Wo sich sonst Auto an Auto reiht, sind wir fast die Einzigen auf der Straße von Beirut ins etwa 80 Kilometer entfernte Nabatäa. Das Aschura-Fest fällt heuer auf einen Sonntag, und so dauert unsere Reise – mich begleiten ein schiitischer, aber laut Eigenaussage selbst nicht religiöser Libanese und ein weiterer Student der Near East School of Theology (NEST) – gerade einmal eine knappe Stunde.
Je näher wir dabei Nabatäa kommen, desto mehr Autos mit großen Flaggen, teilweise mit Bildern von Hussein, sehen wir. Dennoch wirkt alles ruhig, und wir müssen nur durch eine einzige Militärkontrolle. Noch am Vortag hat die Tageszeitung „Daily Star“ berichtet, dass die libanesische Armee fünf Syrer mit Sprengsätzen gefasst habe, die Anschläge auf das schiitische Fest geplant hätten. Daraufhin wurden verstärkte Militärpräsenz und Kontrollen angekündigt, von denen wir aber nichts bemerken.
Um etwa 10.30 Uhr ziehen bereits die ersten Gruppen von Männern in weißen T-Shirts durch die Straßen und rufen lauthals Parolen, um sich auf die kommende Prozession vorzubereiten. Kurze Zeit später geht es los, in Minutenabständen ziehen Gruppen von zehn bis 15 Männern vorbei. Sie haben blutende Wunden am Scheitel und Schwerter in der Hand. In rhythmischen Bewegungen schlagen sie sich mit der Hand auf den Kopf und rufen dazu ständig Alis Ehrennamen: „Haidar“, der Löwe.
Vor allem junge Männer zwischen 14 und 35 Jahren nehmen aktiv an der Prozession teil. Wir sehen aber auch kleine Kinder mit blutigen Verbänden auf dem Kopf, deren Eltern sie an der Hand führen oder auf ihren Schultern tragen. Vor fast jeder Gruppe gehen Sanitäter mit dem Rücken voraus, um die sich Schlagenden im Blick zu haben und im Notfall reagieren zu können. Einige in Schwarz gekleidete junge Frauen begleiten die Gruppen und nehmen mit ihren Mobiltelefonen Videos und Fotos der Männer auf. Auf den Gehsteigen stehen links und rechts Zuschauer, die meisten tragen schwarze Kleidung und verfolgen mit ernstem Blick das Geschehen.
Zeitgleich mit den Prozessionen beginnt auf einem großen Platz mit sandiger Arena die schauspielerische Darstellung der Schlacht von Kerbela. In dieser wurden Hussein und seine Anhänger von den Umaijaden 680 getötet. Die Darsteller tragen aufwendige Kostüme und reiten auf Pferden und Kamelen. Als Kulisse sind Zelte aufgebaut, und über eine CD wird der Text abgespielt, zu dem die Darsteller spielen und den Mund bewegen.
Während das Passionsspiel läuft, haben die Prozessionen an Intensität zugenommen. Vielen Männern rinnt das Blut mittlerweile über Gesicht und Oberkörper, viele tragen blutige Verbände, blutige Schals, blutige Kleidung, blutige Schwerter. Der beißende Geruch von Blut steigt uns in die Nase, viele Frauen halten Taschentücher oder ihre Kopftücher vor Mund und Nase.
Viele Gruppen werden von Trommlern begleitet, die die „Haidar“-Rufe verstärken und die Männer immer mehr in ekstase- oder tranceähnliche Zustände versetzen. Die Rettungskräfte, die den Gruppen vorausgehen, treiben diese mittlerweile an, indem sie den Rhythmus des Sprechgesangs vorgeben. Es scheint nicht nur um das Gedenken an Husseins Märtyrertod zu gehen, sondern auch um ein kollektives Gruppenerlebnis, einen gemeinsam erfahrenen Schmerz und die Identität und Zugehörigkeit als Schiit.
Die Teilnehmer der Prozessionen ziehen ihre Schwerter über den Straßenasphalt und erzeugen damit ein Geräusch von wetzenden Säbeln, das durch Mark und Bein geht. Die Rettungssanitäter, laut „Daily Star“ eine Hilfsorganisation der Hisbollah, sind aktiv im Einsatz. Immer wieder werden Menschen weggeführt und in Zelten versorgt. Viele der umstehenden Zuseher leiden sichtlich mit, manche junge Frau wirkt aber eher abgestoßen und durch den Blutgeruch verstört. Die vielen Familien mit Kindern bewegen sich ganz alltäglich zwischen den Zusehern. Es wird zwischendurch gegessen, die Kinder spielen abseits der Prozessionen.
Mittlerweile neigt sich das Schauspiel über die Geschehnisse bei Kerbela dem Ende zu. Nach und nach werden die Anhänger Husseins im Spiel umgebracht und schließlich der von allen gläubigen Schiiten verehrte Mann selbst getötet und von den Frauen beweint. Auf unserem Weg zurück zum Auto sehen wir noch einmal blutende Männer an uns vorbeiziehen. Viele sind schon sichtlich erschöpft und heiser, sie bilden Ketten und halten sich an den Gürtelschlaufen ihrer Leidensgefährten fest. Das Blut auf den Straßen ist von der Sonne angetrocknet, unsere Schuhsohlen bleiben unangenehm am Asphalt kleben.
Zurück in Beirut, scheinen die Ereignisse in Nabatäa wie aus einer anderen Welt – kein Blut, keine Schwerter, keine Verletzten. Noch vier Tage vor Aschura hatten wir in der libanesischen Hauptstadt eine schiitische Moschee besucht. Die 21-jährige Tochter des Scheichs informierte uns ganz allgemein über die Schia und die Schiiten. Dass Selbstgeißelung wie bei der Prozession in Nabatäa verboten sei, war dabei das Allererste, das sie erzählte. Es würde ein schlechtes Bild auf die Schiiten werfen, sagte die junge Frau. Sie selbst wollte mit den Gebräuchen nichts zu tun haben und betonte, wie friedliebend und gewaltfrei die schiitische Religion sei.
Für die (westlichen) Medien liefern die Traditionen rund um Aschura aufregende und beeindruckende Bilder. Für viele Schiiten sind die Trauerfeierlichkeiten mit ihren blutigen Ritualen ein zentraler Bestandteil ihre Glaubens. Dass sich viele schiitische Moslems in diesen Bildern allerdings gar nicht wiedererkennen, mag vielleicht nicht so ganz ins Schema passen. Erwähnenswert ist es aber allemal.
This article was originally published on 27. November 2012 on religion.orf.at.