Nicht zum ersten Mal hat sich die relative Stellung Spaniens in Europa in sehr kurzer Zeit deutlich verändert. Die mit Abstand führende Großmacht des 16. Jahrhunderts, in deren Machtbereich »die Sonne nicht unterging«, erlitt im Folgenden einen drastischen Abstieg im europäischen Machtgefüge.[1. Das erste bedeutende Anzeichen dafür war 1588 der unmittelbar mehr aus Umständen besonders schlechten Wetters erklärte Untergang der gewaltigen »Unbesiegbaren Flotte« Spaniens vor der englischen Küste. Der Verlust der Niederlande, der bald folgende Dreißigjährige Krieg und sonstige Verwicklungen brachten den Rest.] Das war vor allem weil sie die enormen Reichtümer aus Amerika kaum produktiv zu verwenden wusste und ihre traditionelle Sozialstruktur keine moderne Bourgeoisie hervorgebracht hatte, während Frankreich, England und auch das nunmehr von Spanien unabhängige Königreich Niederlande in der durch den neuen Transatlantik- und Asienhandel[2. In Asien, bis nach China und Japan, war von den europäischen Mächten anfangs vor allem das dann von 1580 bis 1640 von Spanien absorbierte Portugal präsent, dessen Seefahrer Vasco da Gama 1498 den Seeweg nach Indien entdeckte, sechs Jahre nach der Ankunft von Kolumbus in Amerika. Aber seit Anfang des 17. Jahrhunderts wurde Portugal zunehmend von den nunmehr unabhängigen Niederländern aus Asien verdrängt, vorübergehend auch aus dem wirtschaftlich bedeutendsten Teil seiner Hauptkolonie Brasilien.] revolutionierten Weltwirtschaft viel dynamischere Positionen einnahmen. Es war gleichzeitig ein typischer Fall von geographischer »Überausdehnung«, an dem auch andere Großmächte vorher und später zugrunde gingen, wie der Historiker Paul Kennedy in seiner berühmten Analyse Aufstieg und Niedergang der Großmächte beschrieben hat. Schon im 17. Jahrhundert und kurz danach verlor Spanien einige seiner Kolonien in der Karibik sowie alle Territorien in Europa außerhalb der iberischen Halbinsel, wie den noch spanisch gebliebenen Teil der Niederlande, das künftige Belgien, das Österreich zufiel.[3. Selbst innerhalb der iberischen Halbinsel und der Nachbarinseln Spaniens gingen die Balearen-Insel Menorca vorübergehend und die winzige, aber strategische Halbinsel von Gibraltar 1704 verloren, wobei die letztere bis heute ein Zankapfel mit Großbritannien geblieben ist. In der Karibik war von den größeren Inseln Jamaika 1655 an England verloren gegangen, Trinidad folgte erst 1797.] In der Folge blieb Spanien jenseits der Pyrenäen ein weitgehend isoliertes, vom bald einsetzenden industriellen Fortschritt vielfach abgeschnittenes, relativ verarmtes Land, das 1898 seine praktisch letzten Kolonien Kuba, Puerto Rico und die Philippinen[4. Nur noch die spanische Sahara und das winzige Äquatorialguinea, die einzigen und unbedeutenden Kolonien in Afrika, blieben noch im Besitz Madrids.] verlor. Mitte des 20. Jahrhunderts, nach dem katastrophalen Bürgerkrieg der Jahre 1936 bis 1939, galt es zusammen mit Portugal, Griechenland und Irland als »unterentwickelt« und zeigte auch z. B. im Vergleich zu Argentinien und Uruguay deutliche Rückstände, nicht zuletzt im kulturellen und sozialen Bereich sowie mit einer wenig entwickelten Industrie, auch wenn es stellenweise, insbesondere in Katalonien und im Baskenland, durchaus dynamische Impulse gab.
Das Franco-Erbe und der Aufschwung der letzten Jahrzehnte
Der grausame Bürgerkrieg und sein Epilog, als die blutrünstige Franco-Tyrannei noch unzählige Regimegegner ermordete[5. Über 150 000 nach den gängigen Schätzungen. Der bekannte britische Hispanist Paul Preston hat darüber kürzlich ein Buch mit dem trotzdem wohl etwas übertriebenen Titel »Der spanische Holocaust« veröffentlicht.], hatte nicht nur im politischen, sondern auch im sozialen, ökonomischen und psycho-kulturellen Bereich katastrophale Folgen, die noch heute nicht zur Gänze überwunden sind. Zahllose Intellektuelle und Künstler wanderten aus, insbesondere nach Frankreich, Argentinien und Mexiko, während in Spanien Gesellschaft und Kultur den engen Kriterien einer hier besonders intoleranten, obskurantistischen und retrograden Kirche und eines autoritär-reaktionären Regimes faschistischen Typs unterworfen wurden. Der Staat übernahm eine aktive Rolle im wirtschaftlichen Bereich, aber zugunsten der großen privaten Gruppen, die die beherrschenden Positionen einnahmen.
Erst 1959 bis 1960 begann die zunehmende Außenöffnung der spanischen Wirtschaft, mit Massenauswanderung in Richtung West- und Mitteleuropa, der Förderung ausländischer Investitionen und dem Beginn des Massentourismus. Das extrem niedrige Lohnniveau, das die Diktatur durchsetzte, konnte die Kapitalakkumulation begünstigen, auch wenn das Regime kaum grundlegend wirtschaftsfördernd war, aber die Annäherung an das damals boomende West- und Mitteleuropa brachte bedeutende dynamische Impulse. Nach dem Tod Francos (1975) beschleunigte sich der bereits vorher in Gang gesetzte sozio-ökonomische Aufschwung im Rahmen der neuen und bald erstaunlich konsolidierten demokratischen Institutionen eines nunmehr föderal organisierten Staates. Und was noch 1986, als Spanien zusammen mit Portugal der Europäischen Gemeinschaft beitrat, kaum jemand voraussagen konnte, ist nunmehr eingetroffen: Spanien hat in den letzten Jahren Italien und den EU-Durchschnitt in puncto Pro-Kopf-Einkommen eingeholt und, vor der jetzigen Krise, mit dem Gedanken gespielt, auch zur Spitzenliga aufzusteigen. Seine erstaunlichen sportlichen Erfolge der letzten Jahre, bei Fußball, Tennis, Radrennen und Formel 1, spiegeln diesen Aufschwung wider, zu dem nicht zuletzt der landesweite großzügige Ausbau lokaler Sportzentren, und sicher auch ein besseres Ernährungsniveau, beigetragen haben. Die Lebenserwartung der Spanier ist höher ist als die der Mitteleuropäer, und die der Spanierinnen nimmt, zusammen mit der der Französinnen, absolute Spitzenwerte in Europa ein, was freilich eher durch Klima und Lebens-, insbesondere Ernährungsgewohnheiten zu erklären ist als durch einen sozialen Fortschritt, der erst relative jungen Datums ist.
Einwanderung und demographische Entwicklung
Das wohl beeindruckendste Phänomen der letzten Jahre ist die diametrale Umkehrung der Migrationsströme. Dasselbe Spanien, das jahrhundertelang viele Millionen Menschen in seine Kolonien, später in die unabhängig gewordenen Länder Spanisch-Amerikas, zusätzlich auch nach Brasilien und anderswohin, ab 1960 aber vor allem ins restliche Europa schickte, wurde zum weitaus bedeutendsten Einwanderungsland Europas, insbesondere in Bezug auf die eigene Bevölkerung und diese Jahre.[6. Deutschland und Frankreich haben natürlich noch mehr ausländische Staatsbürger unter ihrer Bevölkerung, und Luxemburg und die Schweiz eine größere Proportion. Aber eine vergleichbare Einwanderungswelle in wenigen Jahren hat es nirgendwo sonst gegeben.] Seit rund 1998 kamen in einem knappen Jahrzehnt über fünf Millionen Personen, hauptsächlich aus Südamerika – mit Ekuador und Kolumbien auf den ersten Plätzen sowie aus Rumänien und Marokko.[7. Die heute die größten Kontingente stellen, mit jeweils 864 000 und 770 000 nach der letzten Volkszählung.] Obwohl die Geburtenrate nunmehr eine der niedrigsten der Welt ist, ist damit die Bevölkerung auf 47 Millionen gestiegen, während die vor einem Dutzend Jahren noch etwa gleich hohe von Polen heute gut acht Millionen weniger beträgt.
In kürzester Zeit stieg damit der Anteil der im Ausland Geborenen schneller als überall sonst in Europa, von drei auf 12 Prozent.[8. Genauer noch von drei Prozent (1997) auf acht Prozent (2002) und 11,9 Prozent (2006). Im Vergleich dazu stieg dieser Anteil in Portugal in diesen Jahren von 5,3 auf 6,1 Prozent und in Irland von 7,4 auf 14,4 Prozent, s. Brian KEELEY – International Migration. The human face of globalisation, OECD Insights, OECD, Paris, 2009, S. 146. In Österreich, zum Vergleich, stieg die Proportion, dem gleichen Bericht zufolge, von 11,2 Prozent im Jahr 1998 auf 14,1 Prozent im Jahr 2006. Die letzte Volkszählung ergab für Anfang 2011 12,2 Prozent Ausländer in Spanien, zum ersten Mal mit einem leichten Rückgang ihrer Gesamtzahl, die jedoch vor allem durch die Einbürgerung von vielen unter ihnen zu erklären sein dürfte. La población extranjera cae por primera vez, El País, 5.4.2011.] Wie in anderen früheren Auswandererländern sind hier natürlich nicht wenige Rückwanderer zu finden, aber trotzdem ist der Anstieg in Spanien wie in Irland auffallend. In allen diesen Fällen ist heute aber auch eine neuerliche Tendenz zur Emigration festzustellen. Und diese Masseneinwanderung hat Spannungen hervorgerufen, aber weit weniger als in anderen Ländern Europas. Mit der heutigen Krise und der stark gestiegenen Arbeitslosigkeit sind freilich viele dieser Einwanderer in einer äußerst schwierigen Lage, da Arbeitsplätze im Bautensektor und auch sonst knapp geworden sind.
Spanien in Europa – eine rasche Modernisierung …
Noch heute ist es in Spanien oft üblich, als «Europa« jenes zu bezeichnen, das auf der anderen Seite der Pyrenäen beginnt, aber es gehört selbst wieder eindeutig dazu, wie einst in seiner historischen Blütezeit im 16. und 17. Jahrhundert. Seit 1960 hat es sich beschleunigt in das restliche Europa integriert, u. a. durch den rasch intensivierten Außenhandel mit dynamischer Industrialisierung sowie massive ausländische Investitionen wie in der Autoindustrie, die zu einer der drei größten Europas wurde, Massentourismus und Überweisungen der Auswanderer. Alles das hat die enormen Unterschiede in puncto Lebensstandard, politisch-juristische Institutionen, Rolle der Kirche und in vielen anderen Punkten in den letzten Jahrzehnten weitgehend aufgehoben. Man sieht das Resultat u. a. im besonders dynamischen, wenn auch oft anarchischen Wohnungs- und Städtebau, in den unzähligen bis zum späten Abend vollen Lokalen, oder im Straßenverkehr, wo heute gute Strassen und moderne Autobahnen das ganze Land – das zweitgrößte Westeuropas, mit einer immer noch viel geringeren Bevölkerungsdichte als Frankreich und darüber hinaus besonders gebirgig – durchziehen und die einst vorherrschenden Seat (Fiat) 600 den mittelgroßen Limousinen Platz gemacht haben, wie eben anderswo in Europa. Das früher erzkatholisch intolerante Spanien, das Frauen mehr als anderswo diskriminierte, zeichnet sich heute eher durch die Filme von Pedro Almodóvar aus, die für die traditionelle Moral extreme Provokationen darstellen, und Spanien ist heute eines der tolerantesten Länder, wo z. B. Gleichgeschlechtliche Ehen legal geworden sind und in der jetzigen sozialistischen Regierung das Prinzip der Geschlechter-Parität[9. Illustrativ ist hier die Verteidigungsministerin Carme Chacón, die bei ihrer Ernennung hochschwanger war. Vizepremier war von 2004 bis 2009 María Teresa Fernández de la Vega, und heute sind Frauen u. a. mit dem Wirtschafts- und dem Außenministerium betraut. Die 40-jährige Chacón gilt auch als eine mögliche künftige Premierministerin.] gilt. El País gehört zu den seriösesten Tageszeitungen Europas und hat dabei die mit rund zwei Millionen Exemplaren die weitaus höchste Auflage unter allen spanischen Zeitungen, und die spanischen Filme gehören eindeutig zu den besten der letzten Jahrzehnte. Im Wissenschafts- und Unterrichtsbereich sind Rückstände klar sichtbar, aber die Fortschritte der letzten Jahrzehnte sind beträchtlich.
Nicht nur für Sonne und Meer kommen Dutzende von Millionen anderer Europäer nach Spanien.[10. Seit den 60er-Jahren hat Spanien sehr deutlich Italien als bis dahin traditionelles Haupttourismusziel überflügelt, wenn auch Frankreich – nicht zuletzt als Transitland – weiterhin an erster Stelle unter den Ankunftsländern ausländischer Touristen in Europa steht. Für 2010 wurden 53 Millionen verzeichnet, das ist die viertgrößte Zahl weltweit. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer ist höher als anderswo, und der Fremdenverkehr stellt heute um die 11 Prozent des Nationaleinkommens und der Beschäftigung dar.] Barcelona und Madrid sind zu äußerst lebendigen Magneten des europäischen Städtetourismus geworden, Madrid zu einem der größten Flughäfen der Welt, und die vielen Sehenswürdigkeiten des Landes sind bestens restauriert worden. Zahlreiche spanische Touristen findet man heute nicht nur im eigenen Land und im restlichen Europa, sondern auch weltweit, ebenso wie spanische Nichtregierungsorganisationen und auch Banken und andere Unternehmen. Diese nehmen insbesondere in Lateinamerika Spitzenpositionen ein, nicht immer freilich zum Vorteil der dortigen Bevölkerung. Die beiden großen Banken BBVA und BSCH gehören zu den bedeutendsten und auch solidesten Europas. Das politische Leben ist von einem Parteiensystem geprägt, in dem zwei große Parteien – die konservative PP und die sozialistische PSOE – auf nationaler Ebene den Ton angeben und mehrere weitere in ihren eigenen Regionen oft dominieren und in der Madrider Regierung das gelegentliche Zünglein an der Waage spielen. Dabei bringt die oft hitzig geführte Debatte über die Zukunft der föderalen Institutionen sui generis bis heute einige besondere Komplikationen mit sich. Aber trotz der derzeit zunehmenden Spannungen mit den autonomistischen Bewegungen in Katalonien und dem immer wieder aufflackernden Terrorismus im Baskenland, und auch der notorischen Aggressivität der konservativen Opposition gegen die PSOE-Regierung des Premiers Zapatero erscheinen die demokratischen Institutionen als ebenso konsolidiert wie anderswo in Westeuropa, freilich auch mit ähnlichen Defekten wie Korruption, was zur steigenden Unpopularität der Politiker und Parteien führt.
… aber auch Nachteile …
Seit dem EU-Beitritt sind viele Milliarden Fördergelder von Brüssel nach Spanien geflossen, insbesondere durch die Landwirtschafts-, Regional- und Kohäsionfonds. Spanien war hier, aufgrund seiner Größe, Hauptnutznießer dieser Transfers, weit vor den viel kleineren Ländern Portugal, Griechenland und Irland. Diese wurden hier auch sicher besser verwendet als in Griechenland und haben zweifellos deutlich zum Aufschwung des Landes beigetragen, wie der beschleunigte Ausbau des Autobahnnetzes illustriert. Eisenbahnen blieben zurück, mit Ausnahme der Hochgeschwindigkeitszüge, die heute viele große Städte miteinander verbinden. Die an Frankreich grenzenden und bereits vorher wohlhabendsten Regionen Katalonien und Baskenland verzeichneten rasche Fortschritte, nicht zuletzt durch die dynamischen Effekte der europäischen Integration, aber auch die ärmeren Regionen wie Andalusien und Galicien kannten einen beachtlichen Aufschwung. Spanien gehört nicht zuletzt darum zu den entschiedensten Verfechtern einer anderswo meist heftig umstrittenen weitergehenden Integration Europas. Seine große Fischereiflotte trägt massiv zur Überfischung europäischer und anderer Gewässer bei …
Nicht alles ging da freilich problemlos vor sich. Im nördlichen Asturien, früher eine der industrialisiertesten Regionen des Landes, wo einst 1934 eine sozialistische Revolution niedergeschlagen wurde, mussten Fischerei, Viehzucht und Landwirtschaft dieser bergigen und regenreichen Region, alles das in kleinen Produktionseinheiten, sowie der regional gewichtige Kohlenbergbau und die bedeutende Eisen- und Stahlindustrie, schmerzhafte Restrukturierungskuren durchmachen, um im europäischen Rahmen bestehen zu können.[11. Der Kohlenbergbau wird vermutlich in ein paar Jahren eingestellt, die Stahlindustrie funktioniert nunmehr im Rahmen des Branchenweltführers Mittal, natürlich nach dessen Kriterien, denen zufolge Asturien kein wesentlicher Standort ist.] Heute ist Asturien im nationalen Vergleich klar zurückgefallen. Das benachbarte Galicien, früher das Armenhaus Nordspaniens und Hauptursprungsregion von Auswanderern nach Argentinien und Kuba, hat dagegen seine Position gegenüber dem Durchschnitt sehr deutlich verbessert, wie auch die Kanarischen Inseln am anderen Extrem des Landes, deren Bevölkerung früher massiv nach Kuba und Venezuela auswanderte.
Gleichzeitig aber hat sich die spanische Industrie insgesamt sehr dynamisch entwickelt. Das früher sehr sichtbare Einkommensgefälle mit Frankreich ist heute nahezu inexistent. Spanien konnte schließlich auch schon bei ihrer Gründung der Eurozone beitreten und damit bedeutende Vorteile wie Währungsstabilität und niedrige Zinssätze genießen.
Aber genau hier wird es schwierig, die Vor- und Nachteile der EU-Beziehungen Spaniens und insbesondere seines Beitritts zur Euro-Gruppe gegeneinander abzuwägen, sowohl für das Land selbst als auch für die Gruppe insgesamt. Vereinzelte Unkenrufe, die im damaligen Euro-Enthusiasmus untergingen, waren nicht ganz im Irrtum.[12. Im 1998 veröffentlichten Buch des Autors über Europa (s. Autorennotiz) trägt das Kapitel 1.9. den Titel: »Die Währungsunion – Utopie und Alptraum« und warnt insbesondere vor den möglichen Problemen des Euro für Spanien. Manchmal würde man wünschen, sich geirrt zu haben…] Man hatte insbesondere die Warnung des früheren Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors vergessen, wonach eine Währungsunion nur mit einer weitgehend koordinierten Fiskal- und Wirtschaftspolitik allgemein gut funktionieren kann, jedenfalls langfristig. Und die Politik der niedrigen Zinsen tat ihr Übriges.
Das Problem mit dem Euro ist insbesondere, dass die eher künstliche Geldstabilität und die Niedrigzinsen einen Konsum- und Bauten-Boom sondergleichen angeheizt haben, der letzten Endes in die Krise führen musste. Im Jahr 2005 wurden in Spanien mehr Immobilien gebaut als in Frankreich, Italien, Deutschland und England zusammen, was bei allem Neubedarf durch die Einwanderung, den gestiegenen Lebensstandard und den Drang der Nordeuropäer nach Wohnraum in Spanien nicht den Realitäten der Nachfrage entsprechen konnte. Spekulation und Niedrigzinsen trieben die Immobilienpreise in die Höhe und machten Spanien in dieser Hinsicht zu einem Hochpreisland. Wohnungen wurden viel teurer als z. B. in Frankreich und junge Leute mit meist geringem und zunehmend prekären Einkommen – in den letzten Jahren sind die kurzfristigen Arbeitsverträge immer häufiger geworden, mehr noch als anderswo in Europa – fanden immer weniger Zugang zum in Spanien traditionell vorherrschenden Wohneigentum. Die Küsten am Mittelmeer wurden katastrophal zubetoniert und die oft entfesselte Korruption rund um die Baugenehmigungen führte zu gigantischen Skandalen. Letzten Endes platzte die Immobilienblase, damit stieg die Arbeitslosigkeit wieder stark an und viele konnten ihre Raten nicht mehr abzahlen. Vor allem unter den Millionen ausländischen Arbeitskräften – die insbesondere in der lange boomenden aber nunmehr abrupt abgebremsten Bauindustrie beschäftigten Männer, die Frauen im Dienstleistungssektor, der ebenfalls rasant Jobs abbaute – verloren damit viele ihren erträumten Zugang zu den eigenen vier Wänden, wenn nicht gar ihre Existenzgrundlage. Trotzdem sind nur sehr wenige zurückgegangen, wenn auch der Einwanderungsstrom nahezu versiegt ist.
Die Krise seit 2007 hat insbesondere die absurd aufgeblähte Bautätigkeit jäh schrumpfen und die Arbeitslosigkeit auf über 20 Prozent ansteigen lassen, und doppelt so hoch für die bis 25-Jährigen. Die immer noch um einiges stärker als in Nord- und Mitteleuropa gebliebenen Familienbande und vor allem die Schattenwirtschaft – die bis gegen vier Millionen Personen und über 20 Prozent der Wirtschaft betreffen soll – grenzen die schlimmsten sozialen Folgen ein: auf grauen Märkten werden allerlei gebrauchte Gegenstände, Raubkopien von DVDs etc. verkauft, cartoneros sammeln Altpapier für Papierfabriken ein, aber vor allem Gelegenheitsarbeit mit miserabler Bezahlung und Schwarzarbeit auf dem Bau, in den Hotels und in der Landwirtschaft breiten sich mehr denn je aus.[13. En Espagne, l’économie souterraine est devenue le dernier recours face à la crise, Le Monde, 10.3.2011.] Im Grunde hat der Euro wohl dazu beigetragen, dass die spanische Wirtschaft – wie die griechische und die portugiesische, freilich viel weniger – an internationaler Konkurrenzfähigkeit eher verloren als gewonnen hat. Und heute, unter dem Druck der Krise, sinken die Realeinkommen …
Stärken und Schwächen des heutigen Spanien
Im berühmten PISA-Bericht über die Qualität der verschiedenen Unterrichtssysteme liegt Spanien weit hinten auf der Liste. Einer OECD-Studie zufolge sind in Spanien ganze 66,4 Prozent der Bevölkerung nicht über das Grundschulniveau hinausgekommen, gegen 33,4 Prozent in Österreich, 24,2 Prozent in Deutschland, 45,8 Prozent in Frankreich, 63,6 Prozent in Italien, 51,5 Prozent in Großbritannien, 80 Prozent in Portugal, 75,6 Prozent in der Türkei und 52,5 Prozent in Griechenland. Im Gegensatz zu den meisten anderen Industrieländern ist hier das Durchschnittsniveau der eingewanderten Bevölkerung etwas höher als das der Einheimischen, obwohl sich deren Beschäftigung eher in weniger qualifizierten Jobs konzentriert. Die Proportion der Hochschulabsolventen ist allerdings mit 18 Prozent ganz knapp unter dem OECD-Durchschnitt und damit deutlich höher als in Griechenland oder gar in Portugal, aber auch etwas höher als in Frankreich und deutlich über der von Österreich, wo freilich die Bevölkerung mit Mittelschulniveau, auch die eingewanderte, wesentlich zahlreicher ist.[14. B. Keeley, Op. cit., S 150-3.] Diese Zahlen spiegeln zweifellos sowohl deutliche Fortschritte seit der Franco-Ära im universitären Bereich wider als auch ein weiterhin hohes Niveau von vorzeitigen Schulabbrüchen, das sicher mit der traditionell hohen Jugendarbeitslosigkeit zu tun hat und diese weiter verstärkt. Das Gleiche gilt für den Bereich Forschung und Technologie, wo Spanien zum Teil deutlich aufgeholt hat und z. B. im Airbus-Konsortium seinen gewichtigen Platz hat, aber weiterhin noch relativ schwach in verschiedenen Spitzengruppen des High-Tech vertreten ist. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind gestiegen, aber relativ bescheiden geblieben, auf kaum über einem Prozent des Bruttonationalprodukts gegen über zwei Prozent in anderen größeren EU-Ländern und über drei Prozent in Schweden und Finnland[15. In Spanien stiegen diese Ausgaben von 1998 bis 2007 von 0,87 auf 1,27 Prozent, während sie sich in der 27er-EU von 1,79 auf 1,85 nur leicht erhöhten, in Finnland dagegen von 2,87 auf 3,47 Prozent und in Österreich von 1,78 auf 2,56 Prozent, Angaben von EUROSTAT – Europe in figures. Eurostat yearbook 2010, Luxemburg, 2010, S. 588.]. Die industrielle Konkurrenzfähigkeit des Landes ist, nicht zuletzt durch die letzten Endes falsche Sicherheit der Euro-Währung, relativ schwach geblieben und, jedenfalls im Vergleich zu den nördlichen Euro-Ländern, eher gesunken.
Die quer durch Europa zunehmenden Tendenzen der Fremdenfeindlichkeit und die Schwierigkeiten der Integration der Roma-Bevölkerung sind auch in Spanien nicht unbekannt. Aber die erstere tritt hier deutlich weniger stark auf als z. B. in Frankreich oder Italien, und was die letztere betrifft, so gilt Spanien als ein Land, in dem deren soziale Integration relativ gut gelungen ist. Hier gibt es also sicher brauchbare Lektionen für andere Länder …
In der Energiepolitik hat Spanien wohl wie fast jedes Länder auf Atomkraft gesetzt, aber auch auf erneuerbare Quellen. So liegt deren Anteil an der nationalen Stromerzeugung heute bei über 40 Prozent, wovon etwa die Hälfte der Windenergie entspricht, die vor kurzem den ersten Platz unter diesen erreicht hat, weit vor der ebenfalls geförderten Solartechnik, deren Bedeutung sicher noch stark zunehmen wird. Das Land, so scheint es, könnte ohne größere Schwierigkeiten auf die Atomenergie verzichten und hat effiziente Unternehmen im Bereich der erneuerbaren Energien.
Die katalanische Herausforderung und das ewige Baskenproblem
Katalonien und das Baskenland sind seit langem die fortgeschrittensten Regionen[16. Katalonien war jahrhundertelang eine regionale Handelsmacht im westlichen Mittelmeer und kannte dann eine frühere Industrialisierung als das übrige Spanien. Noch heute gibt es eine kleine Enklave in Sardinien, Alghero, in der Katalanisch gesprochen wird.] und gleichzeitig die mit dem am meisten ausgeprägten regionalen Nationalismus. Die massive Einwanderung aus ärmeren Regionen wie dem südlichen Andalusien und den zentralen Regionen Kastiliens hat diesen Nationalismus beflügelt, und der traditionelle Madrider Zentralismus, insbesondere in der Franco-Ära, hat das noch auf die Spitze getrieben, als nicht nur jegliche Autonomie, sondern auch die regionalen Sprachen und selbst katalanische oder baskische Vornamen verboten waren. Heute gibt es hier Regionalregierungen mit einem sehr hohen Grad von Autonomie. Die Katalanen heißen wieder Pere und Jordi statt Pedro und Jorge und die Basken tragen nicht nur – wie vorher – ihre oft eigenartig klingenden Familien-, sondern auch Vornamen wie Iñaki oder Arantxa. In Katalonien herrschen Aufschriften nur in katalanischer Sprache vor, obwohl viele Einwohner auch untereinander weiter eher und oft nur Kastilianisch (Spanisch) sprechen, lokale Zeitungen gibt es in beiden, eng verwandten Sprachen, im Unterricht wird die früher verpönte regionale Sprache stark gefördert, nicht gerade zum Wohl der Vielen, die sie nicht beherrschen.
Die Katalanen beklagen sich nicht nur um eine negative Bilanz zwischen dem, was sie an den Bundesstaat Spanien zahlen und dem, was sie für ihre Region zurückbekommen – wie das seit langem in den reicheren Regionen Italiens und nunmehr auch Deutschlands üblich ist – sondern auch darüber, dass die großen staatlichen Investitionen z. B. mehr den internationalen Flughafen von Madrid als den von Barcelona begünstigen und nicht zuletzt daher die erstere Stadt die letztere vielfach überholt hat.[17. Das ist allerdings relativ und betrifft z. B. manche High-Tech-Branchen. Barcelona zieht seinerseits noch mehr Städtetourismus an als Madrid, nicht zuletzt als eine der Hauptstädte des Jugendstils, durch seine Nähe zur Costa Brava und den eigenen, jetzt deutlich verbesserten, Zugang zum Meer, aber auch als Kongresszentrum und Sitz der bisher eher diskreten, aber künftig vermutlich reformierten und dann wohl bedeutenderen »Mittelmeerunion«, die Europa und die südlichen Anrainer aneinander annähern soll.] Viele meinen daher, dass eine noch weitergehende Autonomie, ja für manche die Unabhängigkeit der etwa 7,5 Millionen Einwohner zählenden Region[18. Die Provinzen Barcelona, Gerona (Girona), Lérida (Lleida) und Tarragona haben zusammen rund 32 000 Quadratkilometer, was im Fall einer Abspaltung einen neuen, mittelgroßen Kleinstaat mit einem deutlich über dem EU-Durchschnitt liegenden Pro-Kopf-Einkommen ergeben würde.] die beste und gerechte Lösung wäre, und auf jeden Fall hat man sich zwischen Barcelona und Madrid mehr und mehr entfremdet. Wie zwei Protagonisten der spanischen Demokratie, der frühere sozialistische Langzeitpremier Felipe González (1982 bis 96) und der katalanische Spitzenpolitiker Miquel Roca, in einem gemeinsamen Buch mit dem bangen Titel »Können wir uns noch verstehen?« feststellen, genießt Katalonien heute mehr Autonomie als in seiner gesamten früheren Geschichte, aber es gibt hier nichtsdestotrotz eine Irritation gegenüber dem spanischen Zentralstaat wie nie zuvor.[19. Cataluña-España: tiene arreglo?, El País, 3.4.2011, mit Auszügen aus dem gemeinsamen Buch beider Autoren Aún podemos entendernos?, Ed. Planeta, 2011.] Dazu kommen freilich auch soziokulturelle Eigenheiten: die Katalanen gelten nicht nur als aktiv und arbeitsam, sondern auch als eher knausrig, und sie haben im Vorjahr beschlossen, den bei ihnen, anders als in Kastilien oder Andalusien, sowieso kaum populären Stierkampf gesetzlich zu verbieten …
Das Baskenland mit seinen nur knapp 7 300 Quadratkilometern und 2,2 Millionen Einwohnern[20. Ohne die Provinz Navarra (Hauptstadt Pamplona), früher ein eigenes Königreich zwischen Spanien und Frankreich, die historisch und kulturell teilweise der Region angehört, größer als das eigentliche Baskenland ist aber nicht viel mehr als eine halbe Million Einwohner zählt.] kennt seit dem 19. Jahrhundert eine überdurchschnittlich dynamische Wirtschaftsentwicklung, die sich insbesondere in der Schwerindustrie um Bilbao und den großen Banken widerspiegelt. Die seit einem halben Jahrhundert latente Rebellion der gewalttätigen ETA, die sich von eher linken anti-Franco-Positionen zu einer national-extremistischen Terroristengruppe entwickelt hat, hat das trotz fast Tausend Todesopfer und der Abwanderung etlicher Unternehmen aus dem Baskenland nicht wirklich abgebremst. Heute scheint sich die immer mehr isolierte Gruppe nunmehr endlich totgelaufen zu haben, kann man hoffen. Aber der baskische Nationalismus ist auch außerhalb der ETA, in den lokalen Parteien und der Bevölkerung, sehr lebendig und eine Herausforderung für den spanischen Staat geblieben und hat einen großen Erfolg bei den kürzlichen Regionalwahlen erzielt.
Außenpolitik – Gleichschritt mit der EU und Besonderheiten
Spanien hat traditionell eine insbesondere auf Lateinamerika und den arabischen Raum hin orientierte Diplomatie, wo sie aufgrund historischer, kultureller und geographischer Elemente besondere Standortvorteile gegenüber anderen Ländern Europas hat. Immerhin war es fast acht Jahrhunderte zunächst praktisch zur Gänze und dann in einer abnehmenden Proportion von muslimischen Herrschern aus Nordafrika dominiert, bis 1492 deren letzte Bastion in Granada fiel. Die islamische Vergangenheit ist hier keineswegs nur in schlechter Erinnerung, wie die riesige Moschee der früheren Kalifat-Hauptstadt Córdoba zeigt, die seinerzeit zum Teil in eine Kathedrale umgebaut wurde und damit eine der großen Touristenattraktionen des modernen Spanien darstellt.
Aber die heutigen Außenbeziehungen sind nicht unproblematisch, insbesondere mit dem direkten Nachbarn Marokko[21. Hier geht es nicht zuletzt um die zwei zu Spanien gehörenden aber auf nordafrikanischem (marokkanischem) Territorium gelegenen Städte Ceuta und Melilla, um die herum hohe Stacheldrahtzäune den Migrationsdruck aus Marokko und darüber hinaus aus Schwarzafrika in Schach halten.], vor allem wegen des davon ausgehenden enormen Migrationsdrucks. Wohl hat der frühere Außenminister Moratinos vorher als EU-Sondergesandter im Nahen Osten Erfahrungen vor Ort gesammelt, aber viel hat er später kaum erreicht, um Europa als Akteur eine bedeutendere oder konstruktivere Stimme zu geben. Wie Frankreich und Italien, und Europa insgesamt, hat auch Spanien den revolutionären Wandel in Nordafrika eher verschlafen. Immerhin, während der frühere konservative Premier Aznar mit Bush und Blair am Irak-Abenteuer teilnahm, zog sein gleich nach dem Terrorattentat in Madrid – das fast 200 Todesopfer forderte – gewählter sozialistische Nachfolger Zapatero wie versprochen die spanischen Truppen unverzüglich zurück.
In Lateinamerika konnte Spanien sicher die biregionalen Beziehungen fördern, aber grundlegend vor allem im Sinn der vermehrten Freihandelsabkommen, die nicht unbedingt das Beste für beide Seiten bringen. In puncto Kuba hat Spanien wohl immer wieder den Ton angegeben, mal in konservativer, dann in konzilianter Perspektive wie in den letzten Jahren mit Premier Zapatero und Minister Moratinos, was nicht allen anderen in Europa gefällt. Aber ein wirtschaftlich und politisch wirklich reformiertes und solides Regime in Havanna ist bis heute trotz einiger sinnvoller Reformschritte kaum in Sicht. Mit seinem erfolgreichen Übergang zur Demokratie könnte Spanien hier wohl auch als ein recht gutes Beispiel dienen.
Gefestigte Demokratie, aber enorme Desillusion mit Politikern und Parteien …
35 Jahre nach dem Ende der Franco-Ära sind die demokratischen Institutionen in Spanien zweifellos nicht weniger gefestigt als sonst wo in Europa und Toleranz herrscht in allen Aspekten vor: die Filme von Almodóvar und auch viele andere der reichhaltigen spanischen Filmindustrie spiegeln das bestens wider. Die PSOE-Regierung hat seit 2004 weitere Reformen im zivilen und sozialen Bereich, insbesondere für die Frauen, durchgesetzt, aber kaum im wirtschaftlichen. Die früher vorherrschenden ultrakonservativen Kräfte wie breite Sektoren der katholischen Kirche, die noch heftig gegen die Liberalisierung der Abtreibung agitieren, haben heute allgemein viel weniger zu sagen. Kaum jemand meint im Ernst, dass es »früher besser war«. Aber Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, nunmehr sinkende Realeinkommen, Korruptionsskandale und die Unfähigkeit der Politiker, Wege aus der Krise zu finden, haben in den allerletzten Jahren zu einer enormen Desillusion geführt. Die Regierung hat die Krise zuerst negiert und dann mit den üblichen Austeritätsrezepten reagiert, die die Ärmeren und Schwächeren für die Fehler der Banken zahlen lässt und die Arbeitslosigkeit enorm erhöht hat. Der erst 50-jährige Premierminister José Luis Rodríguez Zapatero hat darum, mit nunmehr katastrophalen Umfragewerten, auf eine Kandidatur für eine dritte Amtszeit verzichtet, aber seine PSOE liegt gut zehn Prozent hinter der PP, und ob der viel populärere, neun Jahre ältere Vizepremier und Innenminister, der vermutliche Nachfolger Alfredo Pérez Rubalcaba, das Ruder herumreißen kann bis zu den Anfang 2012 fälligen nächsten Parlamentswahlen ist fraglich. Sonst ist eine Regierung à la Cameron zu erwarten, den PP-Chef Mariano Rajoy explizit als Modell nimmt, mit weiteren gewaltigen Rückschritten im sozialen Bereich, auch wenn das Land vielleicht, anders als Portugal, kein EU-IWF-EZB-»Rettungspaket« braucht.
Einer kürzlichen repräsentativen Umfrage zufolge sind 80 Prozent der Bevölkerung auf den gelungenen demokratischen Übergang ihres Landes nach 1975 stolz, aber praktisch ebenso viele beurteilen die heutige politische Lage negativ, und meistens erstreckt sich diese Meinung auf Regierung und Opposition. Parteien, Politiker und die Kirche haben ein denkbar schlechtes Image, beliebt dagegen sind heute die Monarchie und auch die Streitkräfte, beide weil sie sich seit damals[22. Der Putschversuch einer Handvoll rechtsradikaler Militärs im Jahr 1981 hatte wenig Anhänger und wurde sehr schnell niedergeschlagen, was zumindest im Nachhinein sehr logisch erscheint. Die anerkannt bedeutende Rolle von König Juan Carlos bei der Verteidigung der Demokratie hat ihm bis heute eine große Popularität gebracht.] klar mit der Demokratie identifiziert haben. 75 Prozent der Jungen und 70 Prozent der Älteren sind sehr pessimistisch angesichts der extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit von über 40 Prozent, die der jüngeren Generation, so meinen sie, einen irreparablen Schaden bringt. 73 Prozent finden, dass ein »zweiter Übergang« notwendig wäre, mit dem gleichen Stil des gegenseitigen Respekts und dem Sinn für Kompromisse, die damals so erfolgreich waren. 58 Prozent meinen, dass der demokratischen Verfassung von 1978 kleinere Verbesserungen gut tun würden, dass diese aber grundlegend weiterhin zufriedenstellend ist, und nur 37 Prozent finden, dass eine tiefere Reform notwendig wäre. Wie dem auch sei, 72 Prozent der Befragten meinten dass trotz aller Defekte und Unzulänglichkeiten die heutige demokratische Epoche die beste Periode ist, die das Land in seiner gesamten Geschichte gekannt hat.[23. Los españoles dicen no al Gobierno y a la oposición, El País, 27.3.2011.]
Aber der bisher recht befriedigende Zusammenhalt des Landes, sowohl was die beiden historischen »Subnationalitäten« der Katalanen und Basken betrifft, als auch in puncto grundlegende soziale Kohäsion, ist nunmehr, mit fünf Millionen Arbeitslosen, sehr fragil geworden und dürfte bei einem heute als wahrscheinlichen geltenden Sieg der PP Anfang 2012 auf eine weitere harte Probe gestellt werden, vor allem wenn innerhalb derselben die radikalen Scharfmacher um die Präsidentin der Madrider Regionalregierung Esperanza Aguirre und den früheren Premier Aznar ihren Einfluss verstärken …[24. Die PP hat mit ihrer uneinsichtigen Haltung beim Reformprozess des katalonischen Autonomiestatuts – das wie das der anderen autonomen Gemeinschaften nach 30 Jahren Anpassungen brauchte – die Hauptverantwortung für die in den letzten Jahren festzustellende deutliche Verschlechterung der Beziehungen zwischen Madrid und Barcelona und die daher bedeutende Zunahme der Unabhängigkeitswünsche zu tragen.] Die massive Unzufriedenheit, insbesondere der jungen Generation, mit einer nicht ohne Grund als »blockiert« gesehenen Gesellschaft, die sich seit Mitte Mai in der Bewegung der »Indignados« (»Empörten«)[25. Wie anderswo hat auch hier das zeitkritische Pamphlet von Stéphane Hessel »Indignez-vous« (deutsch unter dem Titel »Empört Euch!«) vielen Millionen aus der Seele gesprochen, und knapp vor den Regional- und Gemeindewahlen vom 22. Mai haben viele Zehntausende begonnen, gegen das gesamte politische Establishment zu demonstrieren. Ein zentrales Motto lautet: »Wir sind nicht gegen das System, das System ist gegen uns« …] und den für die PSOE katastrophalen Resultaten der kürzlichen Regional- und Gemeindewahlen widerspiegelt, könnte auch zu einem neuen paneuropäischen »Mai 1968«, diesmal mit Epizentrum in Madrid, führen. Schon nach wenigen Tagen haben die spanischen Demonstranten, die sich nicht zuletzt nach arabischem Vorbild[26. Die Parallele zwischen Tahrir-Platz in Kairo und der Massenkundgebungen auf dem zentralen Madrider Platz Puerta del Sol wird oft betont, nicht zuletzt wegen der enormen Jugendarbeitslosigkeit und des massiven Gebrauchs der neuen Kommunikationsmittel wie Internet. Aber auch Island, wo sich die Bevölkerung eines kleinen, fernen Landes mit besonders soliden demokratischen Traditionen weigerte, sich für die Verantwortungslosigkeit einer Handvoll von finanzspekulierenden »Golden Boys«, die das Land in den Bankrott geführt hatten, ausbluten zu lassen, hat die Proteste ebenfalls inspiriert. Sol sacude el sistema, El País, 22.5.2011.] durch Internet und Facebook organisieren und eine bleibende politische Bewegung gründen wollen, Nachahmer im von Austeritätsplänen geplagten Griechenland gefunden. Wie ein Leitartikel über diese »Indignados« meinte, »ist das vielleicht die Lektion des »arabischen Frühlings« für Europa: wenn das Volk den Gang der Dinge in einer Diktatur verändern kann, muss es auch möglich sein, das in einer Demokratie zu tun.«[27. Le Monde, 24.5.2011.]
This article was originally published in July 2011 in INTERNATIONAL – Zeitschrift für internationale Politik, Issue 2-2011.