NATO-Einsatz in Libyen: Schutzverantwortung oder Eigeninteressen

Die alten Römer kannten einen erfolgreichen Trick, um den eigenen Einfluss zu erweitern: An der Grenze ihres Reiches schürten sie unter verfeindeten Stämmen bestehende Konflikte, bis diese eskalierten. Mit der Begründung, der Krieg im Nachbarland gefährde die Sicherheit Roms, erreichten die Militärs, dass ihnen der Senat die notwendigen Mittel für ein Einmischen bereitstellte. Anschließend griffen die römischen Truppen auf Seiten des Schwächeren in den Krieg ein, verhalfen diesem zum militärischen Durchbruch und unterwarfen ihn anschließend selbst. Am Ende hatten sie ihre Macht auf ein neues Gebiet ausgeweitet, das sie dem Römischen Reich einverleibten.

Wenn man die Einmischung der NATO, genauer Frankreichs, Großbritanniens und der USA sowie einzelner weiterer Staaten, in den Bürgerkrieg in Libyen analysiert, erscheint einem das römische Beispiel plötzlich gar nicht mehr so abwegig. Der UN-Sicherheitsratsbeschluss 1973, der ein militärisches Eingreifen in den libyschen Konflikt ermöglichte, wurde mit dem Schutz libyscher Zivilisten vor den Truppen Gaddafis begründet. Bei näherem Blick entpuppen sich die »Zivilisten« allerdings als bewaffneter Teil eines Bürgerkriegs, dessen Wurzeln fast ein halbes Jahrhundert zurückreichen. Nicht zufällig begannen die Protestaktionen in Libyen in Bengasi. Die aktuellen Ereignisse in den Nachbarländern, die »Arabellion« (FAZ), gab allenfalls den Ausschlag, stellte den Anlass dar, der Grund war sie jedoch nicht. Libyen ist ein Staat, dessen Grenzen von der ehemaligen Kolonialmacht Italien gezogen wurden und besteht im Wesentlichen aus drei Teilen – dem Fessan, der Cyrenaika und Tripolitanien, wobei jede der Regionen von Stammesführern beherrscht wird. Dass moderne Libyer in den Städten stärkere politische Partizipation forderten, ist in einem Land, das über 40 Jahre von einem Stammesführer (Gaddafi) beherrscht wurde, zwar naheliegend. Ausschlaggebend für die Proteste waren jedoch die Stammeskämpfe, und deren Geschichte reicht zurück bis an den Anfang der Gaddafi-Zeit. Als Muammar Gaddafi 1969 durch seinen Putsch an die Regierung kam, entmachtete er König Idriss I. und dessen Clan, den Bengasi-Clan. Auf letzteren stützte sich die CIA, als sie 1981 die »National Front for the Salvation of Libya« (NFSL – Nationale Front für die Rettung Libyens) ins Leben rief. Mithilfe dieses westlich beeinflussten und von den USA bewaffneten Clans wurde Gaddafi provoziert und angegriffen, um einen Vorwand für westliches Einmischen zu generieren, wobei sich 2011 noch viele andere Mächte einmischten:[1. Mirko Knoche: »Bush und Obama müßten als erste auf die Anklagebank«. Libyen-Krieg: Der Westen will nicht nur und Rache. Er will auch Chinas Einfluß eindämmen. Ein Gespräch mit Johan Galtung, in: Junge Welt, 28.5.2011.]

»Die CIA hat mit ihrem klugen Schachzug 1981 auf den richtigen Clan gesetzt und in Bengasi militärische Strukturen etabliert. Seither kam es immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen. Auf diese Unterminierung reagiert das betroffene Regime dann mit seiner Geheimpolizei und mit Folter, was die Lage nur noch verschlimmerte. Der aktuelle Konflikt schwelt also schon seit 30 Jahren.«

Die Begründung aber, die über westliche Massenmedien verbreitet wurde, lief darauf hinaus, dass Muammar Abu Minyar al-Gaddafi ein Diktator sei, der seine eigene Bevölkerung mit Gewalt und Brutalität unterdrücke. Frankreich, Großbritannien oder die USA hingegen, die als Demokratien ihren Menschen staatsbürgerliche Freiheiten garantieren, konnten sich in dieser Logik nur für Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Menschenrechten einsetzen. Wenn also die NATO Gaddafi bombardierte (in Wirklichkeit die Infrastruktur und Menschen), um den unterdrückten Libyern die Wahrung ihrer Menschenrechte zu garantieren, wer sollte da dagegen sein? Wer, so argumentieren die Befürworter, könnte schon gegen die Verteidigung der Menschenrechte sein? Die Motive für das NATO-Eingreifen in Libyen sind jedoch, das wurde im ersten Teil belegt, vor allem wirtschaftlicher (die Kontrolle über die großen Ölreserven des Landes) und strategischer (Truppenstationierung in Nordafrika zur direkten Kontrolle der afrikanischen Flüchtlinge sowie für den Kampf gegen den Terrorismus) Natur, nicht jedoch humanitärer: Wer würde sonst wohl anstelle von Flüchtlingslagern, Wasseraufbereitungsanlagen und medizinischer Notversorgung Bomben werfen, auch auf zivile Einrichtungen? Dem hielten Befürworter der militärischen Intervention entgegen, dass diese in Libyen auf der Grundlage des Konzeptes »Responsibility to Protect« (R2P) erfolgte. R2P sieht vor, dass interventionswillige Staaten in einem anderen Staat dann militärisch eingreifen können bzw. sollen, wenn der betroffene Staat seine eigenen Bürger entweder nicht zu schützen im Stande ist oder sie sogar selbst bedrängt. Konkret konnte dies dahingehend interpretiert werden, dass das militärische Eingreifen von NATO-Staaten in Libyen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten sei. Das R2P-Konzept kann aber nicht nur als Interventionserlaubnis verstanden werden, sondern auch als Regelwerk, das Interventionen an konkrete Mittel und Ziele bindet und damit der Interventionswillkür Schranken auferlegt. Hier empfiehlt sich zuerst ein kurzer historischer Rückblick:

Mit Beginn des neuen Jahrtausends begann die Weiterentwicklung der Humanitären Intervention zur »Responsibility to Protect« (R2P), ein Konzept, das von der International Commission on Intervention and State Sovereignity 2001 entwickelt worden war: »The history of the concept of »responsibility to protect« sounds almost like a fairy tale.«[2. Carsten Stahn: Responsibility to Protect: Political Rhetoric or Emerging Legal Norm?, in: The American Journal of International Law 1/2007, S. 99-120, S. 99.] Tatsächlich wirkt das Konzept sehr idealistisch: Dahinter steht die begrüßenswerte und zugleich schwer umzusetzende Annahme, dass souveräne Staaten die Verantwortung bzw. Pflicht haben, ihre eigenen Bürger vor vermeidbaren Katastrophen Massenmord, Vergewaltigung, Hunger zu beschützen. Falls ein Staat aber dieser Aufgabe nicht nachkommen kann oder will, so müsse eine breite internationale Staatengemeinschaft die Verantwortung übernehmen. Es werden vier Verbrechen (Genozid, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberung) klassifiziert sowie drei Säulen genannt, auf denen Responsibility to Protect beruht: Die erste Säule betrifft die primäre Verantwortung des Staates, seine eigenen Bürger vor Genozid und massenhaften Gräueln zu beschützen. Die zweite Säule ist die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, den betreffenden Staat in der Erfüllung seiner Verantwortlichkeit zu unterstützen, und die dritte Säule umfasst die Pflicht der internationalen Gemeinschaft, rechtzeitige und entscheidende Schritte nach den Kapiteln VI-VIII der Charta der Vereinten Nationen zu unternehmen, falls ein Staat seiner Verantwortung nicht gerecht wird. Die aus R2P erfolgende weltweite Aufwertung der Menschenrechte ist zweifelsohne etwas Positives. So setzt sich beispielsweise Alex J. Bellamy als Mitarbeiter des Asia-Pacific Center for the Responsibility to Protect mit seinem Team seit mehreren Jahren konsequent für die Entwicklung dieser Idee ein. Bellamy und Co. operieren dabei mit zivilgesellschaftlichen Strukturen und über Kontakte zu NGOs und lokalen Organisationen vor Ort, aktuell insbesondere im südostasiatischen Raum. Dabei weiß Bellamy, der R2P als Verteidigung der Menschenrechte begreift,[3. Alex J. Bellamy (2009): Responsibility to Protect: The Global Effort to End Mass Atrocities, New York, S. 67.] durchaus um Möglichkeiten und Grenzen der Idee angesichts z. B. eines Staates wie China. So begrüßenswert also die zivilgesellschaftliche Umsetzung der R2P ist, so fragwürdig wird es, sobald das Konzept auf die Ebene von Staaten und Regierungen gelangt. Im Mai 2002 waren nicht bloß China oder Russland, sondern selbst die USA noch gegen R2P mit der Begründung, man wolle sich nicht an Kriterien binden, welche einen darin einschränkten, selbst zu bestimmen, wann und wo man Gewalt anwenden wolle.[4. Ebd.] Auf dem UNO-Weltgipfel 2005 wurde das Konzept des Responsibility to Protect dann auch wenig überraschend in einem als unverbindlich deklarierten Dokument verabschiedet. Maßnahmen gegen ein Land, das seiner Verantwortung zum Schutz der eigenen Bürger nicht nachkommt, bleiben weiterhin ausdrücklich an den Beschluss des Sicherheitsrats gebunden. Kritiker halten R2P entgegen, es bestehe ähnlich wie bei der HI (Humanitarian Intervention) die Gefahr, dass Militärallianzen sich unter Berufung auf humanitäre Hilfe gewaltsam Zugang zu einem Land und dessen Ressourcen verschafften. Dennoch markiert das neue Konzept zweifelsohne eine Weiterentwicklung:[5. Bellamy (2009): Responsibility to Protect, S. 98.]

»The inclusion of prevention also reflected the R2P‘s focus on the victim‘s point of view, emphasising the saving of lives over and above the rights of the interveners in cases where lives had already been lost on a massive scale. The »responsibility to prevent« therefore helped to persuade sceptics that the R2P principle was not an »intervener‘s‘ charter«.

Dass R2P allerdings keine Charta für Interventionisten sei, ist nicht unumstritten. So meinte Lutz Herden im Mai 2008 angesichts westlichen Drängens nach einer Einmischung in das von Naturkatastrophen heimgesuchte, autoritär regierte Land Burma im Freitag:[6. Lutz Herden: Burma und die Kreuzfahrer von heute. Responsibility to Protect: Eine Intervention neuen Typs, in: Freitag, 23.5.2008.]

»Unschwer zu erkennen, hier hat sich die »humanitäre Intervention« als – gegebenenfalls militärisch wahrzunehmende – »Schutzverantwortung« (responsibility to protect) frisch eingekleidet. Eine umstrittene Rechtsfigur, weil damit die Entmündigung souveräner Staaten möglich und bei höchst pauschal definierten Notlagen eine Intervention legitimiert wird.«

De facto kann das Nachfolgekonzept der Humanitären Intervention jedenfalls von militärisch mächtigen Staaten missbraucht werden, um in einen Konflikt zum Wohle der Eigeninteressen einzugreifen. Demgegenüber sieht das UN-Mandat der Vergangenheit eine Einmischung in einen Staat nur mit dessen Billigung vor. Hier haben Kritiker nicht zu unrecht eingewendet, dass unter solchen Umständen der Schutz von Zivilisten nicht gewährt werden kann. Begründet wird dabei meistens historisch unter Bezugnahme auf den Holocaust. Dieser allerdings unterliegt einer gewissen Eigengesetzlichkeit und historischen Besonderheit und eignet sich somit keineswegs als Parameter oder Argument der gegenwärtigen Debatte, denn der Holocaust basierte auf einer ganzen Reihe von Voraussetzungen, die in dieser Form in der damaligen Zeit einzigartig waren und sind. Was aber sollte man heute tun, wenn nun ein Staat tatsächlich einen Teil seiner Staatsbürger drangsaliert? Grundsätzlich gibt es eine ganze Reihe von nicht-militärischen Mitteln (z. B. Wirtschaftssanktionen), die ausgeschöpft werden können und meist auch werden. Wenn allerdings einzelne Staaten über einen längeren Zeitraum ein auffallend hohes Interesse an einer militärischen Intervention in einen Staat zugunsten von dessen Bürger haben, so ist Skepsis höchst angebracht: Historisch betrachtet stehen meist Eigeninteressen hinter dem angeblichen Engagement zugunsten der Menschenrechte. Der Bezug auf die Humanität dient dabei nur zur Rechtfertigung der Mittel, die ansonsten innerhalb des eigenen Landes keine Mehrheit finden würden. Auf der anderen Seite sei es, so Interventionsbefürworter, völlig normal, dass ein Staat im Rahmen einer Intervention zum Schutz von Menschenrechten immer auch Eigeninteressen verfolge, und dies schließe keineswegs einen positiven Nebeneffekt aus. Die historischen Beispiele allerdings zeigen, inklusive der bisherigen Fakten, die über Libyen zugänglich sind, dass letzten Endes militärisch potente Staaten aus wirtschaftlichen, geopolitischen oder strategischen Interessen in einem anderen Staat intervenieren, wobei Menschenrechte eine vernachlässigbare Rolle spielen.

Vor zwölf Jahren, am 24. März 1999, hatte ebenfalls ein militärischer Überfall stattgefunden, der sich als »humanitäre Intervention« (was wörtlich »menschenfreundliche Einmischung« bedeutet) verstanden wissen wollte. Damals bombardierte die NATO Jugoslawien 78 Tage lang. Damit sollte erreicht werden, dass die »schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen im Kosovo«, welche der serbische »Diktator« Slobodan Miloševic angeblich an albanischen Zivilisten begehen ließ, gestoppt werden. Der vorangegangene Bürgerkrieg zwischen nationalistischen Terroristen namens UÇK und serbischen Sonderpolizeieinheiten hatte rund 400 Tote gefordert. Die Intervention der NATO führte zur Eskalation des Bürgerkrieges und zog mehr als 5000 Tote und fast eine Million Flüchtlinge nach sich. In Wirklichkeit ging es um alles Mögliche, nur nicht um Humanität: die Stationierung von US-Truppen in der Region, die Rivalität EU-USA, die außenpolitische Zurückdrängung Russlands, die Herrschaft über ein bisher nicht kontrolliertes Land etc. Vor allem aber zählten wirtschaftliche Gründe: Serbische Staatsbetriebe wurden zerbombt und konkurrenzunfähig gemacht. Der Wiederaufbau brachte das Land durch westliche Kredite schließlich in völlige Abhängigkeit der internationalen Konzerne. Der Auto-Hersteller Zastawa z. B. wurde später von FIAT gekauft. Im Kosovo selbst setzte die UN-Verwaltung die Zwangsliberalisierung des Handels durch und versteigerte Provinzbetriebe sogar gegen den Willen der Albaner, zu deren Gunsten angeblich interveniert worden war. Und nicht zuletzt erreichte die NATO mit dem ohne UN-Mandat erfolgten Angriff auf Jugoslawien ihr Hauptziel: Sie wandelte sich vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis. Der »Kosovo-Krieg« wurde damit zum Türöffner für die folgenden Kriege – und führt direkt zur ebenfalls angeblich humanitär bedingten Intervention in Libyen. Dort gelte, so die Rechtfertigungsstrategie der Interventionsstaaten, der Angriff dem »Diktator Gaddafi«. Dieser herrscht tatsächlich seit 40 Jahren repressiv, Gegner wurden teilweise bis ins Ausland verfolgt.[7. Peter von Sivers (1991): Nordafrika in der Neuzeit, in: Ulrich Haarmann, Geschichte der arabischen Welt, München, S. 502-592, S. 580.] Der Grund für die Diktatur liegt aber weniger in der Demokratieunfähigkeit der Libyer als in der Tatsache, dass das Land keine nationale Einheit ist. Wie Afghanistan oder der Irak und zahlreiche weitere Länder der Welt, deren Staatsgrenzen von den Kolonialmächten nach westlichen Interessen gezogen worden waren, wird Libyen von Stammesfürsten beherrscht. Eine nationale Politik, welche darauf abzielt, die reichen Ölressourcen gewinnbringend für das Land selbst zu nutzen, wie dies Gaddafi seit Jahrzehnten versucht hat (wobei er sich selbst und seinen Clan unverhältnismäßig stark am Reichtum beteiligte), konnte nur klappen, solange alle an einem Strang zogen. Die Politik Gaddafis hat der Historiker Peter von Sivers als eine für arabische Nationalisten typische, »zwischen wohlwollender und strafender Pädagogik schwankenden Haltung«[8. Sivers (1991): Nordafrika in der Neuzeit, S. 580.] charakterisiert. Dieser Nationalismus war eine Ideologie der arabisch-islamischen Identität, derer man sich ursprünglich zur Eroberung der zentralen kolonialen Verwaltungsapparate bediente.

Während in Europa aber spätestens seit Hitler die Kontrolle des Individuums durch den Staat zur Tatsache geworden ist, beherrschten, so Sivers, arabische Nationalisten keineswegs alle öffentlichen wie privaten Bereiche.[9. Ebd.] Dies mag erklären, warum der Diktator Gaddafi in westlichen Massenmedien von Anfang an in ein über Gebühr negatives Licht gerückt worden war. Dabei hat der Autokrat durch seine nationale Politik eine Anhebung des Lebensstandards erreicht – und sich mit seiner dazu verwendeten Wirtschaftspolitik bei den internationalen Ölkonzernen sowie deren Lobbyisten in den westlichen Regierungen wenig Freunde gemacht. Gleichzeitig gibt es im Land, wie in jeder Diktatur, eine Opposition – und auf solche setzen westliche Staaten für gewöhnlich. Wenn aber die finanzielle Unterstützung nicht den erhofften Regierungswechsel, verbunden mit besseren wirtschaftlichen Konditionen für transnationale Konzerne bei gleichzeitiger Benachteiligung der einheimischen Bevölkerung, herbeiführt, wählt man den Weg der militärischen Unterstützung. Damit wird ein Konflikt – anstatt zu befrieden – angeheizt, wobei eine Seite militärisch aufgerüstet wird, die sich – man erinnere sich an die im anti-kommunistischen Kampf in Afghanistan unterstützten Taliban – später auch gegen einen selbst wenden kann. Auch das ist eine Option in Libyen: Erste Berichte über eine Beteiligung radikal-fundamentalistischer muslimischer Gruppen an den durchwegs als »Rebellen« bezeichneten Gegnern Gaddafis tauchten schon bald nach Kriegsbeginn auf.

Auch Saddam Hussein war ein Diktator, ein weit grausamerer als Gaddafi. So starben z. B. bei einem Giftgasangriff (das Gas stammte von einer US-amerikanischen Firma) auf ein kurdisches Dorf an einem einzigen Tag rund 5000 Menschen. Es gab und gibt gute Gründe, gegen Miloševic zu sein, noch mehr sprechen gegen Gaddafi und am meisten gegen Hussein. Und dennoch waren auch die beiden Kriege gegen den Irak (1991 und 2003) keine Kriege, um einen Diktator abzusetzen und der Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen, wie behauptet wurde. US-Militärs, so konnte man 2002 im Internet nachlesen, rechneten bei einem Sturz Saddam Husseins mit einem Bürgerkrieg. Und Bürgerkrieg, das lehrt die Geschichte, ist im Normalfall immer blutiger als jede noch so zu bedauernde politische Unterdrückung. Letzten Endes waren die Iraker und Irakerinnen, die unter der Modernisierung des Landes durch Hussein einen relativ hohen Lebensstandard erreicht hatten, die Verlierer. Heute leben die Massen wesentlich schlechter als noch vor 20 Jahren. Die Hintergründe der Aggressionskriege gegen den Irak waren indes nicht ideologischer oder gar humanitärer Natur, sondern bestanden aus handfesten Wirtschaftsinteressen: Seit 2008 dürfen internationale Energiekonzerne erstmals seit mehreren Jahrzehnten wieder auf irakischem Boden selbst Öl fördern und somit die Gewinne, welche dem Land und seinen Bewohnern zustehen würden, selbst einstecken. Hier schließt sich der Kreis: Auch in Libyen war und ist die Förderung der Öl- und Gasreserven hauptsächlich dem Staat vorbehalten, ausländische Beteiligungen sind auf 49 Prozent limitiert. Damit kein Stammesfürst »seine« Bodenschätze an ausländische Firmen verkauft, hat Gaddafi das Land mehr als 40 Jahre unterdrückt – sozusagen im Sinne der Bevölkerung, die zwar keine politischen Freiheiten, dafür aber einen gewissen Wohlstand erreicht hat. Weitere Gründe für das westliche Eingreifen in den libyschen Bürgerkrieg, der ohne westliche, i. e. insbesondere durch die CIA, erfolgte Aufrüstung der Oppositionellen in Bengasi wahrscheinlich nie eskaliert wäre, liegen, so Johan Galtung, auf einer anderen, nicht zuletzt ideologischen Ebene – Gaddafi als »ein alter Feind«[10. Knoche: Junge Welt, 28.5.2011.] des Westens, der die USA 1970 von ihrem Militärstützpunkt verbannt hatte. Seit damals stand Gaddafi für eine undemokratische, aber zugleich den armen Massen nützliche Politik sozialer Umverteilung – auch dies ein ideologischer Widerspruch zu den USA, aber in zunehmendem Maße auch zu den großen europäischen Demokratien, insbesondere zu Großbritannien und Frankreich. Während die Regierung Obama mit ihrem Projekt Gesundheitsreform nahezu völlig an den Republikanern scheiterte, übernimmt in Libyen bis jetzt der Staat die ärztliche Versorgung. Das Land gehörte im Gegensatz zu Seyla Benhabibs Darstellung in den Blättern (»Libyens mörderische Gaddafi-Familie«[11. Seyla Benhabib (2011): Der arabische Frühling, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2011, S. 90-94, S. 92.]) eben nicht zu den Staaten, die »im Bündnis mit ausländischen Ölgesellschaften ihre eigenen Länder plündern«.[12. Benhabib (2011): Der arabische Frühling, S. 92.] Der Autokrat Gaddafi, der seinen eigenen Clan zweifelsohne über Gebühr an Macht und Reichtum beteiligte, sorgte gleichzeitig aber dennoch für eine Verteilung des Kuchens auch an die Massen der Armen. So lag Libyen in Puncto Einkommen und Lebensstandard bis 2011 an der Spitze aller afrikanischen Staaten sowie im UNO-Human Development Index (HDI), der Lebenserwartung, Kindersterblichkeit und Alphabetisierung misst, auf Rang 53 der Welt.[13. Joachim Guilliard: Libyens Wohlstand, in: Ossietzky 8/2011, zit. nach http://sopos.org/aufsaetze/4db5239e0bcd4/1.phtml, 31.8.2011.]

Es zeigt sich angesichts der sozialen Absicherung der Libyer bei gleichzeitigem Ausschluss von der politischen Partizipation derselbe alte Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit, den schon der Historiker Karl Dietrich Bracher in »Zeit der Ideologien« beschrieben hatte: Ein Mehr an Gleichheit führt zu einem Weniger an Freiheit (Libyen), ein Mehr an Freiheit zu einem Weniger an Gleichheit (Westen). Mit der Aufrüstung und der Unterstützung des Bengasi-Clans durch Luftangriffe ziehen die militärisch potenten westlichen Staaten USA, Großbritannien und Frankreich sowie z.Teil Italien und einige kleinere Demokratien (Norwegen, Dänemark), auf nicht-militärischer Ebene auch Deutschland, einmal mehr Freiheit der Gleichheit vor – allerdings eine nur vordergründig gegebene Freiheit: Die Fokussierung des Militärischen sowie die ökonomische Einmischung in ein Land in neokolonialem Stil bedeutet schlussendlich, auch wenn in Libyen freie Wahlen stattfinden werden, weder Gleichheit noch Freiheit – denn ohne wirtschaftliche Prosperität gibt es keine Freiheit. Die Gewinne aus dem Libyen-Abenteuer werden, das ist zu befürchten, wie in der Vergangenheit bei vergleichbaren Interventionen, die multinationalen Konzerne aufteilen, die Kosten (z. B. für das Militär) tragen die westlichen Steuerzahler. Für die Libyer bedeutet der Sturz Gaddafis letzten Endes eine verstärkte Einmischung von außen, da die neuen Machthaber ja ohne Hilfe westlicher Staaten gar nicht erst an die Herrschaft gekommen wären. Sie hängen damit ein Stück weit von den Intervenierenden ab, womit das Land in stärkere Abhängigkeit gerät, während die finanziellen Leistungen für den Wiederaufbau mittels westlicher Kredite zum Abbau von Sozialleistungen führen wird.

Die internationale Intervention in den Bürgerkrieg hat keine humanitären Ziele, nur weil ihre Verfechter behaupten, zum Schutz von Menschenleben einzugreifen oder dazu sich auch der Hilfe des Militärs bedienen, wie es der israelische Schriftsteller und Interventionsbefürworter Uri Avnery im Standard verkündet hatte: »Wenn es darum geht, einen Genozid zu verhindern, bin ich sogar bereit, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen.«[14. Uri Avnery: Wider die Doktrin der »Nicht-Einmischung«, in: Der Standard, 21.3.2011, zit. nach http://derstandard.at/1297821063063/Wider-die-Doktrin-der-Nicht-Einmischung, 31.8.2011.]

Doch gab es nicht auch eine historische Verantwortung Europas, wie William Pfaff[15. William Pfaff: Libyen: Intervention mit Fallstricken, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2011, S. 83-85, S. 84.] meinte?

»Zwar konnte niemand wirklich wissen, was geschehen wäre, hätten Gaddafis Panzer- und Truppenkolonnen Bengasi erreicht, aber angesichts der blutdurstigen Drohungen des Obersten und in der Erinnerung an Ruanda und Srebrenica zeigten die Europäer sich nicht gewillt, ein neuerliches Massaker zu riskieren.«

Pfaffs Argumentation stellt die Sachlage auf den Kopf. Die bizarren und beängstigenden Drohungen des diktatorischen Regimes Gaddafi setzten erst ein, nachdem Aufständische gewaltsam die Souveränität der libyschen Regierung unterbunden hatten. Weder reagierte Gaddafi gegenüber den in anderem Kontext wohl als »Terroristen« bezeichneten »Rebellen« anders, als von einem Polizeistaat, ja selbst von einer Demokratie zu erwarten ist, noch bezogen sich die Drohungen auf Zivilisten. Die potentielle Verhinderung eines weiteren »Srebrenica« oder »Ruanda« (unter Ignorieren der historischen Besonderheiten dieser verschlagworteten Ereignisse) wäre ohne gezielte und bewaffnete Provokation in Ostlibyen gar nie Thema geworden. Und zu guter Letzt kann man, das hat der sogenannte Kosovo-Krieg gezeigt, Massaker nicht durch Luftangriffe verhindern.

Es ging und geht im Libyen-Krieg nicht, wie einzelne Befürworter des Angriffs geschrieben haben, darum, einen Diktator zu stürzen oder gar einen »neuen Hitler« zu bekämpfen. Denn Diktatoren sind, wenn sie den eigenen Interessen dienlich sind, überhaupt kein Problem. Ben Ali war über Jahrzehnte als westlich orientierter Präsident ein gern gesehener Staatsmann, ebenso wie der ägyptische Herrscher Mubarak. Als Garanten für Stabilität waren diese »unsere« Diktatoren den westlichen Regierungen stets willkommen. Westliche Massenmedien berichteten erst mit den massiven Protesten in Nordafrika über den Polizeistaat Tunesien, und Mubarak wurde erst dann zur persona non grata, als die Ägypter ihr Schicksal längst selbst in die Hand genommen hatten. Selbst Gaddafi war noch 2009 in Paris ein gern gesehener Gast von Frankreichs Präsident Nikolas Sarkozy, weil ein wirtschaftlicher Deal über den Bau von sieben Atomkraftwerken in Libyen über die Bühne gebracht worden war. Italien verbrüderte sich in Form des sich anbiedernden Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi sogar noch im August 2010 bei aufwändig inszenierten Feiern in Rom mit Gaddafi-Libyen. Es spielt also keine Rolle, ob ein Herrscher Demokrat oder Tyrann ist. Die Dämonisierung Gaddafis folgte schlicht und einfach massenmedialer Strategien zur Feindbildkonstruktion, die in Kriegszeiten notwendig ist. Auch hier gibt es Parallelen zu den Feindbildern der jüngeren Vergangenheit, die allesamt als Wiedergänger Adolf Hitlers diffamiert worden waren. Doch schon Hussein war kein neuer Hitler, so tyrannisch und brutal sein Regime auch war, und erst recht war Slobodan Miloševicć kein Hitler, wenngleich auch er für Unterdrückung und Despotismus stand. Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass noch kein Krieg der Welt jemals aus humanitären Gründen geführt worden ist. Selbst die Anti-Hitler-Koalition hat sich in den Zweiten Weltkrieg aus wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gründen eingeschaltet – die UdSSR, Frankreich und Großbritannien führten einen Verteidigungskrieg, und die USA sahen ihre Vormachtstellung insbesondere im Pazifik gefährdet. Die Rettung der europäischen Juden vor der Vernichtung wurde nicht einmal dann in Angriff genommen, als es möglich gewesen wäre: Alleine die Bombardierung der Zufahrtsgleise zum größten Massenvernichtungslager Auschwitz-Birkenau hätte vielen Tausenden das Leben gerettet – doch die Royal Air Force wollte das Leben ihrer Piloten dafür nicht aufs Spiel setzen. Befreit wurden die Lager erst, als auch der Krieg gegen NS-Deutschland gewonnen war.

Wenn uns die Geschichte eines lehrt, dann dies: Rechtfertigungen für einen aktuellen Krieg, die sich der Historie bedienen, sollten immer mit Skepsis betrachtet werden. Zugleich bietet uns die Geschichte aber auch die Chance, unsere Gegenwart besser zu verstehen, vor allem, wenn wir bereit sind, gewisse Konstanten anzuerkennen: Kriege mussten und müssen begründet und gerechtfertigt werden. Welcher westliche Bürger würde zustimmen, dass sein Land in Libyen interveniert, wenn er die Wahrheit erfahren würde? Dass der Krieg nämlich u. a. vom Zaun gebrochen wurde, um sich in den sich verändernden Herrschaftsverhältnissen in Libyen einen besseren Platz und mehr Einfluss zu sichern? Dass die Intervention mit Steuergeldern bezahlt wird, die in Sanitätswesen und Bildung fehlen werden, während die zukünftig in Libyen erzielten Gewinne hauptsächlich den transnationalen Konzernen zufallen werden? Dass die »humanitäre Intervention« Libyen ärmer machen und somit noch viel mehr Menschen zum Auswandern zwingen wird? Dass der »Hass auf den Westen« (Jean Ziegler) durch die »Humanität« unserer Regierungen noch wachsen wird?

Es ist Zeit, das Märchen von der »humanitären« Begründung für Kriege als solches zu entzaubern. Die Betroffenen wissen es am besten: Die Intervention zur »Stärkung der Demokratie« im Irak legte durch gezielte Bombardements zuerst einmal die Wasserversorgung Bagdads lahm. Und in Belgrad und in anderen jugoslawischen Städten wurden unter humanitärer Begründung gezielt Krankenhäuser, Kirchen und Schulen bombardiert. Militärische Interventionen dienen nie den Menschen, zu deren Gunsten angeblich interveniert wird, sondern dem Intervenierenden. Das wird allein schon durch die Wahl der Mittel (Luftangriffe) deutlich, wie die Geschichte der letzten 20 Jahre zeigt. Es ist zu befürchten, dass sich das Beispiel Libyen in die Reihe der bisherigen Fälle einordnen wird – für die westlichen Interventionsstaaten der vergangenen zwei Jahrzehnte business as usual, indeed.

This article was originally published in October 2011 in INTERNATIONAL – Zeitschrift für internationale Politik, Issue 3-2011.
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