In einer 2008 abgehaltenen Roundtable-Diskussion zu Zukunftsaussichten von Gender in den Internationalen Beziehungen[1. Hutchings, Kimberly et al (2008): Roundtable Discussion: Reflections on the Past, Prospects for the Future in Gender and International Relations. In: Millenium 37, No. 1, Seiten 153-179.], wurde der Grad der Fragmentierung feministischer theoretischer Wissenschaft eindringlich dargestellt. Die zentrale Problematik der gegenwärtigen Situation in den feministischen Internationalen Beziehungen kann als ein Problem innerhalb der feministischen Wissensproduktion gesehen werden. Die Teilnehmer_Innen der Roundtable-Diskussion prägen dafür den Begriff des „camping“. Was sie damit meinen ist, dass in einem Prozess, in dem der Mainstream, der innerhalb der Theorie der internationalen Beziehungen lange vorherrschte und mittlerweile nicht mehr klar ausmachbar ist, feministische Theorie ihre Rolle als „Löcherfüller“, als „Nischentheorie“, die an den Rändern angesiedelt war, verloren hat. Darunter leidet vor allem die Solidarität unter Feminist_Innen, was zu einer zunehmenden Verhärtung der diskursiven Fronten innerhalb einer fragmentierten wissenschaftlichen Landschaft und zur Transformation des Solidaritätsbegriffes führt.
In der aktuellen, aufgeladenen Debatte um feministische Hybridisierungstendenzen (welche zum Teil abstrakte Nischen herausbricht und Löcher zu besetzen versucht) scheint diese Roundtable-Diskussion eine Einsicht in die Formierung und Produktion feministischer Wissenskomplexe zu geben. Durch die Heterogenität innerhalb dieser Prozesse wird sichtbar, wie in diesem Prozess gesellschaftskritische Diskurse durch homogene Entitäten von einer eurozentrischen Argumentationslogik durchsetzt werden und somit globale Machtgefälle ständig aufs Neue reproduzieren. Dabei wird sichtbar, dass dieselben Nischen, die oft durch feministische Wissensproduktion generiert (und von verschiedensten Schulen besetzt werden) auch im Aktivismus vorhanden sind und ausgefüllt werden. Beispiele dafür bietet beispielsweise die aktuelle Debatte um die ukrainischen Frauengruppe FEMEN und deren feministischen Aktivismus oder die Reaktionen auf Vergewaltigungen in Indien.
Solidarität und Heterogenität: Feministische Grundzüge?
Wenn man viele Hybridisierungsprozesse feministischer Bewegungen mitdenkt, kann man erkennen, dass die Solidarität unter den Feminist_Innen in eine Krise schlitterte und einem Wandlungsprozess auslöste an dessen Ende Solidarität zwar noch immer als Basis wissenschaftlicher Praxis diente, aber terminologisch transformiert war. Solidarität als wesentliches Element der feministischen Bewegung verschwand in diesem Prozess jedoch nicht, wurde aber neu aufgeladen oder scheint was anderes zu bedeuten als noch vor 20 Jahren. Waren feministische Theoretiker_Innen anfangs der 1990er Jahre bemüht und fähig ihre Differenzen in konstruktiver Wissensproduktion münden zu lassen – diese als Triebelement ihres Forschens zu verstehen -, bietet die Breite des heutigen Feldes feministischer Theorie in sich Ausweichmöglichkeiten verschiedener Ideen und Zugänge, die sich dementsprechend zusammenrotten und das Feld heterogenisieren. Diese Heterogenisierung kann – systemisch gedacht – als „schooling“ bezeichnet werden. Um das Spektrum an Zugängen zu homogenisieren werden diese zusammen mit Ansichten, behandelten Problemstellungen, Forschungspraktiken und Strukturen in Schulen zusammengefasst. Dieses, als Heterogenität homogener Entitäten beschreibbare, Phänomen bietet auf semantischer Basis die Erklärung warum aus feministischer Wissenschaft „Nischentheorien“ entstehen, die Nischen und Löcher bis zu einem gewissen Grad jedoch aber auch erst selbst generiert. Sylveser[2. Zitiert in Hutchings et al 2008: 161f.; Anmerkung d. Verfassers.] skizziert damit die Basis des „campings“:
The field in its broadest outlines is what is structured into camp, and even scholars who might be tucked away in feminist hostile departments and take solace in feminist camps that appear in the literature and that have recognition as ‘sections’ in IR’s [International Relations] professional organisations.
Zwanzig Jahre nach dem third wave feminism tauchen auf der wissenschaftlichen Landkarte feministischer Wissenschaft nun regionalisierte „Wissenschaftstraditionen“ auf, die in Form von Schulen auf dem globalen wissenschaftlichen Markt ihre Forschung an die Frau und den Mann zu bringen versuchen (siehe beispielsweise Aberystwyth School, Copenhagen School, Bristol School oder Formen wie die Britisch School, die sich unter den einzelnen Schulen, die größere Reichweite zu Nutze machend, in den Vordergrund schiebt).[3. Vgl. Hutchings et al 2008: 161-164.] Differenz bzw. Unterschiedlichkeit bedeutet demnach also etwas wie institutionalisierte Vielfalt an wissenschaftlicher Produktionsweise, eine Tatsache, die sich nicht nur auf feministische Theorie reduzieren lässt.
Fundamente feministisch-aktivistischer Praxis
Eine wichtige Frage an diesem Punkt ist die ungeklärte Rolle einer kritischen Zugangsform, die feministische Theorie außer- und innerhalb feministischer Wissenschaft bietet, um die starren Kategorien des „Internationalen“ oder des „Politischen“ aufzubrechen und solidarische Elemente anzureichern. Denkt man dahingehend weiter, stellt sich die wichtige Frage, wie Feminismus das „Internationale“ oder „Politische“ wiederum selbst reproduziert und wie er dazu beiträgt existierende Machtstrukturen zu verhärten. Vivienne Jabri vom Kings College London[4. Jabri in Hutchings et al 2008: 167.] greift diesen Punkt heraus und meint dazu, dass
[f]eminism might, in fact, be thought as being complicit in the institutions of modernity, their late modern transformations and the hegemonic practices that derive from the institutions internationally. We need to think about these complicities and their implications for a discourse that defines itself as ‘critical’. Unravelling these complicities reveals differences within feminism that reflect the international politics of the present.
Sie verortet ihre Aussage damit genau in dem in den letzten 20 Jahren geöffneten Spannungsfeld der Heterogenität feministischer Wissenschaft und schafft über die Bezugnahme auf Hegemonie den Schritt hin zu den Fragen, die sich feministisch-politische Theorie in Zukunft stellen sollte, um ihre kritische Position neu zu beleben. Die Frage „how gender, and sexualized subjectivity, is used as a technology of power“[5. Hutchings et al 2008: 168.] sowie die Frage „how gender might be utilized as a legitimizing practice for intervention, for the redesign of other societies“[6. Ebd.] bieten eventuell die Möglichkeit soziopolitische oder politökonomische Ansätze in klassisch feministische Fragestellungen hineinzuweben. Die Herausforderung bei der Beantwortung der Fragen „within feminism itself“ wird sein, außerhalb von „camping“-Strukturen wissenschaftlicher (und im selben Maß aktivistischer) Arbeit nachzugehen, die sich aber von den vorhanden Strukturen nicht gänzlich abkoppelt, sondern im Gegensatz dazu eine neuerliche Transformation von Solidarität unterstützt. Die Art, der Stellenwert und die Brückenfunktion solidarischer Arbeit sind dabei die eigentlichen aktuellen Kernfragen des Feminismus (egal ob in Theorie oder Praxis).
Globale Analogien in der Reproduktion von Machtstrukturen
Dahingehend erscheint vor allem die aktivistische Umsetzung auf Basis einer solchen fragmentierten wissenschaftlichen Landschaft interessant. Leitet man von der Situation der feministischen Wissenschaft auf feministisch-aktivistische Praxis ab (vor allem hinsichtlich des Wandels des Solidaritätsverständnisses), lässt sich im Besonderen die Frage wie „Gender“ als Legitimation zur Intervention in und Umgestaltung von Gesellschaften wirkt ins Zentrum der kritischen Auseinandersetzung rücken.[7. Unknown Author (2013): The Towelhead and the Feminist: FEMEN and The White Woman’s Burden. URL: http://thedomainofthestrange.wordpress.com/2013/04/06/the-towelhead-and-the-feminist-femen-and-the-white-womans-burden/ (letzter Zugriff am 16. April 2013).] Thematisiert werden müsste dabei die Transformation von feministischer Solidarität, die (auch) ausgehend von bruchstückhafter feministischer Wissensproduktion auf die politische und gesellschaftliche Praxis einwirkt. Um die Widersprüche einer solchen Praxis zu verstehen, sei auf eine unbekannte Autorin verwiesen, die in einem Artikel die aktivistische Praxis von FEMEN kritisiert, da diese Rassismus, Xenophobie und Islamophobie bediene, um feministischen Themen in die Öffentlichkeit zu tragen[8. Ebd.]:
More people are coming to realize that Femen is just another manifestation of a broader growing trend of European anti-religious secularist nationalism which justifies racism, xenophobia, Islamophobia and most egregiously war in the name of human rights, feminism, and modern development.
Im speziellen Fall protestierte FEMEN für Amina, einer tunesischen FEMEN Aktivistin, die Oben-ohne-Bilder von sich im Internet postete und daraufhin von ihrer Familie unter Hausarrest gestellt und geschlagen wurde sowie gegen die Unterdrückung der Frauen im Islam. Im Zentrum der Kritik steht an dieser Stelle[9. Ebd.] aber nicht die Tatsache, das protestiert wird, sondern das wie, genauso wie die Basis des Protests an sich.
Eine grundlegende Kritik am Patriarchat, an der Kapitalisierung von Geschlecht und an der Ausbeutung von Geschlechterrollen usw., wie von vielen jüngeren[10. Siehe an dieser Stelle Penny, Laurie (2012): Fleischmarkt: Weibliche Körper im Kapitalismus. Edition Nautilus: Hamburg.] und älteren feministischen Aktivist_Innen betrieben wird, ist nicht nur erwünscht, sondern mindestens ebenso dringend notwendig. Diese Kritik aber auf kulturellen Rollenzuschreibungen aufzusetzen generiert eklektische Zugänge, die sich nicht nur eines in Veränderung begriffenen und löchrigen feministischen Solidaritätsbegriffs bedienen, sondern Transformationsprozesse dadurch erst recht reproduzieren (anstatt daraus eine kollektive Basis zu stemmen).
Das oben erwähnte „camping“ ist demnach nicht nur auf die wissenschaftliche Dimension beschränkt (dort am ehesten als „schooling“), sondern spiegelt sich genauso in aktivistischer Protestpraxis wider. Aus einer „westlich-linken“, idealistisch aufgeladenen Position heraus mag die beschriebene Kritik am islamischen Patriarchat durchaus gerechtfertigt sein, im Grunde verfestigt sie aber durch die Hintertür das Nord-Süd Gefälle auf einer diskursiven Ebene. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet nicht nur FEMEN, sondern auch die Reaktionen auf Vergewaltigungen in Indien. So schreibt Amith Gupta im Jänner 2013 auf der Website jadaliyya.com[11. Gupta, Amith (2013): Orientalist Feminism Rears its Head in India. URL: http://www.jadaliyya.com/pages/index/9371/orientalist-feminism-rears-its-head-in-india (letzter Zugriff am 22. April 2013).]:
[B]oth Indian and ‚Western‘ [commentators] […] have reduced India’s rape crisis to a cultural problem. Men, we are told–specifically, Indian men–are culturally lacking and barbaric. They have no concept of women’s rights or equality. They are born and bred to sexually assault and degrade women. This is a familiar phenomenon, and an outgrowth of colonialism. When horrible crimes happen, specifically to women, we reduce the culture, in this case, of about one billion people, to a gang-bang-enabling society of rapists. And of course, by blaming Indian culture specifically, Western sexism is brushed under the table. We arrive at Gayatri Spivak’s formula explaining the colonial exploitation of anti-woman violence in colonized societies: ‚white men saving brown women from brown men.‘
Dabei ist es doch die Zentralität des Patriarchats selbst, die im Brennpunkt der Kritik und im Fadenkreuz des feministischen Aktivismus stehen sollte, ungeachtet der dynamischen akuten Rahmenbedingungen, die es überhaupt erst ermöglichen (??). Ideengeschichtliche Ausweichmöglichkeiten und Zugänge feministischer Kritik auf eine rassistische, xenophobe und wie auch immer gearteten religiös-kulturell diffamierende Haltung aufzubauen verfestigt globale Herrschaftsstrukturen, indem „nationale Kulturen“ abgewertet und Diskurse sinnentfremdet werden, wie auch an der Vergewaltigungsdebatte ablesbar ist: „[…] the danger of reducing incidents of sexual violence to a national or cultural problem is that it inevitably distracts us from sexual violence in other contexts.“[12. Ebd.] Zusätzlich werden durch die Thematisierung „nationaler Kulturen“ Nationalismen bedient. FEMEN nimmt dabei keine Vorreiterrolle ein, sondern hält der westlichen Gesellschaft, oftmals der „progressiv-politischen“ lediglich einen Spiegel vor, wie Laurie Penny anhand eines anderen Beispiels eindringlich skizziert. In folgendem Beispiel wird die Rolle einer jungen Sikh Frau als Hausfrau, ihre inneren Kämpfe dagegen und ihre Ängste dabei dargestellt und von Laurie Penny mit Verweis auf westliche Gesellschaften kommentiert[13. Penny, Laurie (2012): Fleischmarkt: Weibliche Körper im Kapitalismus. Edition Nautilus: Hamburg. 101f.]:
Die Behauptung, dass solche Angriffe auf die menschliche Würde ‚kulturell‘ bedingt und damit sakrosankt sind, ist ein stumpfes Instrument zur Unterwanderung des Geschlechterkampfes und feministischer Solidarität. Tatsächlich ist es so, dass Kultur überhaupt keine Trumpfkarte im ideologischen Kampf ist, denn die Isolation von Frauen im Haus und die Traumatisierung der häuslichen Sphäre kommen ja nicht nur bei den Sikhs oder in der ‚asiatischen‘ oder irgendeiner anderen Kultur vor, die sich dem durchschnittlichen Weißen aus der Mittelschicht nicht unmittelbar erschließt. Vielmehr sind sie auch in den westlichen Gesellschaften weit verbreitet und waren in der Geschichtsschreibung der westlichen Länder in den letzten 350 Jahren ein zentrales narratives Element.
Festzuhalten ist, dass die “Topless Jihad-Kampagne” von FEMEN einen „unsolidarisch“ gearteten Feminismus darstellt, welcher in gewissen Zügen genauso bevormundend und autoritär ist, wie das zu kritisierende Patriarchat selbst. Er gliedert sich zudem in dieselbe Rhetorik ein, die ähnliche herablassende, kulturell aufgeladene Nationalismen generiert (wie die vor Reaktionen auf die Vergewaltigungen in indien zeigen) und feministische Solidarität unterwandert. Ein solcher feministischer Aktivismus, welcher diversen Kommentator_Innen der Vergewaltigungsdebatte um nichts nachsteht, produziert auf diese Art eine „Orgie an Rassismus und Orientalismus“[14. Vgl. ebd.].