Die potentielle Politisierung des tunesischen Militärs

Die repressive, korrupte und autokratische Fassade des Ben Ali Regimes ist gefallen, seine Weggefährten sind entmachtet. Tunesien befindet sich im Wandel und ist auf der Suche nach einer neuen politischen Identität. Bei den letzten Wahlen sind umgehend islamistische Kräfte auf den Plan getreten, der Erneuerungsprozess ist jedoch bei Weitem nicht abgeschlossen. Die einzige Institution, die seit der Transformation nahezu unverändert im sozialen Raum fortexistiert ist die tunesische Armee. Ihre Rolle in Tunesien Post-Ben-Ali ist aus diesem Grund besonders interessant.

In Tunesien hat das Militär geschichtlich eine gesellschaftliche Stellung inne, die losgelöst von der politischen Sphäre zwischen unklaren Eigeninteressen und dem „Dienst am Staat“ oszilliert. Nach der Revolution 1956 wurde eine weitgehende Trennung von Militär und Politik aufrechterhalten, sodass die Ausformung der staatlichen Institutionen sowie sozialer Wandel großteils von zivilen Kräften getragen wurde. Bis heute erweisen sich die tunesischen Streitkräfte in Zeiten des Umbruchs als passive, zurückhaltende Kraft, wie auch während der Revolution 2011 sichtbar wurde. Diese Verhaltensweise hat in der Vergangenheit aufgrund des Auftretens neuer Akteure dann funktioniert, wenn diese nach dem Umbruch als Garant für sozio-politische Stabilität eingetreten sind. Die traditionelle Rolle des tunesischen Militärs ist aber gerade seit 2011 einer Veränderung unterworfen, da das Militär zunehmend in eine politischere Rolle gedrängt wird, die eine klare Positionierung in einer sich ändernden sozio-politischen Umgebung erfordert.

Seit 1956 befanden sich die politischen Akteure – unabhängig ihrer politischen Ausrichtung und Intention – im freien Spiel der Kräfte, wobei Gewinner politischer Auseinandersetzungen traditionell ohne massives Eingreifen der Streitkräfte definiert wurden. Die politischen Karten wurden im Transformationsprozess jedoch neu gemischt, nicht zuletzt weil die Armee während Ben Alis Regierungszeit geflissentlich ignoriert worden ist. Obwohl die Armee unter ihrem Generalstabschef General Raschid Ammar maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass der Umbruch unblutig verlief, darf man jedoch davon ausgehen, dass es sich bei General Ammar nicht um einen Friedensaktivisten handelt. Die Entscheidung nicht in die Proteste einzugreifen resultiert aus einer historisch fundierten Politik der „Nichteinmischung“, sowie aus der Tatsache, dass das Militär unter dem Regime eine eher unwesentliche bzw. ignorierte Rolle einnahm. Anders als beispielsweise beim ägyptischen Militär, das eine eigenständige ökonomische Stellung innehat und ein Naheverhältnis zu Mubarak selbst pflegte, hat in Tunesien eine Inkorporation des Militärs in den politischen Machtapparat, etwa durch finanzielle Zugeständnisse an einflussreiche ProtagonistInnen, nicht stattgefunden.

Letztendlich erwies sich die Marginalisierungspolitik Ben Alis als Fehlkalkulation. Im Gegensatz dazu stellte das Vorgehen Ammars eine machtstrategische Meisterleistung dar. Die zurückhaltende Position innerhalb der Transformation machte Ammar zum Helden, überdies behielt die Armee ihr Ansehen in der Gesellschaft und avancierte zur „Garantin der Revolution“. Die sich ergebenden sozio-politischen Implikationen haben weitreichende Konsequenzen, vor allem im angespannten Kontext seit der Ermordung Chokri Belaids: Die Gesellschaft ist gespalten und die großen Parteien versuchen ihre Stammwähler zu bedienen. Zunächst waren die Profiteure erster Stunde islamistische Kräfte.

Für die tunesischen Streitkräfte ergibt sich daraus ein politisches Nadelöhr: In der Querschnittsmenge radikal-religiöser Transnationalisierungstendenzen sozialer Fraktionen und der Ausbalancierung der politischen Kräfte liegt der innenpolitische Handlungsspielraum des tunesischen Militärs verhaftet. Konkret bedeutet das, dass eine Politisierung des Militärs zwar eine unumgängliche Nebenerscheinung einer fragmentierten staatlich-institutionellen Landschaft ist, aber einen engen Handlungsspielraum vorgibt. Diese Querschnittsmenge wird einerseits durch einen sozio-politischen und -ökonomischen Status Quo definiert und anderseits von externen Faktoren dynamisiert.

Gesamtgesellschaftlicher Status-Quo

Während derzeit die islamistische, den Muslimbrüdern nahestehende Partei Ennahda regiert, befindet sich das antiklerikale, oppositionelle Lager in der Defensive. Bis zum Januar 2013 wurde über die Ausformulierung der anstehenden neuen Verfassung diskutiert – ein breiter gesellschaftlicher Konsens schien erreichbar. Der Mord an Belaid brachte diesen Prozess abrupt zum Stillstehen, Tunesien befindet sich seitdem in einem politischen Schwebezustand.

Abseits dieser eher tristen Aussichten, ist eine grundlegend pessimistische, antirevolutionäre Sichtweise trotzdem nicht angebracht. Beispielsweise ist es sehr erfreulich mit jungen TunesierInnen öffentlich über kontroverse Ansichten diskutieren zu dürfen. Das Gefühl des stechenden Blickes im Nacken –  wie etwa in Marokko – ist abwesend, soweit man dies als „stiller externer Beobachter“ beurteilen darf. Der Mukthabarat hat sich mit Sicherheit nicht in Luft aufgelöst, vielmehr werden die Sicherheitskräfte derzeit von einem islamistischen Innenminister kontrolliert. Dennoch wäre beispielsweise eine satirische Einlage über Ben Ali im tunesischen Fernsehen ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Heute wackelt im Hauptabendprogramm eine hölzerne Puppe auf dem Fernsehbildschirm, die Raschid Ghannouchi parodiert. Der Kopf der Ennahda muss sich jedoch auch abseits von TV-Satiren mit etlichen Problemen konfrontiert sehen: Preissteigerungen, ein stagnierender Tourismussektor und eine rezessive Wirtschaft lassen sich nicht ausschließlich durch aggressiv-religiöse Rhetorik beseitigen. Möchte man einen Kredit beim Internationalen Währungsfonds ist man gezwungen weitere Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen durchzuführen. Diese würden soziale Ungleichheiten verstärken und Ennahda würde zunehmend an Zustimmung verlieren. Außerdem muss Ghannouchi seine Wählergruppen bedienen und gibt sich dabei genauso opportunistisch wie seine europäischen Pendants. Der Spagat zwischen den moderaten religiösen Gruppen und salafistischen Kräften ist kräfteraubend und schwierig zu vollziehen. Vernachlässigt Ghannouchi eine seiner Interessensgruppen, bedeutet dies entweder den politischen Machtverlust oder aber ein explosives Vakuum rechts außen. So werden salafistische Kräfte aus dem Ausland stillschweigend toleriert. Die konservativen Player – gerade auf dem Zenit ihrer Macht – sind im Begriff diese aus der Hand geben zu müssen, sofern sie nicht weiter zu radikalen populistischen Mitteln greifen und es schaffen sämtliche Interessen innerhalb ihres politischen Programms zu subsumieren.

Die daraus resultierende Islamisierung der Gesellschaft und das damit verbundene Besetzen essentieller institutioneller Positionen wird von externen Akteuren unterstützt. Die Radikalisierung der eigenen Bevölkerung könnte als extern motivierte Bedrohung aufgefasst werden und somit eine explizite externe „Bedrohungsdimension“, gerahmt durch islamistische Kräfte, erzeugen. Je nach politischem Auffassungswillen könnten die salafistischen Kräfte somit ins Zentrum der sicherheitspolitischen Programmatik rücken. Das würde heißen, dass eine Bedrohung des tunesischen Staates zwar von Außen unterstützt, aber im Kern von der eigenen Regierung bestimmt bzw. zumindest toleriert wird.

Dieses Wechselspiel zwischen internen und externen Aspekten macht es schwierig die Radikalisierungstendenzen innerhalb der Bevölkerung zu bewerten. Jedoch kristallisiert sich eben diese externe Komponente als relevant für das Verhältnis des Militärs zu aktuellen Entwicklungen heraus. Die heutigen Schlagzeilen in Tunis sind geprägt von Diskussionen, die sich mit dem Schicksal vieler junger Männer beschäftigen, die sich den unterschiedlichen oppositionellen Gruppen in Syrien angeschlossen haben. Gemessen an der Einwohnerzahl des Landes bilden tunesische Kämpfer die größte Mehrheit unter den syrischen Milizen. Dabei spielen radikale ausländische Kräfte eine entscheidende Rolle – sie schaffen mittels Propaganda die Legitimationsbasis für den bewaffneten Kampf. Wenn nun junge tunesische Männer aufgrund propagandistischer Rhetorik und inspiriert von ausländischen Kräften, im Ausland sterben, stellt sich die Frage ob dies – zumindest extern beeinflussten – Bedrohung seitens des Militärs umgegangen werden soll.

Hier stellt sich die Frage wie das Militär auf eine Bedrohung dieser Art reagieren soll. angesichts der ungeklärten Frage auf welche Weise sich  radikal salafistische bzw. wahabitische Positionen mit dem Verständnis eines modernen Staatsapparates vereinbaren lassen.  zu welchem sich Die Armee in ihrer Eigenschaft als „Hüterin des Staates“ müsste sich zweifellos dazu bekennen.

Gesellschaftliche Einbettung des tunesischen Militärs

Das tunesische Militär hat eine Stärke von 36.000 Truppen, bestehend aus Berufssoldaten und Wehrpflichtigen. Diese Truppenstärke macht es zu einer vergleichsweise kleinen Streitkraft im arabischen Raum. Interessant ist die politische Stellung des Generalstabschefs der Streitkräfte. Obwohl der Verteidigungsminister aus rechtlicher Sicht Gewalt über den Generalstabschef ausüben kann, ist dies in der Praxis nicht der Fall. In diesem Sinne kommt Raschid Ammar eine innenpolitische Sonderstellung zu, die einerseits durch die traditionelle Rolle der Armee (einer latenten Nichtbeachtung) zu erklären ist und andererseits durch sein Verhalten während der Revolution verstärkt wurde. Die „Macht“ des Militärs in Tunesien liegt dahingehend in ihrer „unpolitischen Konstanz“.

Hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Einbettung ist die Ausbildung von Offizieren von großer Bedeutung, da auf der Universität des tunesischen Militärs auch zivile Arbeitskräfte ausgebildet werden. In den verschiedenen Instituten (Luft-, See- und Landstreitkräfte) werden je nach speziellen fachlichen Kapazitäten technischen Fertigkeiten vermittelt. Die ausgebildeten zivilen Arbeitskräfte verbleiben nach ihrer Graduierung faktisch beim Militär, arbeiten aber auf zivilen Arbeitsplätzen. De-facto verhält sich die Sachlage so, dass der Staat über die Militär-Universität zivile Arbeitsplätze ausbildet und Verfügungsrecht über die ausgebildeten Personen behält. Konkret bedeutet das, dass die Armee im Fall einer Mobilmachung auch potentielle Schlüsselpositionen innehält (z.B. Flugtechniker, Flight Coordinators, usw.), welche dem zivilen Arbeitsmarkt abgezogen werden und dann dem Militär zur Verfügung stehen.

© Thomas König
© Thomas König

Die Rollen, die das Militär in Tunesien seit der Unabhängigkeit erfüllte, reichten von Grenzraumüberwachung hin zu Katastrophenhilfe, was militärisch gesehen eher untergeordnete Aufgabenbereiche darstellt. Nach der Revolution jedoch, fand sich das Militär plötzlich in einer extrem politisierten Rolle wieder, in die es durch das entstandene institutionelle Machtvakuum eher einem “hineinrutschten” gleichkam, als einem gezielten “hineinzuschlüpfen”. Nach der Revolution verblieb das Militär die einzige staatliche Institution. Bis heute bedeutet das, dass es in der politischen Projektion eine Rolle spielt, was Militär tut, aber auch, was es nicht tut. Dass das Militär bei der Revolution hinter der Bevölkerung stand und sich selbst als „Garant der Revolution“ proklamierte, unterstreicht einerseits ihre starke gesellschaftliche Einbettung, eröffnet anderseits aber einen diskursiven Raum, in dem die tunesische militärische Identität zu hinterfragen ist. Die ausgeprägte „Schutz-Dimension“ im militärischen Aufgabenspektrum kommt hier genauso zum Tragen wie auch die geringer ausgeprägte „fighting power“, beides vereint in einem robusten nationalistischen Verständnis, welches es Soldaten nicht erlaubt sich an zivilen Protesten und Streiks zu beteiligen oder zu wählen, um ihre gesellschaftliche Neutralität zu wahren. Zudem müssen Soldaten (wie auch Personen die zivile Arbeitsplätze innerhalb des Militärs innehaben)  ihren Pass abgeben und Auslandsreisen beim Ministerium beantragen. Die Logik hinter diesen Einschränkungen, wie auch die Zuordnung von zivilen Schlüsselarbeitsplätzen zur Armee, verbirgt eine Vorsichtsmaßnahme Ben Alis. Dieser befürchtete, den Staat im Fall eines Streiks nicht mehr kontrollieren zu können, sollte die Armee sich einer Revolte anschließen oder zivile Schlüsselfunktionen nicht mehr abrufbar sein. Ironischerweise stärkten diese Maßnahmen die gesellschaftliche Einbettung des Militärs, als dass sie die Position des Regimes untermauerten.

Ableitungen und Konsequenzen

Dass das tunesische Militär „dem Staat dient“ wird im Gespräch mit Soldaten klar: „Ich als Soldat diene dem Staat.“ Faktisch bedeutete dies in der jüngeren tunesischen Geschichte grundsätzlich eine Politik der „Nichteinmischung“ in politische Debatten. Was aber, wenn ein politischer Mainstream in den Vordergrund rückt, der sich gegen grundlegende gesellschaftliche Interessen richtet? Wie würde das Militär salafistischen Positionen, die eine Radikalisierung vor allem junger, sozial marginalisierter Gesellschaftsgruppen anstreben begegnen? Und grundsätzlich: Wann erachtet man ein Einschreiten als gerechtfertigt?

Die gegenwärtige Situation in Tunesien spiegelt die kontinuierliche Diffusion politischer Macht seit der Revolution 2011 wieder.  In dieser indifferenten Lage ordnen sich die innertunesischen politischen Kräfte ständig neu und sind einem Prozess unterworfen, der sich mit jedem Umbruch aufs neue reproduziert. Man kann erkennen, dass sich in dieser Situation die politischen Machtzentren schleppend neu bilden, während sich die Streitkräfte dabei extrem langsam an aufstrebenden Akteuren orientieren und in einer abwartenden Position verharren.

Bemerkenswert ist im Falle des tunesischen Militärs, dass dieses  das entstandene Machtvakuum unmittelbar nach Ben Alis Flucht nicht genutzt hat. Handelt es sich hierbei um politisches Kalkül? Möchte man abwarten und im Falle eines Versagens ziviler Kräfte doch aktiv in den Transformationsprozess eingreifen? Würde eine politische Lösung scheitern und langfristig weder Wahlen noch eine Verfassung zustande kommen, hätte man durch den „Revolutionsbonus“ die Bevölkerung für sich gewonnen. Ökonomisch steht man vor einem Abgrund, der vermeintlich nur durch sozial verheerende IWF Kredite oder durch die Hinwendung zu den Golfstaaten überwunden werden kann. Dass sich die Armee mit ihrer innergesellschaftlichen Loyalität nicht wirklich festlegen möchte bis der tatsächliche – und langfristige – Sieger der Revolution gefunden wurde, erinnert an die Wesenszüge einer militärischen Simulation: geprägt von einem hohen Maß an Faktenorientierung und Rationalität.

Bis dato ist kein konsolidiertes politisches Machtzentrum erkennbar, was bis zu einem gewissen Grad auch die abwartende Position der Armee erklärt. Breiter gesellschaftlicher Konsens herrscht hinsichtlich der Rolle des Militärs als „Garant der Revolution“ bzw. als „Garant der Stabilität“. Aus Sicht des Militärs selbst (wie auch im traditionellen Selbstverständnis des Militärs) ist deshalb auch kein zwingender Bewegungsdruck vorhanden solange sich die politischen Kräfte nicht nachhaltig konsolidiert haben. Kurzum gilt für die Armee, dass eine „weiße Weste“ einen politischer Trumpf darstellt, der nicht unterschätzt werden darf, unabhängig davon ob er ausgespielt wird oder nicht.

Obwohl die sozio-politische Transformation in Tunesien zwar einen gewissen Reifepunkt erlangt hat, ist ein klares Ende noch nicht absehbar. Ähnliche Transformationprozesse (wie beispielsweise in Ägypten) sind noch weit entfernt von dem Punkt, an dem Tunesien angelangt ist.

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