIn anheizen soll. Schlussendlich kommt es zum Ritterschlag: man darf sich als ausgewiesene ExpertIn über ganze Weltregionen, Bevölkerungsgruppen oder Themengebiete bezeichnen. Ist die Arbeit publiziert, verliert man über den selektiven Prozess dieser Wissensproduktion kein Wort – alles nicht-Gesagte bleibt im Verborgenen.

Besonders in den Sozialwissenschaften, deren erklärtes Ziel das Verständnis sozialer Realitäten ist, muss deswegen die Frage erlaubt sein, ob man sich damit nicht ein wenig im Kreis dreht – oder drehen möchte. Wir befinden uns in einem Spannungsfeld zwischen der Reproduktion einer elitären westlichen Intelligenzija – die sich selbst nie so bezeichnen würde – und einem Verständnis von Wissenschaft als immer subjektives Machtverhältnis. Der vorherrschende wissenschaftliche Duktus hat sich ganz und gar einer analytischen Seriosität verschrieben, der es einzig und allein um objektive Outputs geht.

In der globalen Sozialforschung ist man in ein asymmetrisches Verhältnis von Wissensproduktion und Macht eingebunden. Gibt es Gegenstrategien für dieses historisch gewachsene Ungleichgewicht?  Die Antwort lautet: Lassen Sie sich irritieren! – Seien Sie gleichwertiger Teil der Welt, die Sie beforschen.

Eine zeitgemäße qualitative Sozialforschung ist nicht nur reflektiert – sie gesteht auch die Unfassbarkeit ihrer Disziplin und vermittelt ihr Unwissen an die Adressaten weiter.

Methodenvielfalt und Selbstreflexion – Grounded Theory Methodologie (GTM)

Konstruktivistisch inspirierte Ansätze der Grounded Theory können dazu beitragen, neokoloniale Verhältnisse in der Sozialforschung aufzubrechen: GTM ist eine induktive Handlungsanleitung, die davon ausgeht, dass Theorie in den Daten begraben liegt und somit nicht von großen Theoriegebäuden abgeleitet werden muss.

Daten werden also nicht in vorhandene Theorien „gepresst“, sondern Theorien entwickeln sich aus den Daten – ein klassisch induktiver Ansatz, der sich  aufgrund mangelnder Operationalisierbarkeit harscher Kritik seitens der etablierten Wissenschaft ausgesetzt sieht. Und hier stehen wir wieder vor der Grundsatzfrage: Können WissenschaftlerInnen allgemeingültige Kategorien schaffen, oder ist Forschung nicht immer mit einer persönlichen Intention verbunden? Kommen wir dadurch zwangsläufig zu immer subjektiv beeinflussten Ergebnissen – sowohl aufseiten der ForscherInnen als auch aufseiten der Beforschten?

Die latente Unterbewertung individueller Positionen liegt meines Erachtens  in jener kapitalistischen Logik begraben, die Wissen einen bestimmten Tauschwert beimessen möchte. Vergleichbarkeit bedeutet nicht nur Objektivität sondern auch Verwertbarkeit.

Eine konstruktivistisch inspirierte Grounded Theory Methodologie versucht dieses Verhältnis insofern aufzubrechen, indem GTM behauptet, dass jegliche Theorie von sich aus konstruiert ist und dementsprechend immer subjektiven Positionen unterliegt. Sie bindet die ForscherIn in den Erkenntnisprozess ein und unterstreicht den persönlichen Standpunkt anstatt ihn auszublenden. Wundermittel ist GTM trotzdem keines: Viele ForscherInnen arbeiten mit GTM Ansätzen, um am Ende in die Normativität zurückzufallen. Allerdings ermöglicht GTM eine reflektierte Haltung gegenüber dem Forschungsprozess an sich.

Kurzum: Möchten SozialwissenschaftlerInnen im 21. Jahrhundert Erkenntnisse über die „großen Theorien“ hinaus schaffen, müssen sie von ihrem hohen Ross steigen: Wir sollten uns als Interpretatoren sozialer Wirklichkeiten wahrnehmen und weniger als Hüter einer schwer zugänglichen, absoluten Wahrheit – auch wenn wir dadurch Gefahr laufen in keinem Einführungswerk erwähnt zu werden.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=zY1h3387txo]

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Shabka Background Nr. 5-2013

Paul Winter: Grounded Theory – Mehrwert im globalen Forschungssetting?

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